Röm 3,21

Für alle Fragen rund um Griechisch in der Schule und im Alltag

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Röm 3,21

Beitragvon Roxane » Do 31. Mär 2016, 15:14

Hallo Prudentius und Markus!

Angeregt durch den letzten thread bin ich nun bei Paulus angelangt und zwar bei Röm 3, 21 (-26).

Hier lässt sich eigentlich jedes einzelne Wort unter die Lupe nehmen, meine erste Frage wäre, ob das δικαιοσύνη θεοῦ eher als Gen. orig. oder doch als Gen. poss. zu deuten ist. Dann noch: Pape meint, dass dieses δικαιοσύνη im NT einem ἐλεημοσύνη gleichkommt. Will aber hier wegen des vorausgegangenen νόμου nicht so recht passen, meine ich.


[21] νυνὶ δὲ χωρὶς* νόμου δικαιοσύνη** θεοῦ πεφανέρωται, μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν,

* praepos. c. genit., getrennt wovon, ohne; im Ggstz von, fern von meinen Augen; abgesehen wovon, außer; – verschieden wovon, anders als
**δικαιοσύνη, ἡ, Gerechtigkeit, die Eigenschaft und Handlungsweise des δίκαιος, Rechtlichkeit; Wohlthat; der ἐλεημοσύνη (ἐλεημοσύνη = Mildtätigkeit) entsprechend, Math. 6, 1. 2, u. sonst im N. T. – Von späteren Dichtern auch personificirt als Göttin.



Nun aber hat sich ohne ein Gesetz* Gerechtigkeit von Gott (Gen. orig.) offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten**.

oder

Nun aber hat sich ohne ein Gesetz* eine Gottesgerechtigkeit (= wie die Menschen vor Gott gerecht werden können, Gen. poss.) offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten**

*gemeint: die Tora
**Das Zeugnis von "Gesetz“ und "Propheten“ begründet, dass Paulus auch in den mehrheitlich an Heidenchristen gerichteten Briefen verschiedentlich Zitate aus der hebräischen Bibel (= AT) anbringt, obwohl die Heidenchristen ja von dem jüdischen Religionsgesetz und der rabbinischen Auslegung nicht betroffen sind. Die hebräische Bibel ist insofern für die Heidenchristen von Belang, als sie auf das mit Jesus Christus verbundene Heilsgeschehen hinweist.



@Markus: Kennst du Uta Ranke Heinemann? Die spricht dir aus der Seele. "Nein und Amen" heißt das Buch.
@Prudentius: Du kannst gerne weiter laienpredigen. Du machst das gut!


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Re: Röm 3,21

Beitragvon marcus03 » Fr 1. Apr 2016, 16:00

Ich empfehle den Kommentar von Ulrich Wilckens:

http://pictures.abebooks.com/ANTIQUARIA ... 870256.jpg

Viele Exkurse mit genauen Begriffs(er)klärungen, Sachinfos, Hintergrundinfos etc.


Frau Heinemann ist mir bekannt. ("Eunuchen für das Himmelreich", lesenswert). :)
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Roxane » Fr 1. Apr 2016, 16:12

Inzwischen habe ich noch allerhand zu dem δικαιοσύνη θεοῦ gefunden:


Die Gerechtigkeit Gottes hat ihren Raum außerhalb aller geläufigen Vorstellungen, außerhalb aller "Rechtsvorstellungen" von gerecht und ungerecht. Die "Gerechtigkeit Gottes" ist jetzt unabhängig von den Taten und Werken des Menschen. Sie ist "Geschenk". Sie ist die Tat Gottes, der den Menschen gerecht macht. Gerechtigkeit Gottes fällt so fast mit "Barmherzigkeit", "Liebe", "Güte" und Gnade Gottes zusammen... Die Gnade steht außerhalb des Gesetzes, außerhalb der Werke! Darum kann hier Gott nur "allein durch den Glauben" recht gegeben werden. Der Mensch wird nicht durch seine Taten oder Werke .. gerecht, sondern "allein aus Glauben".

...Später in der Übersetzung des Römerbriefes hat Luther anstatt "Gerechtigkeit Gottes" übersetzt "die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt". Er wollte damit verhindern, daß "Gerechtigkeit Gottes" im klassischen philosophischen oder katholischen Sinn mißverstanden wird.



Paulus liebt Genitive, so scheint es mir. Manchmal ist es geradezu ärgerlich, dass die griechische Sprache so viele Übersetzungsmöglichkeiten zulässt...


