Thuk. 5.94-97

Für alle Fragen rund um Griechisch in der Schule und im Alltag

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Thuk. 5.94-97

Beitragvon Roxane » Mo 5. Mai 2014, 10:34

Ein bisschen was habe ich noch von gestern im Kasten, ich habe es besonders gut kontrolliert, also wenn du noch mal Lust hast, Prudentius....

(94) Die Melier: „Dass wir uns ruhig verhielten, eure Freunde statt eure Feinde wären und weder
Verbündete des einen noch des anderen, könntet ihr wohl nicht hinnehmen?“

(95) Die Athener: „Nein, denn eure Feindschaft schadet uns nicht so sehr wie eure Freundschaft,
weil diese (die Freundschaft) sich bei den Herrschenden als Beweis unserer Schwäche, der Hass
dagegen als Beweis unserer Stärke offenbarte.“

(96) Die Melier: „Sorgen/achten (σκοπέω τά τινος = für einen sorgen; σκόπει, μή = sieh zu, dass
nicht, nimm dich in Acht, dass nicht, Pape) denn eure Untertanen in der Weise für/auf das, was
angemessen ist, dass sie diejenigen, die nicht dazugehören und all diejenigen, die unterworfen sind
– in der Mehrzahl die, die Kolonisten sind sowie einige Aufständische - auf dieselbe Stufe stellen?“

(97) Die Athener: „Sie meinen gewiss, dass es keinem von beiden an Rechtsgründen mangele (/dass
keiner von beiden dem Rechtsgrund nach zurückstehe), dass sie zwar an Macht überlegen seien,
dass wir aber aus Furcht nicht angriffen. Abgesehen davon, dass wir über die Mehrzahl herrschten,
würdet ihr durch eure Unterwerfung unsere Stellung sichern (/uns Sicherheit gewähren), besonders
wenn nicht (ausgerechnet) ihr euch als Inselbewohner, die noch (καὶ beim Komp.) unbedeutender
sind als andere, gegen uns, die Beherrscher des Meeres, behauptet.“
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Prudentius » Mi 7. Mai 2014, 09:43

94

"des einen noch des anderen": Plural

"könntet ihr wohl nicht hinnehmen?“: könnt würde genügen.

"Dass wir uns ruhig verhielten": man kann auch sagen: "uns heraushielten".

Die "richtige Übersetzung": man muss sich mal klarmachen, das ist ein Balance-Akt, man muss ja drei Leute unter einen Hut bringen, den Übersetzer, der man selber ist, den Autor des Textes und den Adressaten, für den man übersetzt: jeder hat ein anderes Gesichtsfeld und anders begrenzte Kompetenzen, ein Wunder, dass man überhaupt übersetzen kann! Was anderes ist es bei Prüfungsaufgaben; wir haben in Bayern für die Abitur-Korrektur eine Fehlermatrix gehabt mit genau aufgeschlüsselten Fehlertypen und Gewichtungen, das hatte was für sich.
Um dem Rechnung zu tragen, könnte man auch beim Übersetzen zwischen Entwurf und Reinschrift unterscheiden, dann könnte man bei Meinungsveschiedenheiten sagen: das gehört in den Entwurf, und das in die Reinschrift.
Die Feinheiten der Wortbedeutungen und der grammatischen Analyse gehen als Baumaterial in den Hausbau der Ü. ein; man erkennt meist den einzelnen Baustein am Ende nicht mehr. Sie gehen als Input in die Operation hinein und kommen in verarbeiteter Form als Output heraus.

