ἂν beim Infinitiv

Für alle Fragen rund um Griechisch in der Schule und im Alltag

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Roxane » Di 28. Jan 2014, 13:31

ΧΑΙΡΕΤΕ!

Heute habe ich eine Frage zur Wiedergabe des ἂν in folg. Anabasis-Satz (II.1.12): Es geht um den Infinitiv Präsens χρῆσθαι und den Infinitiv Aorist στερηθῆναι.

<ὅπλα μὲν οὖν ἔχοντες οἰόμεθα ἂν καὶ τῇ ἀρετῇ χρῆσθαι, παραδόντες δ`ἂν ταῦτα καὶ τῶν σωμάτων στερηθῆναι.>

Im Kommentar heißt es: < ἂν steht beim Infinitiv und Partizip, wenn bei dessen Auflösung in einem Satz mit verbum finitum entweder der Optativ mit ἂν oder der Indikativ eines Nebentempus mit ἂν stehen müsste.>

<Wenn wir nun Waffen tragen sollten, dürften wir sicherlich Tapferkeit gebrauchen (Potentialis), wenn wir sie (die Waffen) aber übergeben hätten, hätten wir auch unser Leben verloren (Irrealis).>

Richtig so?
Über eine Antwort freut sich Roxane
Roxane
Censor
 
Beiträge: 690
Registriert: Fr 4. Jan 2013, 14:27

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Sokrates » Di 28. Jan 2014, 20:40

chaire,

ja, das ein "an" beim Inf./Part. potential oder irreal zu deuten ist, stimmt.
Die Frage ist hier, ob sich die Modalpartikel eben auf die beiden Partizipia oder Infinitive bezieht; aufgrund der Stellung wird klar, dass sie die Infinitive näher bestimmen, und zwar in der Weise, dass der AcI jeweils die Apodosis bilden, zu denen dann die Konditional aufzulösenden PCs als Protasis dienen.
Theoretisch müsste im Grunde ein an doppelt stehen, denn betrachtet man etwa die potentiale hypothetische Periode, so müsste beim Infinitiv ein
an stehen, damit er eine potentiale Färbung erhält, alsauch beim Partizip, welches dann ebenso "modifiziert" wird, denn auch das soll ja potential gefärbt werden. In der Praxis scheint das nicht der Fall zu sein, sondern es steht entweder ein echter Nebensatz als Bedingung (mit entpsr. Modus) und ein Inf. mit an oder, wie hier, ein bedingendes Partizip ohne an bei einem Inf. mit an, dennoch haben beide dann etwa potentiale Bedeutung. Zuweilen wird durch die Stellung die Zuordnung schwer, sodass man sich das an als zu beiden infiniten Formen gehörig denken kann. Im Zweifel aber bezieht es sich auf den Inf des AcIs und weniger auf das konditionale Part, da der AcI immer noch die Hauptaussage darstellt.
Ich denke aber, dass in beiden Fällen der Potentialis angebracht ist, der Sprecher will wohl die Möglichkeiten aufzeigen.
Einen Bruch in der Modalität kann ich nicht empfehlen, auch wenn das erste Part. gleichzeitig, das andere aufgrund des Aspekts vorzeitig zu deuten ist.
Im Deutschen hat man leider das Problem, dass ein "Optativ" nicht existiert, sodass man mit dem Konj. (II) und/oder Modalverben und Partikeln abreiten muss.
Unterscheide hierzu, welche feinere Sinnrichtung der Optativ hat:
Im HS
vorsichtige Behauptung, höfliche Aussage (nahe am Indikativ): dt. er dürfte tun, tut wohl
echte "Möglichkeit", pot. Opt: er könnte tun
im GS
wenn er das tun sollte (in beiden Fällen)

Hier denke liegt auch eher eine quasi-Behauptung vor, wenigstens im ersten Teil, sehr gilt wiedergegeben von dir.
dann:
wenn wir (…) übergeben haben sollten, dürften wir (wohl) auch (…) verloren haben.

