Politisches System im antiken Athen

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Politisches System im antiken Athen

Beitragvon Ioscius » Di 1. Sep 2015, 20:31

Hallo,

im Rahmen meiner Gorgias-Lektüre bin ich auf ein paar Fragen gestoßen, die ich hiermit stellen will. Bitte korrigiert meine falschen Aussagen:

Soweit ich das überblicke, sind die drei wichtigsten politischen Instanzen in Athen der Rat, die Volksversammlung und die Richter (Gerichtshöfe). Die große Kritik des Sokrates liegt nun daran, dass in diesen drei Instanzen keine kompetenten, in dieser Sache studierten Experten tätig sind (erst wenn οἱ φιλόσοφοι βασιλεύσουσι..) sind, sondern irgendwelche, die jeweilige τέχνη nicht beherrschende Interessenten (Mitglieder der Volksversammlung). Während diese sich wenigstens für diese Sache freiwillig melden, werden die Richter gar per Losverfahren ausgewählt. Sehe ich das richtig, bedeutet das also auch, dass man gewissermaßen zum Richter gezwungen wird?

Wie sieht es aus mit dem Beruf "Ratsmitglied"? Konnten auch freiwillige Laien dieses Amt ausüben oder konnte man auch via Losverfahren gezwungen werden?

Nun erfahre ich in einem Kommentar, dass Sokrates im Arginusenprozess Ratsmitglied (nach der Apologie-Schrift) gewesen sein soll. Würde dies nicht darauf hindeuten, dass einem dieses Amt auch unfreiwillig per Losverfahren zugeteilt werden konnte? - schließlich sagt der platonische Sokrates oft, er habe Wichtigeres als die Politik zu tun.

Und wie kann man nun die Aufgabenbereiche eingrenzen? Ich lese einerseits, dass der Rat nur die Gesetzesanträge vorbereitet würden, während die Versammlung darüber entscheidet; nach der Apologie soll jedoch die Ratsversammlung (unter Vorsitz der Phyle des Sokrates) das Todesurteil verhängt haben, was also bedeuten würde, dass auch der Rat an der Gesetz-/ Urteilsbildung beteiligt ist.. Keine genaue Gewaltenteilung..

Könnte mir bitte jemand die genauen Aufgabenbereiche der beiden Instanzen erklären, warum ist das so uneindeutig? Gibt es noch wichtige Ergänzungen?

Danke im Voraus!
Viele Grüße
Ioscius
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Re: Politisches System im antiken Athen

Beitragvon Roxane » Mi 2. Sep 2015, 10:27

" keine kompetenten, in dieser Sache studierten Experten ":

In einem Aufsatz, den ich mir mal kopiert hatte, heißt es:

"Athens Demokratie erstreckte sich auch auf die Gerichte, die wegen ihres besonderen Charakters als Gerichtsversammlungen bezeichnet werden müssen. Die Dikasterien waren reine Laiengerichte und allen Bürgern über dreißig Jahren zugänglich. 6000 Bürger bestimmte das Los jährlich zu Richtern. Berufsrichter gab es nicht. Die Richter hatten einen Eid zu leisten, der sie verpflichtete, in Übereinstimmung mit den Gesetzen so wie den Beschlüssen von Volk und Rat zu urteilen. Aus diesem Kreis vereidigter Richter wurden die einzelnen Gerichtshöfe bestellt, die von unterschiedlicher Größe waren."

http://www.bpb.de/izpb/175892/grundzueg ... kratie?p=2

Ob ein gewählter Richter (wie ein Schöffe heute) sein Amt antreten musste oder ob er sich auch weigern konnte, geht aus diesem Text zwar nicht hervor, an anderer Stelle heißt es aber:

"Die Richter bestimmte man unter Freiwilligen durch das Los." Aber das steht so nur in irgendeinem Referat: http://www.mybude.com/klassische-altert ... nland.html

Und über die Ämter des Sokrates lese ich:
"Sokrates bemüht sich nicht um politischen Einfluss, sondern nimmt lediglich pflichtgemäß die Ämter wahr, die durch Rotation oder durch das Los auf ihn fallen."
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Re: Politisches System im antiken Athen

Beitragvon Ioscius » Mi 2. Sep 2015, 17:53

Danke für Deine Antwort - sie scheint jedoch die Widersprüchlichkeit zu erhärten..
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Re: Politisches System im antiken Athen

Beitragvon Roxane » Do 3. Sep 2015, 11:31

Wahrscheinlich bist du ja Student, Ioscius, und da musst du sicher genauer informiert sein. Weil es mich selbst intererssiert hat, habe ich noch ein bisschen nachgeforscht und tatsächlich ein sehr umfangreiches Werk gefunden:

http://www.koeblergerhard.de/Fontes/Lip ... 905Bd1.pdf

Bisher habe ich "nur" die Einleitung überflogen, lies mal Seite 38, da steht, dass die Vergütung der Laienrichter anfangs sehr niedrig war und die "ärmeren Bürger deshalb die Teilnahme an den Gerichten den Wohlhabenden überlassen mussten". Erst als Perikles die Mühe und den Arbeitsausfall höher vergütete, konnten es sich auch Bürger der niederen Schichten leisten, das Richteramt wahrzunehmen. Weiter unten auf der Seite weist Lipsius auf ein Kapitel über den "Gerichtszwang der Bundesgenossen" hin.

Über die Aufgabenbereiche der verschiedenen Instanzen erfährst du schon in der Einleitung eine ganze Menge. Das Werk hat drei Bände, Bd. I umfasst 235 Seiten (I. Die Beamten, II. Die Blutgerichte, III. Die Geschworenengerichte, IV. Die Gerichtshöfe, V. Die Gerichtsbarkeit des Volks und des Rats, VI. Die Schiedsrichter), fast genug für eine Dissertation. :-D
Siehe auch:
http://www.blues-browser.de/athlaw00.htm
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