Entstehung des Passivs

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Entstehung des Passivs

Beitragvon Ioscius » Mi 18. Nov 2015, 23:10

Hallo,

Bornemann-Risch gibt ja ein paar Erklärungen für die Entstehung des Passivs und will damit auch begründen, warum im Griechischen die persönliche Konstrution auch bei intransitiven Verben gebräuchlich ist (Der adverbiale Akkusativ wird bei der Enstehung irgendwie auch herangezogen). Mein Problem: Ich verstehe die entsprechenden Kapitel nicht. Deswegen möchte ich meine Vermutungen äußern und bitte um Verbesserung: Meine Theorie ist, dass die persönliche Konstruktion auch im Passiv durch die Vorstellung des Mediums geprägt ist:

ἐπιτρέπομαι τὴν πόλιν: Mir wird die Stadt überlassen.
Die Konstruktion ist vom Medium geprägt: "Ich lasse in meinem Interesse die Stadt [an mich] überlassen; ich veranlasse, dass die Stadt [an mich] überlassen wird.

- Bedeutet das, die Passivkonstruktion resultiert aus der Vorstellung, dass das affizierte Subjekt zugleich Veranlasser ist (Vermischung aus kausativem und reflexiv-intransitivem/ dativischem/ aktivisch-reflexiv-Medium)

- Andererseits ist diese Vorstellung bei solchen Sätzchen wie διεφθάρησαν τὴν ὄψιν oder bei den passivischen Partizipien von transitiven Verben (BR § 172,2) eher nicht möglich.

Ok, bei bei δεδεμένος τὸ χεῖρε wäre es bspw. möglich:
1. Erklärung: indirekt-reflexives Medium "der sich die Hände fesseln ließ".

Aber meine 2. Erklärung wäre: Parallel zu den Verben, deren Ergänzung ein Genitiv-/ Dativobjekt ist (bspw. ἄρχεσθαι), wird nun bei solchen bspw. der Dativ als das "volle Ziel des Verbalvorgangs" gesehen, während das Akkusativobjekt unangetastet leibt. Der Dativus sympatheticus wird also zum Nominativ/Subjekt .

Vergleichbar ist ja auch, dass das passivische Verbaladjektiv bei unpersönlicher Konstruktion bei einer Ergänzung den Kasus erfordert, als ob das Verb im aktiv Stünde:
ὠφελητέον τὴν πόλιν εστί. -> vgl. ὀφελεῖν τἠν πόλιν


Nebenfrage 1: Letzte Überlegung: Ich habe gerade gelesen, dass die Endungen des Aorist Passiv aktivisch sind, und irgendwie zu ην θην sich entwickelt haben. Kann mir das jemand genauer erklären?

Nebenfrage 2: Kann man sich die Konstruktion von πείθεσθαι (gehorchen) so vorstellen, dass das Dativobjekt ein Dativus auctoris ist (ich werde von dir überrredet/ überzeugt)?

Nebenfrage 3: Mein Dozent meinte, dass kein Perfekt Imperativ Aktiv existiert, weil das Aktiv zu Anfang generell intransitiv-reflexive Bedeutung hatte. Schön, ich habe auch schon einmal gelesen, dass die Perfekta als den Zustand betonende Aspekt"tempora" zu Anfang keine transitiven Akkusativobjekte als Ergänzung haben konnten. Das Problem bei dieser Theorie: Warum existiert dann ein medialer/passivischer Imperativ: M. E. sind diese Formen noch weniger geeignet für ein Passiv.

Danke für Eure Antworten!
Ioscius
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Re: Entstehung des Passivs

Beitragvon Glis » Do 19. Nov 2015, 23:40

Hallo Ioscius,
zu deiner Nebenfrage 1 habe ich Folgendes in Helmut Rix' "Historischer Grammatik des Griechischen" gefunden (S. 219, 2. Aufl. 1992, im Abschnitt "Der -θη-Aorist des Griechischen"):

"Der -θη-Aorist bezeichnet ursprünglich das Einsetzen eines Vorgangs, überwiegend bei Homer (κρύφθη ,verbarg sich'), oft auch noch im Attischen (ἐπείσθη ,ließ sich überzeugen', ὡρμήθη ,brach auf': ,passive Deponentia'); er steht hierin in Konkurrenz mit dem Aor. Med. anderer Bildungen (att. ἐπειράθην und ἐπειράσατο ,versuchte'). Wie der -η-Aor. übernimmt er dann auch die Funktion des Pass., öfters schon bei Homer (Διόθεν βλαφθέντα ,von Zeus beschädigt'), regulär im Att., wo er neben dem seltenen -η-Aor. der einzige Ausdruck des Aor. Pass. ist (...)."