Wie gesagt einen Irrealis sehe ich nicht, aber im D ist ein er hätte getan doppeldeutig, zum einen ein Irrealis, zum anderen, zu mindest von manchen Übersetzern so gebraucht, auch ein Potentialis.
Aufgrund dieser unnötigen Ambiguität dieser Konjunktive würde ich mich für die klare Differenzierung durch Modalverben bzw. Partikeln im Falle des Potentialis aussprechen.


Ich hoffe das war hilfreich soweit,

LG
Sokrates
Sokrates
Proconsul
 
Beiträge: 421
Registriert: Do 15. Jul 2010, 07:40

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Glis » Di 28. Jan 2014, 22:15

Hallo Roxane, hallo Sokrates!
An diesem Satz hing ich auch eine Weile fest ...
Hier helfen, glaube ich, zwei Dinge weiter: 1. der Kontext, 2. unsere gute alte "Hellas"-Grammatik.

1. Zum Kontext: Der Satz stammt ja aus einem Dialog des Atheners Theopompos mit einem Abgesandten der Perser. Die Perser fordern, dass das Griechenheer seine Waffen abgeben solle. Zum Zeitpunkt der Unterhaltung sind die Griechen aber durchaus noch im Besitz der Waffen. Ihre Übergabe ist also Diskussionsgegenstand.
2. Die "Hellas"-Grammatik, § 97.7 hilft hier meiner Ansicht nach weiter ("Kondizionale Periode in Abhängigkeit"). Da sind zwei verschiedene Möglichkeiten angegeben, wie man einen Inf. Aor. mit ἅν verstehen kann: entweder als Irrealis der Vergangenheit (bei der Übersetzung auch von dir gewählt) oder als Potentialis (im "Hellas"-Beispielsatz mit Optativ im Vordersatz).

Die Frage ist: Lässt der Kontext nicht eher auf Potentialis schließen? Irrealis der Vergangenheit scheint mir als Ereigniskonstellation allzu konstruiert. Denn man ginge dabei von einem Zeitpunkt in der Vergangenheit aus, wo die Griechen die Waffen hätten übergeben sollen, es aber noch nicht getan haben. Die Forderung der Waffenübergabe wird in dem Dialog, wovon unser Satz ein Teil ist, aber gerade erst an die Griechen herangetragen.
Potentialis ginge wohl so: "... wenn wir sie übergeben sollten, werden wir auch unser Leben verlieren." Oder weniger schematisch: "... wenn wir sie übergeben, verlieren wir auch unser Leben."

Den vorderen Teil habe ich auch ein wenig anders übertragen, nämlich temporal mit kondizionaler Färbung: "Wir sind der Meinung, dass wir, solange wir Waffen haben, wohl auch von unserer Tapferkeit Gebrauch machen können, dass wir aber, wenn wir diese abgeben, auch unserer Leben beraubt werden dürften."

Ich hoffe, ich bin nicht auf der falschen Triere ...

Machts gut, wünsche eine fröhliche Nacht!
Gl.
Benutzeravatar
Glis
Consul
 
Beiträge: 298
Registriert: Sa 22. Dez 2012, 00:22
Wohnort: Nida

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Prudentius » Mi 29. Jan 2014, 10:34

Hallo,

Irrealis der Vergangenheit scheint mir als Ereigniskonstellation allzu konstruiert.


Ich würde deutlicher sagen: Irrealis ist ausgeschlossen, sie haben ja die Waffen noch! Irreealis enthält eine Tatsachenbehauptung: sie haben die Waffen abgegeben.

Sie stehen vor einer schicksalhaften Entscheidung: A oder B? Beide Alternativen werden konditional durchgespielt, man kann sagen, es sind "Planspiele", im Gr. Potentialis, wir haben keinen und brauchen keinen, "wohl" oder Hilfsverben sind nicht nötig.

"Mit unseren Waffen meinen wir, auf unsere Tapferkeit bauen zu können, ohne diese sind wir verloren".