Also jetzt bin ich mal abgeschweift :-D ,
komme bald wieder und wünsche einen schönen Tag,

P. :)
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Roxane » Mi 7. Mai 2014, 13:25

Nun, so ein hochgestecktes Ziel wie eine "Reinschrift" will ich mir als jemand, der sich die Sprache erst noch aneignen muss, natürlich nicht setzen. Damit wäre ich auch hoffnungslos überfordert. Vielmehr hätte ich am Ende lieber einen Text, der gut nachvollziehbar ist.
So dürften meine Übersetzungsversuche wohl eher denen deiner ehem. (Durchschnitts-) Schüler gleichen: Nur nicht zu sehr von dem abweichen, was das Lexikon hergibt und einem potentiellen Lehrer so wenig "Angriffspunkte" wie möglich bieten. Mit einer freien Übersetzung dagegen kann man auch mal daneben liegen.
Taucht dann etwa ein Eventualis oder Potentialis auf, gebe ich diesen gerne genauso wieder, wie es die Beispiele in meiner Grammatik vorschlagen.

Den Opt. Aor. plus ἄν (Pot.) also lieber mit
"..könntet ihr/werdet ihr wohl nicht hinnehmen" als etwa mit "..kann es euch denn nicht genügen".

Dann lieber "..dass wir Ruhe bewahrten" als etwa "..dass wir unsere Neutralität bewahrten".

Über einen "Entwurf" geht also meine Übersetzung in der Regel nicht hinaus. Manchmal wiederhole ich einen Abschnitt, den ich zuvor übersetzt habe, später noch einmal mündlich, damit sich Vokabeln und Grammatikregeln festigen. Dann ist es für mich einfacher, wenn das Übersetzte nicht zu weit weg vom Text ist.
Dass es eine Fehlermatrix gibt, ist mir bekannt. Vor ein paar Jahren habe ich mal eine Lat.-Abiklausur einsehen können, entweder ist diese Matrix recht schülerfreundlich oder der Lehrer war nur großzügig...

Übrigens habe ich noch keine einzige Zeile weiter übersetzt, er wird mir schon nicht weglaufen, der Thukydides...

Besten Dank erst mal und bis irgendwann!
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Prudentius » Do 8. Mai 2014, 09:57

95

"bei den Herrschenden": passiv!

"offenbarte": Präsens, denn es geht um die aktuelle Situation.

"bei den Herrschenden"; lieber Dativobjekt: "den Beherrschten"

"weil", kausal, ist schon richtig, ich würde trotzdem lieber sagen: "indem/insofern diese als Schwäche erscheint". "Kausal" hat eigentlich zwei verschiedene Bedeutungen, nämlich bei den Physikern und bei den Juristen: Begründung eines Vorgangs, oder Beweis eines Satzes.

Stilbesonderheit: Bei dem Vergleich: "nicht so sehr...wie" steht einem eingliedrigen Ausdruck ein zweigliedriger gegenüber; also Inkonzinnität.

Hier kommt die Unmenschlichkeit des reinen Machtkalküls langsam heraus: Freundschaft bedeutet Schaden, Hass Vorteil: die menschlichen Wertungen sind auf den Kopf gestellt.


Was andres: kennt ihr die Verse des Dichters Stfan George:

Eine kleine schar zieht stille bahnen
Stolz entfernt vom wirkenden getriebe,
Und als losung steht auf ihren fahnen:
"Hellas ewig unsre liebe".

(kleinschreibung vom Autor).

lgr. P. :)
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Roxane » Do 8. Mai 2014, 14:29

Diesen schönen kleinen Vers kannte ich noch nicht, Prudentius. Auf dass auch wir die Fahne nicht sinken lassen mögen! Stefan George, so lese ich, war niemals in Griechenland, das zeitgenössische Griechenland interessiere ihn nicht und die Griechen seien nur matte Erben ihrer großen Ahnen, so sprach er vor mehr als hundert Jahren. Wo er sei, dort sei Griechenland.
Ich schätze mal, Griechenland ist auch ganz in deiner Nähe...
Danke für die Durchsicht,
(um Nachsicht muss ich wohl bitten, weil ich wieder so einen dummen Anfängerfehler gemacht habe.)

