Einer der Bereiche, in denen Rom rückständiger ist als die hellenistische Welt, ist die Medizin. Ehe sich diese Medizin in Rom durchsetzt, prägen obsukre Riten und Beschwörungsriten die Behandlung Kranker. Man vertraut Kräutern und Umschlägen, dazu magischen Formeln, Amuletten und anderen Gebeten. Mit Wissenschaft im engeren Sinn hat das alles nichts zu tun.
In diese "mittelalterlich" anmutende Welt dringt ab dem 2. Jahrhundert die hellenistische Medizin ein, die sich zu diesem Zeitpunkt schon eineinhalb Jahrhunderte in einer forschungsfreundlichen Umgebung hat entwickeln können. Nicht zuletzt die Obduktion von Leichen, in vielen Kulturen ein Tabu, erhöht das medizinische Wissen in einem Ausmaß, wie es die damalige Welt noch nicht gekannt hat. Das Wissen einzelner ärzte wird auch systematisch aufgezeichnet und an die folgenden Generationen weitergegeben - gesammelt und gelehrt in den Zentren des Hellenismus wie in Alexandria. Noch heute erwecken die medizinischen Werke wie die Dioskurides-Handschrift in der Wiener Nationalbibliothek mit seinen genauen und farbenreichen Abbildungen Bewunderung.
Die Entdeckung und Beschreibung von Körperteilen und Krankheiten führen dazu, dass die Terminologie der Anatomie von der griechischen Sprache dominiert wird. Lateinische Bezeichnungen sind im Normalfall "moderne" aus Mittelalter und Neuzeit, ein Grund, warum Mediziner über Latein- und im Idealfall auch Griechischkenntnisse verfügen müssen. Trotz der fortschreitenden Anglisierung gehören daher klassisch gebildete Mediziner zu den wenigen Berufsgruppen, die heute wie im Mittelalter über Sprachgrenzen hinweg auf hohem Niveau Informationen austauschen können.
Einer der konservativen Römer, denen die Entwicklung bewusst wird, ist M. Porcius Cato. Abseits jeglicher Logik, wehrt er sich gegen die neuen Ideen aus dem Osten, denn er fühlt, dass Rom dem nichts entgegenzusetzen hat. Nicht nur in der Literatur, auch die neuen Methoden in der Medizin sind ihm ein Dorn im Auge. Dazu kommt, dass all das von Ausländern, zumeist Griechen, in die neue Hauptstadt der Welt gebracht wird. Gegen die Verdrängung des altrömischen Geistes macht er mobil, zum Teil mit der kuriosen Anschuldigung, die griechischen ärzte hätten sich verschworen mit dem Ziel, die gesamte adelige Führungselite der Römer auszuschalten.
Die Tradition des Wissens an die europäischen Mediziner erfolgt aufgrund des geistigen Niedergangs in der Spätantike über den Umweg der Araber, die auf breiter Front die Nachfolge der hellenistischen Mäzene übernehmen. Das "christliche Abendland" hingegen erlebt auch auf dem Gebiet der Medizin einen beispiellosen Abstieg mit tödlichen Folgen (u. a. der Pestepidemie), den erst die Renaissance (in Deutschland der "Humanismus", in Italien der "Rinascento"), die Wiederentdeckung der antiken Kultur, zu beenden vermag.