Die Grammatikregel ist sehr einsichtig: "Wenn ein Satz mit ἂν in die Infinitivkonstruktion tritt, nimmt das Verb das ἂν mit".

lgr. P. :)
Prudentius
Senator
 
Beiträge: 3577
Registriert: Di 24. Mai 2011, 17:01

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Roxane » Mi 29. Jan 2014, 13:09

Sehr erfreut über die große Resonanz grüße ich euch, ihr Lieben!

Gut, dass ich eure umfangreichen Ausführungen nicht schon gestern gelesen habe, ich hätte gar nicht schlafen können, so spannend ist es wieder geworden.

Zunächst: Der Potentialis ist sicher angebracht und auch die potentiale Bedeutung des Partizips. Sokrates, mein ganz besonderer Dank an dich, deine ausführlichen Erläuterungen, die ich mehrmals gelesen habe, waren äußerst hilfreich und haben mich überzeugt.

Lasst mich aber noch hinzufügen, wie diverse Autoren mit dem Satz umgegangen sind:
- Gottwein: ...wenn wir diese jedoch ausliefern, werden wir auch unser Leben verlieren.
- Carleton: ...but if we give them up, that we shall likewise be deprived of our lives.
- Remacle: ......si nous les avions livrέes, nous craindrions de perdre jusqu`ὰ la vie.

Gottwein und Carleton sind sich einig, Remacle übersetzt "...wenn wir diese ausgeliefert hätten, müssten wir fürchten, unser Leben zu verlieren".
Dass die Waffen noch da sind, steht für alle außer Frage, bei G. und C. überlegen sie, was passieren würde, wenn sie die Waffen ausliefern würden (Potentialis). Bei R. überlegen sie, was ihnen nun bevorstehen würde, falls sie die Waffen schon ausgeliefert hätten (Irrealis).

Aber bleiben wir mal beim Potentialis: Im Bedingungs- wie im Folgesatz kann Opt. Präs. oder Opt. Aor. stehen (Hellas § 97.6). An der Übersetzung ändert das nichts (das Beispiel: Wenn du in Gefahr sein solltest, werde ich dich wohl retten.) Nun findet sich in unserem Satz aber sowohl ein Infinitiv Präsens als auch ein Infinitiv Aorist. Den letzteren hast du, Sokrates, mit "...dürften wir wohl auch verloren haben" wiedergegeben. Ich denke mal, um damit die Vorzeitigkeit auszudrücken. Nach allem, was bisher mit vereinten Kräften zusammengetragen wurde, könnte ich mir diese Wiedergabe als Endfassung sehr gut vorstellen:

<Solange wir Waffen tragen, werden wir sicherlich von unserer Tapferkeit Gebrauch machen, sobald wir sie aber übergeben haben, haben wir wohl auch unser Leben verloren.>

@Prudentius: Nun sieht der Satz schlichter aus, denke ich.
@Glis: Dein <solange> fand ich sehr treffend, es taucht auch bei Remacle auf "tant que". Das οἰόμεθα hatte ich im Langenscheidt nachgeschlagen, dort steht die Bedeutung <sicherlich>.

Falls ihr meint, dass noch etwas zu korrigieren ist, gerne...
Ansonsten: Allerherzlichsten Dank an euch alle!
Roxane
Roxane
Censor
 
Beiträge: 690
Registriert: Fr 4. Jan 2013, 14:27

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Sokrates » Mi 29. Jan 2014, 14:38

-
Zuletzt geändert von Sokrates am Mi 29. Jan 2014, 14:39, insgesamt 1-mal geändert.
Sokrates
Proconsul
 
