Verschiedene Fragen zu Platons Gorgias (Philosophisches..)

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Verschiedene Fragen zu Platons Gorgias (Philosophisches..)

Beitragvon Ioscius » Di 1. Sep 2015, 20:44

Hallo,

bei meiner derzeitigen Platon-Lektüre ergeben sich Fragen, die ich nacheinander hier schreiben möchte (Schwerpunkt Philosophisches). Zwei habe ich gleich:

1. Beim Gespräch mit Polos (~ 469 Stephanus-Pag.) schildert Sokrates Glückseligkeits-Abstufungen bzgl. der Taten

mit Recht/ Unrecht // töten/ getötet werden

Der mit Recht Tötende sei "nicht beneidenswert", während der mit Unrecht Tötende gar bemitleidenswert u. unglücklich sei.
Diese Ordnung ist klar.

Nun: Der zu Unrecht Sterbende sei weniger zu bemitleiden und unglücklich als der zu Unrecht Tötende oder mit Recht Sterbende.

Wir erfahren, dass der zu Unrecht Sterbende oberhalb dieser eben gesetzten Grenze nach unten (Skala des Glücklichseins) ist, diese Personen ganz unten sind die zu Unrecht Tötenden (klar, nach Sokrates ist Unrecht zu erleiden immer weniger schlimm als es zu tun).

a) Ist der zu Recht Sterbende nun gleichwertig unglücklich mit dem zu Unrecht Tötenden? Ich vermute, er ist etwas glücklicher: Denn auch wenn er ja auch wohl Unrecht begangen hat, muss man wohl berücksichtigen, dass dieses nun durch eben diese Tat gesühnt wird.

b) In welchem Verhältnis steht der zu Unrecht Sterbende zu dem zu Recht Tötenden? Ich vermute, letzterer ist aufgrund der Tatsache, Recht auszuüben und kein Unrecht zu erleidenn, glücklicher.

Ist meine Differenzierung überhaupt von Belang? Wenn nicht, kann man es natürlich als "offen" stehen lassen..

2. Ein Kommentator merkt zur Stelle 472b ("und aus der Wahrheit") an: "Wahrscheinlich ist hier und an anderen Stellen des Gorgias, wo Sokrates "Wahrheit" als Ergebnis des gemeinsamen elenktischen Gesprächs bezeichnet oder für sich beansprucht, nicht an den ontologisch-epistemischen Wahrheitsbegriff zu denken, sondern an einen affektiv-existenziellen."

Was ist mit diesen beiden beiden Paketen von Adjektpaaren (ontologisch-epistemisch; affektiv-existenziell) genau gemeint? Als Philosophie-Laie fällt es mir schwer, hier zu folgen..

Danke für eure Hilfe ;)
Ioscius
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Re: Verschiedene Fragen zu Platons Gorgias (Philosophisches.

Beitragvon Prudentius » Mo 7. Sep 2015, 09:59

Hallo Iosci,

ich habe zwar den Gorgias schon lange nicht in der Hand gehabt, und weiß auch nicht, mit welcher Zielsetzung du gerade daran arbeitest, aber ich bringe mal ein paar Gedanken dazu vor.

1. "schildert Sokrates Glückseligkeits-Abstufungen bzgl. der Taten", so würde ich das nicht ausdrücken, So. schildert keine Abstufungen, es handelt sich um einen erfundenen Dialog, einen geistigen Zweikampf, eine Art Schachspiel; alle Äußerungen der Dialogpartner zielen auf die Mattsetzung des Gegners, nicht auf irgendetwas Objektives. Es geht darum, dass So. durch seine Fragen den Partner in einen Widerspruch zu seiner Ausgangsthese bringen will, und das erreicht er auch immer, es endet gewöhnlich in der "Aporie", also der Einsicht in das eigene Nichtwissen, und nach dem Höhlengleichnis ist das die Voraussetzung, dass der Partner sich auf den Weg hinaus, der wahren Sonne entgegen, macht.
Ich würde also diesen Fragen, was "beneidenswerter" sei, nicht allzuviel Bedeutung beimessen.

"Ist meine Differenzierung überhaupt von Belang? Wenn nicht, kann man es natürlich als "offen" stehen lassen.."
"Offen" auch wieder nicht, denn Plt. hat mit dieser Aporie etwas ganz Bestimmtes im Sinn, man könnte es als das metaphysische Programm des Platonismus bezeichnen, das mit Pro und Kontra viel bewegt hat.

2. "Was ist mit diesen beiden beiden Paketen von Adjektpaaren (ontologisch-epistemisch; affektiv-existenziell) genau gemeint? Als Philosophie-Laie fällt es mir schwer, hier zu folgen.."