Tschüß!
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Prudentius » Fr 9. Mai 2014, 10:34

96

"das, was angemessen ist": nimm lieber ein Substantiv für den Begriffsnamen: "das Angemessene"; das ist hier wieder eine Umschreibung für einen Moral- oder Rechtsbegriff, den sie ja nicht gebrauchen durften; aber sie meinen: "Gerechtigkeit".

σκοπέω: ansehen als; hier wird der Begriffsname "das Angemessene" mit Inhalt gefüllt, hier als konsekutiver Vergleichssatz: so, dass.

"diejenigen, die nicht dazugehören", oder "die, die nicht beigetreten sind", nämlich dem att. Seebund.

"auf dieselbe Stufe stellen": man könnte auch sagen: "keinen Unterschied machen zwischen..."

Wieder eine Inkonzinnität: dem Pc. proshekontas steht ein Relativsatz gegenüber: hosoi.

Auf George komme ich auch noch,

lgr. P. :)
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Roxane » Fr 9. Mai 2014, 17:34

kleiner Exkurs, weil es mich mal interessiert hat, was es mit dem Billigen, ἐπιεικής, auf sich hat:

ursprünglich "mäßig, angemessen" im Gegensatz zu übermäßig, später auch "billig und schicklich"(Burckhardt)

Aristoteles, Nik. Ethik V, 14
"Wenn nun das Gesetz allgemein spricht, aber ein Fall eintritt, der dem Allgemeinen widerspricht, so ist es, soweit der Gesetzgeber eine Lücke lässt, richtig, dies zu verbessern, wie es ja auch der Gesetzgeber selbst getan hätte, hätte er ihn ins Gesetz aufgenommen. Daher ist das Billige ein Recht und besser als ein gewisses Recht..."

Iustinian, institutiones 4,6,30
"Bei einer bonae fidei iudicia (Klage mit bona-fides-Klausel) ist es dem Richter erlaubt, nach Treu und Glauben zu schätzen, wieviel dem Kläger zu leisten ist."
Diesen Beurteilungsspielraum hat ein Richter auch heute noch nach §§ 157, 242 BGB.

Die Melier forderten das in ihrem Fall Angemessene, etwas, was sie für gerecht hielten. Von den Gedanken eines Aristoteles oder Iustinian konnten sie noch nichts ahnen.

Danke für deine Durchsicht und schönes WE, Prudentius!
Roxane
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Prudentius » Sa 10. Mai 2014, 09:02

was es mit dem Billigen, ἐπιεικής, auf sich hat:


Ich versuche mal, ob ich was zur Klärung zusammenbringe; im L. steht neben dem iustum das aequum, wir sagen, es ist "recht und billig", billig = billigenswert, zu billigen. Beides gehört zusammen. das Gesetz allein garantiert noch nicht die ganze Gerechtigkeit; man könnte vllt. denken, der Richter sei überflüssig, wenn doch das Gesetz vorschreibt, welche Strafe für welches Vergehen zu verhängen ist. Erst die Berücksichtigung der "mildernden Umstände" macht die Gerechtigkeit aus, und dazu ist der Richter in seiner Unabhängigkeit/Unparteilichkeit nötig. Das ἐπιεικής hat also die Bedeutung von aequum und billig. Es gibt den Begriff "Situationsethik", das ist eine Theorie, nach der die Bewertung einer Handlung mehr von der Situation (also vom aequum) abhängt als von der gesetzlichen Norm.
Aristoteles und Justinian liegen ja auf dieser Linie.
Die Melier berufen sich hier also auf das aequum, nachdem ihnen das iustum verwehrt worden war.