Beiträge: 421
Registriert: Do 15. Jul 2010, 07:40

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Sokrates » Mi 29. Jan 2014, 14:38

chairete,

nein, so einfach ist es nicht…

Erstmal noch einmal die Situation: Die Waffen wurden noch nicht ausgeliefert, sie sind noch beim Sprecher und seiner Mannschaft. Ein Irrealis scheidet also aus, es wird lediglich die hypothetische Möglichkeit bzw. auch die abgemilderte Aussage entwickelt.
Wie auch sonst im Griechischen ist auch beim Potentialis (ob als echter GS mit finitem Verb oder als Inf. /Part) der Aspekt entscheidend, wenn es um die Wahl des Tempusstammes geht, ein relatives Zeitverhältnis muss für die dt. Übers. aus dieser Information erst erschlossen werden, also etwa linear, Präsenspartizip-> gleichzeitig zum HS. Eine klare Zuordnung von Aspekt bzw. Tempusstamm und Zeitverhältnis gibt es n i c h t.
Demgemäß kann also auch ein Inf. Aorist gleichzeitig sein, zum Beispiel wenn er einen effektiven Sonderaspekt bezeichnet, nämlich punktuell das Ende einer Handlung. Sonst ist der Aorist eben aufgrund des momentan-faktisch-punktuellen Aspekts oft schon abgeschlossen, wenn sich der HS vollzieht, also vorzeitig, in eben geschildertem Fall aber nicht.
Daher kann man bei einem potential gefärbten Inf. mit an nur aufgrund des Zusammenhangs ein Zeitverhältnis herstellen:
χρῆσθαι ist Präsens und ohne Zweifel gleichzeitig (eine Vorzeitigkeit beim Präs. ist vor allem dann nur möglich, wenn ein lang andauernder Zustand geschildert werden soll, der zeitlich aber zum HS schon abgeschlossen ist!), στερηθῆναι ist Aorist, doch haben wir es ja potential gedeutet, und eine halbwegs zuverlässige Zuordnung von Tempusstamm und Zeit, nämlich Präsens->Gegenwart Aor.-> Vergangenheit finden (was sich dann oft auch auf die Infinitive überträgt, wenn eine abhängige Formulierung vorliegt) wir außerhalb des Indikativs lediglich beim Irrealis, nicht beim Optativ!
στερηθῆναι kann also gleichzeitig oder vorzeitig sein. Nun macht es meiner Ansicht nach durchaus Sinn, die oben genannte Sonderbedeutung "effektiv" anzusetzen, es geht ja nicht um etwas, das schon abgeschlossen ist, sondern um etwas, das in seinem Endpunkt akzentuiert werden soll, das "Leben verlieren=sterben. In dieser Deutung ist natürlich das relative Zeitverhältnis der Gleichzeitigkeit impliziert, das Partizip Aorsit aber ist immer noch vor dem Inf. abgeschlossen (logische Handlungsabfolge!) und bleibt freilich vorzeitig, sodass ich insgesamt würde hierzu neigen würde:
.. sollten wir übergeben haben, dürften wir verlieren.

Diese Einschätzung teilen offenbar auch die meisten Übersetzer.

"...wenn wir diese ausgeliefert hätten, müssten wir fürchten, unser Leben zu verlieren".
Dass die Waffen noch da sind, steht für alle außer Frage, bei G. und C. überlegen sie, was passieren würde, wenn sie die Waffen ausliefern würden (Potentialis). Bei R. überlegen sie, was ihnen nun bevorstehen würde, falls sie die Waffen schon ausgeliefert hätten (Irrealis).

Nein, so eben nicht, das habe ich versucht, mit der "Ambiguität des Konjunktivs im Deutschen" zu umreißen:
Ich denke nicht, dass der Übersetzer vom Pot. in den Irr. "gesprungen" ist, sondern sich der Konjunktive bediente, die eigentlich den Irr kennzeichnen, um den Pot auszudrücken[b][/b].
Diese Eigenart findet sich in zahlreichen Ausgaben, die dort, wo im Griechischen Pot. steht, einen scheinbaren!, nur formal identischen Irrealis konstruieren.
Dann wird aber einem, der des Griechischen nicht mächtig ist, die feine, zum Teil spitzfindige temporomodale Schattierung des Originals überhaupt nicht vermittelt!
Daher plädiere ich - auch wenn es stilistisch sicher nicht immer angenehm ist- für eine klare Assoziation des Pot. mit dt. Modalverben und/oder Partikeln.