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@Marcus: Danke für die Lesetipps. Übrigens war das Frl. Heinemann ehedem Klassenbeste in einer ansonsten reinen Jungsklasse. Verliebt hat sie sich in ihren Banknachbarn Ranke, der so wunderbar Homer übersetzen konnte...
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Re: Röm 3,21

Beitragvon marcus03 » Sa 2. Apr 2016, 07:24

Roxane hat geschrieben:Der Mensch wird nicht durch seine Taten oder Werke .. gerecht, sondern "allein aus Glauben".


Was soll man sich darunter konkret vorstellen? Was heißt "allein aus Glauben"?
Was ist ein Glaube ohne Werke? Ist der nicht unglaubwürdig? :?

Die Rechfertigungslehre gehört zu den wohl schwierigsten theol. Problemen und ist immer noch ein Hindernis auf dem Weg der Einigung innerhalb der christl. Kirchen. Das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern.
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Roxane » Sa 2. Apr 2016, 12:25

Hallo Marcus!

Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf.

Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. (Matthäus 5.17)

Nun, was Luther bewegte, war die Frage, wie der Mensch vor Gott gerecht werden konnte, wie er sich vor den Qualen der Hölle retten konnte. Jedenfalls nicht dadurch, wie die kath. Kirche meinte, dass man Geld im Kasten klingen ließ. Luther war der Meinung, der Mensch könne Gott gar nicht gnädig stimmen, nicht durch gute Werke und nicht durch den Kauf eines Ablassbriefes. Vielmehr sei Gott von sich aus gnädig, und zwar nicht nur bestimmten Personen gegenüber, nämlich denen, die nach dem Gesetz handeln, sondern gegenüber allen Menschen, sofern sie denn an ihn glauben...
Denn wer daran glaubt (darauf vertraut, pistis), dass Christus für ihn am Kreuz zur Vergebung seiner Sünden gestorben ist, so Luther, der wird versuchen, Gottes Gebote einzuhalten.

Prudentius, du kannst jetzt weiter machen, wenn du Lust hast...


:stretch:
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Prudentius » Sa 2. Apr 2016, 16:02

Roxane hat geschrieben:...bin ich nun bei Paulus angelangt und zwar bei Röm 3, 21 (-26).
... meine erste Frage wäre, ob das δικαιοσύνη θεοῦ eher als Gen. orig. oder doch als Gen. poss. zu deuten ist.


Hallo alle miteinander,

ich würde das nicht nur vom Gen. her aufrollen, sondern auch vom Subst., δικαιοσύνη Gerechtigkeit ist ein Relationsbegriff, da sind immer zwei im Spiel, A ist gerecht gegenüber B, oder B ist gerechtfertigt vor A, es ist von Rechtfertigung die Rede, wie die vorausgehende Partie, bes. 20 zeigt; Paulus ist ja dabei, eine christliche Positionslinie innerhalb des Judentums aufzubauen, oder, wenn man höher greifen will, das Christentum ist dabei, sich selbst zu erfinden, d.h. Fundamente zu legen, auf denen sich eine Weltreligion über den engen jüdischen Rahmen hinaus aufbauen lässt.

Ich bin jetzt mal weg und komme gleich wieder, :) P.
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Prudentius » Sa 2. Apr 2016, 16:38

marcus03 hat geschrieben:Die Rechfertigungslehre gehört zu den wohl schwierigsten theol. Problemen und ist immer noch ein Hindernis auf dem Weg der Einigung innerhalb der christl. Kirchen. Das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern.


Das glaube ich nicht, halte es eher für ein obsoletes Problem; darüber macht sich heute niemand mehr ein Kopfzerbrechen; die Kirchen haben ja vor lamger Zeit schon mühsam ein Kompromisspapier erarbeitet, aber mit dem Ergebnis waren weder die einen noch die anderen glücklich, und die ganze Frage ist in der Versenkung verschwunden, es hat niemand mehr Lust, etwas dazu beizutragen.

Was heute die schwierigsten theol. Probleme sind: Wie kann sich das Christentum innerhalb eines aufgeklärten wissenschaftlichen Weltbildes positionieren?

lgr. P. :)
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Re: Röm 3,21

Beitragvon marcus03 » Sa 2. Apr 2016, 18:19

Prudentius hat geschrieben:Was heute die schwierigsten theol. Probleme sind: Wie kann sich das Christentum innerhalb eines aufgeklärten wissenschaftlichen Weltbildes positionieren?