Ich fahre jetzt ins Hallenbad und schwimme einen eigenen Stil, "batrachoplaneia", und euch im Trockenen wünche ich ein schönes WE,

P. :)
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Re: Stefan George

Beitragvon Prudentius » Sa 10. Mai 2014, 15:56

Der Dichter Stefan George ist ja völlig vergessen, er stand abseits aller modernen Strömungen, aber um ihn scharte sich der berühmte George-Kreis, eine Gruppe von illustren geistigen Größen, sehr schöpferische, begabte Leute, einflussreich, elitär, eine Art Geistesadel; am bekanntesten ist vllt. Hugo von Hofmannsthal, der den "Jedermann" schrieb, und der Widerstandskämpfer Stauffenberg. Ihr Einfluss war weitreichend und langdauernd, ich habe noch bei einem Enkel-Georgianer studiert; er hielt seine Vorlesungen mit leuchtenden Augen, verbreitete Enthusiasmus und wurde belächelt; die anderen Professoren, die Vertreter der nüchternen Wissenschaft, erschienen einem dann blutleer.
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Prudentius » Mo 12. Mai 2014, 09:54

Hallo Roxane,

97

Man kann noch die Sinn-Nuancen mehr herausbringen, und die Antithesen, die den Gedanken tragen.

„Sie meinen gewiss, dass es ...": betont am Anfang steht dikaiomati, lass es vorn: "An Rechtsgründen steht keiner dem anderen nach, meinen sie". Er will sagen, nicht dass beide ihre Gründe haben, sondern dass Auffassung gegen Auffassung steht, dass also ein Patt vorliegt, dass man also die ganzen Rechtsfragen vergessen kann.

"dass sie zwar an Macht überlegen seien": hier kommt die Antithese zu "Rechtsgründen", hebe sie deutlich hervor!
"tus men" die einen, nicht "sie"; "an Macht aber seien die einen überlegen"; "die einen": Gegensatz zu "uns".

"hoste" auch mit übersetzen, kausale Anknüpfung, "daher..."
"dass wir über die Mehrzahl herrschten,", dass wir über mehr herrschen, wenn ihr nämlich auch unterworfen seid.

"die noch (καὶ beim Komp.) unbedeutender sind", vllt. lieber "da ihr..."

Ganz schön schwierig, am Schluss habe ich ziemliche Mühe gehabt.

Noch zum Stil:

- Inkonzinnität: dem Dativ dikaiomati steht der Präpositionalausdruck kata dynamin gegenüber;

- Präpositionalausdrücke mit substantivierten Infiniven: 2mal: exo tu arxai; dia to katastr.

- Substantiviertes Adj. Neutrum im Sinne des abstrakten Substantivs: to asphales die Sicherheit,

Man kann wohl sagen: schön ist es, aber es ist Schwerarbeit :-D .

In diesem Sinne weiter!

lgr. P. :)
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Re: Thuk. 5.94-97

Beitragvon Roxane » Mo 12. Mai 2014, 13:28

Einer Sache sei dir gewiss, Prudentius: Ich bin immer mitten drin im Geschehen, wenn ich deine Korrektur erhalten habe. Dann wird der ganze Thukydidestext auf einmal ganz lebendig. Da hast du eine ganze Menge von deinem alten Prof. mitgenommen.
Natürlich bin ich froh, wenn du dich meiner annimmst, du siehst ja, dass es sonst weit und breit keinen mehr gibt, der sich da opfert bzw. opfern kann. Ich kann mir schon vorstellen, dass auch ein Platzhirsch (das war doch der Ausdruck?) seine Zeit braucht, du machst das ja auch sehr gründlich! Übrigens freue ich mich, dass du das <noch> stehen lassen hast, das stand so in keiner Übersetzung.
Wie du sicher schon befürchtet hast, stelle ich gleich noch einen kl. Abschnitt ein. Das ist aber dann alles, was ich noch geschafft habe.

Diesen Schwimmstil kenne ich gar nicht, muss man da aus dem Wasser hüpfen? Wahrscheinlich gehst du so früh ins Hallenbad, damit noch genügend Platz im Becken ist.

Einen schönen Maientag noch!
Roxane
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