Sie stehen vor einer schicksalhaften Entscheidung: A oder B? Beide Alternativen werden konditional durchgespielt, man kann sagen, es sind "Planspiele", im Gr. Potentialis, wir haben keinen und brauchen keinen, "wohl" oder Hilfsverben sind nicht nötig.

Au, mi optime Prudenti, das ist aber gewagt, man denke nur an die Rückübersetzung, wie soll man einen Realis von einem Pot. da noch unterscheiden :wink:
Du hast ja recht, der Redner stellt nur eine Möglichkeit dar, und die wird im Griechischen eben mit dem Pot, im D oft mit einem einfachen Indikativ ausgedrückt, nur sollte man in diesem Fall doch etwas mehr vom präziseren Griechisch herüberretten.

Die Grammatikregel ist sehr einsichtig: "Wenn ein Satz mit ἂν in die Infinitivkonstruktion tritt, nimmt das Verb das ἂν mit"

Genau, für den Opt. als Pot. gilt das ebenso wie für den Indikat. als Irr, sicherlich indirekt auch für den Pot. der Vergangenheit und den Iterativ der Vergangenheit.

zu Glis' "solange": Auch möglich, da solange ebenso wie während einen gleichzeitigen temp. Adverbialsatz einleitet, in dem eben eine gewisse Parallelität ausgedrückt wird, ich denke das hat im D auch noch eine stark Konditionale Bedeutung, i.S.v. solange= wenn (nur).

Das wären meine Ergänzungen, in aller Eile verfasst, sollten sich noch grundlegend neue Erkenntnisse ergeben, teile ich sie euch selbstverständlich mit, verbunden mit der gleichen Bitte an euch, überhaupt, weitere Ausführungen immer erwünscht :D

LG
Sokrates
Sokrates
Proconsul
 
Beiträge: 421
Registriert: Do 15. Jul 2010, 07:40

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Prudentius » Mi 29. Jan 2014, 19:13

Hallo Roxane,

<Solange wir Waffen tragen, werden wir sicherlich von unserer Tapferkeit Gebrauch machen, sobald wir sie aber übergeben haben, haben wir wohl auch unser Leben verloren.>


Diese stilistische Endform gefällt mir noch nicht, es kommt nicht genug dieses Entscheidungsmoment, dieses "Entweder- Oder" heraus ("To be or not to be"), "solange - sobald" gibt das nicht klar genug wieder;

"Wenn wir (die) Waffen behalten, dann denken wir, auf unsere Tapferkeit setzen zu können",

mit den "können" meine ich, dem Potentialis Genüge getan zu haben.

"Wenn wir sie aber abgeben, dann haben wir auch unser Leben verspielt".

wie soll man einen Realis von einem Pot. da noch unterscheiden :wink:


Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen Potentialis und Realis, der P. ist eben eine abgefederte Redeweise, mit Samthandschuhen, gegenüber dem manchmal wuchtigen Indikativ.

lgr. P. :)
Prudentius
Senator
 
Beiträge: 3577
Registriert: Di 24. Mai 2011, 17:01

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Sokrates » Mi 29. Jan 2014, 20:45

:wink: chairete,

ja, ich verstehe, dass dir die gedanklich schroffe Alternative i.S. einer Disjunktion bei der temporalen Auflösung fehlt, und da stimme ich zu. Man bedenke, dass es sich um eine sehr ernste Lage handelt, im "solange" schwingt auch ein bedingendes Moment mit, es klingt aber doch "diplomatischer" und unverbindlicher als ein Konditionalgefüge.

"Wenn wir (die) Waffen behalten, dann denken wir, auf unsere Tapferkeit setzen zu können",

mit den "können" meine ich, dem Potentialis Genüge getan zu haben.