...und dem philosophisch Gealterten fällt etwas anderes schwer: sich überhaupt auf solche Wortklauberei einzulassen. :-D

Der Kommentator hat vllt. damit Recht, dass hier nicht objektive Aussagen, sondern Schachzüge vorliegen.

lgr. P. :)
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Re: Verschiedene Fragen zu Platons Gorgias (Philosophisches.

Beitragvon Ioscius » Do 10. Sep 2015, 21:07

Hallo Prudentius ! :)


1. ok.. Willst du mit dem Begriff "das metaphysische Programm des Platonismus" andeuten, dass der platonische Sokrates durch diese Sätze, bei denen ich mich um eine feine Abstufung bemüht habe, zeigen will, dass die Ursachen der Dinge/ die natura rerum selbst viel zu komplex sind, als dass das relativ simple Modell des Kallikles zutreffen könnte, nach dem die Stärkeren das ihnen Angenehme tun sollen? Stattdessen sind - stark untertrieben formuliert - einige Denkanstrengungen notwendig (das für den Menschen typische tun, νοὐς/ λόγος anwenden)
Bedenke, ich bin Philosophie-Anfänger und stelle mir unter Metaphysik die Voraussetzungen/ Ursachen der Natur, die allerersten Dinge etc. vor, und hoffe, damit eine anständige Interpretation erzielt zu haben.

2. Also willst du mir damit sagen, ich muss mich gar nicht bemühen, diese überfrachteten Begriffe zu verstehen? Wenn ja, dann will ich mich damit begnügen, dass der Kommentator nur aussagen will, dass an dieser Stelle keine von Sokrates ernstgemeinten Argumente vorliegen, sonder lediglich welche, die dazu dienen soll, dass der λόγος und das Ergebnis/ die Zwischenschritte ὁμολογίαι nach seiner Vorstellung geformt werden.

Zu deiner Frage nach der Zielsetzung meiner Lektüre: Ich werde in wenigen Wochen eine Prüfung über den Dialog ablegen, und lese deshalb einen Kommentar durch, um den DIalog möglichst komplett zu verstehen. Die Problematik ist wohl, dass man sich bei vollständiger Lektüre des Kommentars leicht verfangen kann..
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Re: Verschiedene Fragen zu Platons Gorgias (Philosophisches.

Beitragvon Ioscius » Fr 25. Sep 2015, 16:51

Ich will noch eine neue Frage stellen: Fallen euch zum Dialog Gorgias bzw. Phaidros aktuelle Bezüge ein? - nun ja, das Reden der Politiker, allein um den Schein zu wahren, die unanganehme Wahrheit zu verbergen, ohne gleichzeitig Ahnung von der jeweiligen Materie zu haben :lol:
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Re: Verschiedene Fragen zu Platons Gorgias (Philosophisches.

Beitragvon Prudentius » Sa 26. Sep 2015, 16:59

Fallen euch zum Dialog Gorgias bzw. Phaidros aktuelle Bezüge ein?


Zum Phaidros fällt mir was ein, in Mekka war gerade die jährliche Wallfahrt, die Pilger umrunden siebenmal die Kaaba, in weiße Gewänder gekleidet, sie wandern wie die Sterne am Himmel, der ja siebenfach in die Planetensphären gegliedert ist. Das erinnert an einen von Platon (Phdr. 246-48) scherzhaft erzählten Mythos, nach dem die Götter und Menschenseelen in einer Prozession sich mit dem Himmel mitdrehen und möglichst hoch aufsteigen wollen, um Anteil am Göttlichen und Ewigen zu gewinnen, Ideenschau als das höchste, was der Mensch erreichen kann, die Erfüllung des menschlichen Strebens schlechthin.

Die Analogie ist ganz eindeutig, der hajj ist die Umsetzung einer platonischen Gedankenvision, ihre Übertragung ins Konkrete, Jahr für Jahr, für sehr viele Menschen.

Erstaunlich daran ist, dass es die Muslime selbst nicht wissen, und noch erstaunlicher, dass es der platonisch geprägte Westen nicht weiß.

Wie kam Platon nach Arabien? Ein paar Festpunkte kann man sich klarmachen:

- Proklos, der letzte bedeutende Neuplatoniker, + 485 n.Chr.,
- 529 Schließung der platonischen Akademie in Athen durch Kaiser Justinian (das war der, der die Hagia Sophia gebaut und das Römische Recht hat sammeln lassen, wir können ihm in Ravenna in die Augen schauen), daraufhin wichen die Philosophen nach Osten aus,
- Mohammed + 632,
- 825 "Haus der Weisheit" in Bagdad.

lgr. P. :)
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Re: Verschiedene Fragen zu Platons Gorgias (Philosophisches.

Beitragvon Ioscius » Mo 28. Sep 2015, 10:40

Sehr interessant, danke!
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