Es folgen bei Rix Vermutungen, worauf die "griechische Neuerung" des -θη-Aorists (im Vergleichsfeld der indoeuropäischen Sprachen) in sprachgeschichtlich-morphologischer Hinsicht zurückgehen könnte.

Viele Grüße!
Gl.
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Re: Entstehung des Passivs

Beitragvon Ioscius » So 22. Nov 2015, 14:16

Danke für Deinen Beitrag, Glis!

Ok, das heißt also, man hat ursprünglich die θη-Form, um intransitive Vorgänge auszudrücken, aus dem sich allmählich das Passiv entwickelt hat?

Wie der -η-Aor. übernimmt er dann auch die Funktion des Pass.


War also dieser seltene η-Aorist zuerst da? Sind das nicht die Endungen von diesen seltenen Wurzelaorista?.. Bei diesen soll sich also zuerst das Passiv entwickelt haben?

--

Mir kommt noch ein Punkt für die eigentümliche Konstruktion mancher Verba im Passiv (auftragen u. Ä.) in den Sinn (bzw. kurz zusammenfassend mein längerer oberer Beitrag): Es handelt sich um eine Mischung aus zwei Merkmalen des Mediums;

1. indirektes/dativisches Medium: - es wird etwas an oder für jemanden gemacht*
2. kausatives Medium: man veranlasst, dass etwas gemacht wird --> man lässt es zu/ erduldet es

* Hinzu kommt die griechische Eigenheit in der Syntax, dass auch Verben mit Genitiv-/Dativobjekt ein persönliches passiv bilden können.

Also: "διεφθάρησαν τὴν ὄψιν" --> Sie ließen (notgedrungen) zu, dass ihnen die Augen zerstört wurden.

Ich glaube, ich habe einmal einen Aufsatz gelesen, in dem so auch begründet wurde, warum das Verb des Auslachens im Satz "Diogenes ließ sich verspotten" im Medium steht.

Vg
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Re: Entstehung des Passivs

Beitragvon Prudentius » Do 26. Nov 2015, 11:06

Ioscius hat geschrieben:War also dieser seltene η-Aorist zuerst da? Sind das nicht die Endungen von diesen seltenen Wurzelaorista?.. Bei diesen soll sich also zuerst das Passiv entwickelt haben?


Hallo Iosci,

der Wurzelaorist ist gar nicht selten, er ist zwar nur von wenigen Verben gebildet, aber diese sind häufig, histemi bildet viele Komposita, und baino bezeichnet eine elementere Bewegungsart, und hat auch viele Komposita.

Mit dem Passiv hat dieser Wurzelaorist nichts zu tun, er wird ja auch teils mit anderen Vokalen gebildet: egnon, ephyn.

Gehe beim Verständnis des Passivs immer von dem simplen Standardfall aus: "Der Lehrer lobt die Schüler" <=> "Die Schüler werden vom Lehrer gelobt", also das Objekt rückt in die Subjektposition, wird also Nominativ, und das Prädikat wird der N-Kongruenz durch das neue Subjekt unterworfen.
Im Gr. kommt es dann zu "Verwerfungen" im Verhältnis zu dem teilweise gleichlautenden Medium, da würde ich mir nicht allzusehr den Kopf darüber zerbrechen :-D .
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Re: Entstehung des Passivs

Beitragvon Ioscius » Do 3. Dez 2015, 23:58

Alles klar, dankeschön, Prudentius ! :)
Bei weiteren Fragen dazu würde ich nochmals einen weiteren Post schreiben ^^
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