Achtung, da gibt es schon einen Unterschied:
Ein Modalverb "können" im Indikativ drückt die Befähigung, Fertigkeit, Gelegenheit etc. zu einer Handlung aus:
Ich kann schreiben= bin imstande und habe die "Möglichkeit" (Zeit, Rechner…) dazu. Der Modus ist dann ein harter und faktischer Indikativ, nur soll die Handlung eben um diese Bedeutungsschattierung modifiziert werden.
Ein Opt. als Pot. aber wird mit könnte übersetzt, also dem Modalverb im Konjunktiv, was eine Paraphrase des im D nicht realisierbaren Modus Optativ darstellt. Es gibt keinen Indikativ, sondern einen anderen Modus, der die Handlung als theoretisch rein konzeptionell möglich kennzeichnet. Diese Möglichkeit bezieht sich auf die Aussageweise der Verbums an sich und meint nicht die Befähigung wie im ersten Beispiel. Es stehen sich also die Möglichkeit als Markierung einer Handlung als gedanklich "machbar" und die Möglichkeit als Fähigkeit und Gelegenheit gegenüber.
Im Falle der Wiedergabe des Optativs freilich muss man die zweite Variante wählen.
In deinem Beispiel hast du -stilistisch elegant! :wink: - die Infintivkonstruktion gewählt, doch wird bei diesem "können" aufgrund des nicht definierten Modus eine Einordnung in oben genanntes Schema unmöglich, sodass man hier durchaus einen dass-Sätz wählen dürfte, um das" können" nicht als Modalverb im engeren Sinne, sondern als Wiedergabe des Opt. Pot. erscheinen zu lassen, also: dass wir umsetzen könnten.

"Wenn wir sie aber abgeben, dann haben wir auch unser Leben verspielt".

Das ist gut, hier hast du nun das Part. Aor. doch gleichzeitig aufgefasst, ich denke vor dem Hintergrund eines auch möglichen effektiven Aspekts.

So, das wäre es von meiner Seite, wie ist eure Meinung?

P.S. hervorragender Satz wie ich finde, um den Problemkreis Konditionalgefüge in Abhängigkeit und den "Potentials" zu verdeutlichen! Und wieder einmal ist uns Griechisch Quelle übergrößer "Möglichkeiten" aller Art (eine kleine Anspielung :lol: )
LG
Sokrates
Sokrates
Proconsul
 
Beiträge: 421
Registriert: Do 15. Jul 2010, 07:40

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Roxane » Do 30. Jan 2014, 11:52

Im Folgenden möchte ich noch einmal kurz (vor allem für mich selbst) die Möglichkeiten aufzeigen, wie man einen Potentialis im Konditionalsatz im D. so wiedergibt, dass die Unterscheidung von einem Irrealis deutlich wird:

Im Irrealis wird die Aussage im Bedingungssatz (Protasis) von vornherein als nicht wirklich oder nicht möglich hingestellt.
Irr. d. Geg.: Wenn du dies glaubtest, würdest du irren.
Irr. d. Verg.: Wenn du dies geglaubt hättest, hättest du geirrt.

Beim Potentialis wird die Aussage im Bedingungssatz (Protasis) als bloß angenommen, aber immerhin möglich (potentiell) dargestellt.
- Im D. wird für den Potentialis meist die Form des Irrealis gebraucht.
Pot.d. Geg.: Wenn du dies glaubtest, würdest du irren.
Pot. d. Verg.: Wenn du dies geglaubt hättest, hättest du geirrt.

- Die Möglichkeit kann aber auch durch die Adverbien <wohl>, <etwa> bzw. durch Umschreibungen mit
<könnte, sollte, dürfte> angedeutet werden.
Pot. d. Geg.: Wenn du dies glauben solltest, irrst du wohl/ dürftest du irren.
Pot. d. Verg.: Wenn du dies geglaubt haben solltest, dürftest du geirrt haben.


So, Sokrates, nun habe ich endlich mal verstanden, was es mit der Ambiguität der Konjunktive auf sich hat und wie die Übersetzung von Remacle zu deuten ist. Deinen Merksatz, Prudentius, habe ich mir hinter die Ohren geschrieben und endlich gemerkt, dass παραδόντες ein Part. Aor. ist (o je!), so dass auch der Rest getrost abgehakt werden kann.

Macht`s gut für heute!
Roxane
Roxane
Censor
 
Beiträge: 690
Registriert: Fr 4. Jan 2013, 14:27

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Sokrates » Do 30. Jan 2014, 12:19

chairete,

ja, so in etwa verhält es sich :D
Bedenke noch folgenden Unterschied beim Potentialis:
Wenn das geschehen sollte, a dann könnte ich tun
b dann dürfte ich wohl tun.

a reine Möglichkeit, eben etwas "Potentielles"
b eine abgemilderte Behauptung, höflich, näher am faktischen Indikativ

auch möglich: eine Erwartung/Antizipation, dann werde ich wohl tun ( im D zwar formal Futur I, de facto aber eine Annahme, Vermutung i.S. des Potentials in b.)

So, meinerseits ist diese schwierige Frage vorerst ausreichend abgehandelt, bei weiterem Interesse Recherche :book:

LG
Sokrates
Sokrates
Proconsul
 
Beiträge: 421
Registriert: Do 15. Jul 2010, 07:40

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Roxane » Do 30. Jan 2014, 14:29

Schön, dass du diese Differenzierung noch vorgenommen hast, Sokrates. Ich hatte mir die Mühe erspart, entsprechende Beispiele aufzulisten.
Roxane
Censor
 
Beiträge: 690
Registriert: Fr 4. Jan 2013, 14:27

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Prudentius » Do 30. Jan 2014, 20:56

Im Irrealis wird die Aussage im Bedingungssatz (Protasis) von vornherein als nicht wirklich oder nicht möglich hingestellt.


Hallo Roxane, da hast du jetzt zum Schluss noch einen Stolperstein eingebaut, indem du die Hälfte der halben Wahrheit aussprichst :-D : "falsch" nennt man so eine Aussage, nicht "nicht wirklich oder nicht möglich", und nicht nur die Protasis, sondern auch die Apodosis ist falsch. Du kannst dich allerdings auf die Grammatiken berufen, in denen es überall so steht.

Schauen wir uns ein simples Bsp. an!

"Wenn Paris in Bayern wäre, wäre Paris in Deutschland".

Es ist nicht nur "Paris ist in Bayern" falsch, sondern auch "Paris ist in Deutschland", das ist klar, man soll es auch aussprechen.

Die Grammatiken erkennen nicht das Wechselspiel der beiden Teilsätze beim konditionalen Satzgefüge ("Realis"), der eine beeinflusst den anderen ebenso wie der andere den einen, es herrscht eine Interdependenz; ich versuche mal, es herauszubringen: Gehen wir von einem Realis aus: "Wenn A, dann B". Dann kann man sagen: bei falschem A kann B wahr oder falsch sein, und bei wahrem B kann A wahr oder falsch sein. Testet es mal durch, hoffentlich ist es euch nicht zu viel Geistesakrobatik :-D Also wenn es falsch ist, dass eine Stadt in Bayern liegt, dann kann sie in D. liegen oder nicht; und wenn es wahr ist, dass eine Stadt in D. liegt, dann kann sie in Bayern liegen oder nicht.

Ich will damit sagen, dass wir das ganze Satzgefüge einbeziehen müssen, um die Sache zu vestehen, ich aber mache jetzt Feierabdend :-D ,

lgr. P. :)
Prudentius
Senator
 
Beiträge: 3577
Registriert: Di 24. Mai 2011, 17:01

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Roxane » Fr 31. Jan 2014, 12:35

Guten Morgen, Prudentius!

Ein schönes Beispiel hast du mir kurz vor Feierabend mit deinem "wenn Paris in Bayern wäre.." noch geliefert! In Wirklichkeit liegt aber Paris nicht in Bayern, so dass natürlich auch die Folge irreal bleibt. Der Irrealis drückt also im HS und im NS eine Nichtwirklichkeit aus. Da wir nun nicht bei der halben Wahrheit bleiben wollen, formuliere ich jetzt mal so ähnlich wie F. Maier in "Die Version aus dem Lateinischen":

<Der Irrealis beschreibt ein Konditionalgefüge, in dem die Bedingung und die sich daraus ergebende Folgerung als nicht wirklich (oder wie du sagst: falsch) hingestellt ist. Die Gedankenabfolge in Haupt- und Nebensatz ist so dargestellt, dass die Gesamtaussage als nicht realisierbar oder als nicht realisiert erscheint.>

In den Grammatiken finden sich anstelle deines "falsch" zahlreiche Varianten, um die Aussagen zu benennen, etwa "nicht realisierbar bzw. realisiert (s.o.), unmöglich bzw. nicht wirklich, unmöglich bzw. unwahrscheinlich, die Aussage widerspricht der Wirklichleit, die Aussage ist unerfüllbar."

Was noch fehlt in unserer Beispielsammlung, ist eine Kombination von Irr. d. Geg.und Irr. d. Verg., hier ist sie:
<Wenn ein Fußballspiel nur 89 Minuten dauern würde, hätte der FC Bayern nicht gegen den VFB Stuttgart gewonnen.>

Schöne Grüße von
Roxane
Zuletzt geändert von Roxane am Fr 14. Feb 2014, 16:25, insgesamt 1-mal geändert.
Roxane
Censor
 
Beiträge: 690
Registriert: Fr 4. Jan 2013, 14:27

Re: ἂν beim Infinitiv

Beitragvon Prudentius » Fr 31. Jan 2014, 19:23

Die Gedankenabfolge in Haupt- und Nebensatz ist so dargestellt, dass die Gesamtaussage als nicht realisierbar oder als nicht realisiert erscheint.>


etwa "nicht realisierbar bzw. realisiert (s.o.), unmöglich bzw. nicht wirklich, unmöglich bzw. unwahrscheinlich, die Aussage widerspricht der Wirklichleit, die Aussage ist unerfüllbar."


Hallo Roxane,

ich muss ja zugeben, ich beziehe meine Inspiration von der modernen Logik her, bei obigen Formulierungen bekomme ich Bauchschmerzen, Friedrich Maier beeindruckt mich gar nicht.

Heißen sollte es: "Die Gesamtaussage ist wahr", ohne wenn und aber. Da ist keine Rede von realisierbar, es ist nichts zu erfüllen, es geht um keine Wirklichkeit oder Möglichkeit. Was den Grammatikern nicht in den Kopf geht, ist, dass die beiden Teilsätze zwar falsch, die Gesamtaussage aber wahr ist, und so sehen sie sich zu solchen gedanklichen Verkrümmungen gezwungen.

Der Irrealis ist ein hochkompliziertes logisches Gebilde; um ihn zu erfassen, braucht man logische Hilfsmittel, die die Grammatik nicht so ohne weiteres hat.

Ich versuche mal, an die Sache heranzuführen. Wir müssen ausgehen von einem generellen Konditionalsatz, mit Indefinitpronomen: "Si qua urbs...", "Wenn eine Stadt in B. liegt, liegt sie in D."
"Eine Stadt" enthält ein Pronomen, also eine Variable, ein Eingabefeld. und dann muss definiert werden, was eingegeben werden kann: "alle Städte", darunter eben auch Paris.

Unser Irrealis lässt sich so umformulieren: "Alle Städte in B. liegen in D., aber Paris liegt weder in B. noch in D". und an dieser Formulierung würde niemand etwas finden oder eine Realisierung vermissen.

Ich mach jetzt wieder wie gestern Feierabend, wünsche euch noch einen schönen Abend,

lgr. P. :)
Prudentius
Senator
 
Beiträge: 3577
Registriert: Di 24. Mai 2011, 17:01

Nächste

Zurück zu Griechischforum



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 7 Gäste