Stimmt. Das Problem wird sich zudem verschärfen - nicht nur wegen der zu erwartenden umfassenden Erklärung des Kosmos und dessen Letztursachen,sondern auch der Frage, welchen Beitrag das Christentum überhaupt noch zu leisten vermag bei der Lösung mittlerweile unüberschaubarer, globaler Herausforderungen, die die Zukunft der Menschheit und des Planeten Erde mehr denn je bedrohen.
Mit der Aufforderung zum Beten, zu (naivem) Gottvertrauen und mit bloßen, gebetsmühlnartigen Aufrufen zur Solidarität und zu gelebter Mitmenschlichkeit wird es sicher keinen Blumentopf gewinnen.
Denn für eine echte Metanoia, ein essentieller und richtiger Grundgedanke im Christentum, mit all ihren praktischen Konsequenzen ist es vermutlich längst zu spät.
Was bleibt ist nur noch das paulinische Hoffen wider alle Hoffnung oder wie Heidegger meinte: Nur ein Gott kann uns noch retten. Und dessen Existenz ist heute, naturwissenschaftlich betrachtet, fraglicher als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Ein Deismus und wohl noch weniger ein Theismus scheinen als Erklärungsmodell heute und in Zukunft rational vermittelbar.
Auch was das Phänomen LIEBE angeht, wird die Hirnphysiologie noch ernüchternde Erkenntnisse zeitigen und die Theorien der Evolutionsbiologie und Anthropologie untermauern.
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Prudentius » So 3. Apr 2016, 10:00

Nun aber hat sich ohne ein Gesetz* Gerechtigkeit von Gott (Gen. orig.) offenbart


Hallo Roxane,

- "ein Gesetz", lieber das Gesetz, es ist ja die Thora, etwas Bestimmtes; "außerhalb des Gesetzes";

- auch die Gerechtigkeit mit bestimmtem Artikel, mit dem Genitivattribut so wie es ist: "die Gerechtigkeit Gottes", possessiv; traditionell verstanden; in der von Paulus neu eingeführten Sicht ist es dann mehr die Rechtfertigung vor Gott.

- Lass das Passiv wie es ist: "Die Gerechtigkeit... ist offenbart worden", nicht reflexiv-medial übersetzen! Das phaneroo ist ja ein theologischer Terminus, wie bei "Epiphanie", das Erscheinen, Sichtbarwerden für menschliche Augen.

Paulus will sich hier gegen die "Werkgerechtigkeit" der Juden absetzen (Pharisäer!), er zielt aber auch gegen judaisierende Christen, die sich um Petrus sammelten.

Luther aktualisiert den Paulus im Blick auf den Ablassmissbrauch der damaligen Kirche; ich würde den Tetzel-Spruch nicht als katholische Ansicht ansehen; Luther selber verstand sich ja noch als Katholik; der Thesenanschlag war sicherlich das Gründungsereignis der Reformation, aber zugleich war er auch ein innerkatholischer Vorgang, er reiht sich ein in auch andere Reformansätze der Zeit; so gehört etwa die franziskanische Armutsbewegung in diesen Zusammenhang.
Wenn man die Geschichte ansieht: Luther ist ja noch lange im Schoß der Kirche verblieben: 1517 Thesenanschlag; noch 1530, beim Reichstag in Augsburg, liefen Vermittlungsbemühungen ("Confessio Augustana"); die päpstliche Bannbulle gegen Luther war nur persönlich gegen ihn gerichtet. Erst mit dem Schmalkaldischen Krieg und dem Konzil von Trient, nach 30 Jahren, war das Band abgeschnitten.

Der Besuch von Papst Benedikt in Wittenberg war ja nur von einem sehr lauwarmen ökumenischen Feuer getragen - leider.

Genug gepredigt, schönen Sonntag, lgr P. :)
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Roxane » Mo 4. Apr 2016, 10:22

Seid gegrüßt alle miteinander!

Zunächst vielen Dank für eure Erläuterungen! Schimpft bitte nicht, was jetzt kommt ist viel zu viel und gehört längst nicht alles in ein Griechischforum. Aber es war alles so spannend, was ich gestern noch zum Thema gefunden habe bzw. was ich neulich schon anlässlich einer Stadtführung durch Leipzig herausgesucht hatte! Daher, wer lesen mag, der lese:


Leipzig, Pleißenburg (Wer Leipzig nicht kennt: Der Turm der Burg ist erhalten geblieben, heute Rathausturm, sehr imposant!) Sommer 1519:

Luther, Melanchthon und Karlstadt waren der Einladung Herzog Georgs von Sachsen zu einer Disputation gefolgt, die beweisen sollte, dass sich die Reformatoren auf einem Irrweg befanden. Luther war vor allem wegen des Ablasshandels des in Leipzig tätigen Dominikaners Johannes Tetzel in Rage gebracht worden. Als Kontrahent der Wittenberger war der bekannte Ingolstädter Theologe Johannes Eck nach Leipzig gekommen. Eck verteidigte vehement die Lehrautorität von Papstamt und Konzilien und deren Unfähigkeit zu irren. Schließlich wurde auch über die Autorität des Konzils disputiert. Luther behauptete, dass auch Konzilien irren könnten und er beharrte, dass allein aus der Schrift die Ansprüche des Papstes nicht zu begründen seien. Im Saal kam es zu einem Tumult...

<Eck gab solange keine Ruhe, bis er in Rom die Bannbulle gegen Luther durchgesetzt hatte, mit welcher er 1520 triumphirend nach Deutschland zurück kam. Diese päpstliche Bulle erklärte Luther geradezu für einen Ketzer, untersagte die Lesung seiner Schriften bei Strafe des Kirchenbanns, und drohete, in dem Fall, daß Luther in Zeit von 60 Tagen seine Irrthümer nicht feierlich widerrufen würde, ihn für einen Bösewicht zu erklären, den jedermann tödten oder wenigstens gefangen nehmen, und an den Papst ausliefern könne.

Eck erhielt den Auftrag, diesen päpstlichen Befehl bekannt zu machen und in Ausübung zu bringen. Doch er war mit seiner Bannbulle überall der Gegenstand des Spottes, besonders der Studenten zu Erfurt und Leipzig. In ersterer Stadt wurde die Bulle in Stücken zerrissen, und ins Wasser geworfen; in Leipzig mußte sich Eck sogar in einen Schornstein verkriechen, um von den Studenten, die ihn aufsuchten, nicht todtgeschlagen zu werden. Bei Nacht und Nebel mußte er sich aus Leipzig davon schleichen. Die angeschlagene Bulle wurde mit Koth beworfen.
Nun verfuhr Luther ganz öffentlich und ohne Schonung gegen den Papst, da man gegen ihn auch keine bewies. Seine Schriften wurden auf Betrieb des Papstes verbrannt. Luther wollte daher auch etwas thun, was dem großen Haufen in die Augen fiel. Er ließ also vor dem Thore zu Wittenberg einen kleinen Scheiterhaufen errichten (1520 den 10. Decbr.) und verbrannte die päpstlichen Befehle und die wider ihn erlassene Bannbulle öffentlich. Zu dieser Feierlichkeit, die früh 9 Uhr statt fand, hatte er die ganze Universität Wittenberg eingeladen, die auch zahlreich erschien. Freilich konnte dadurch an sich wenig gewonnen werden; aber er wollte damit kund thun, daß von nun an eine Aussöhnung mit dem Papst kaum mehr denkbar sey...>

http://www.fn-saalfeld.info/die-verbren ... bannbulle/



Zu Römer 3,31: Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf.

Dazu Luther in seiner Vorrede zum Römerbrief:

<Sie (die Epistel) ist es wohl würdig und wert, daß sie ein Christenmensch nicht nur von Wort zu Wort auswendig wisse, sondern daß er auch täglich damit als mit täglichem Brot der Seele umgehe. Denn sie kann nimmer zu viel und zu gründlich gelesen oder betrachtet werden. Je mehr sie behandelt wird, um so köstlicher wird sie und schmeckt sie. Darum will ich auch meinen Dienst dazu tun und will durch diese Vorrede, so viel mir Gott verliehen hat, eine Einleitung dazu geben, damit sie von jedermann umso besser verstanden werde.....

Zuerst nun müssen wir der Sprache kundig werden und wissen, was St. Paulus mit den Worten: Gesetz, Sünde, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Fleisch u. dergleichen meint. Sonst nützt kein Lesen darin.

Gesetz: Das Wörtlein Gesetz mußt du hier nicht nach menschlicher Weise verstehen, als ob es eine Lehre darüber sei, was für Werke zu tun oder zu lassen sind. Mit Menschengesetzen geht es so, daß man dem Gesetz mit Werken genug tut, wenn auch das Herz nicht dabei ist. Gott dagegen richtet nach des Herzens Grund. Darum fordert auch sein Gesetz des Herzens Grund. Er läßt sich an Werken nicht genügen, sondern straft vielmehr die Werke, die ohne des Herzens Grund getan sind, wie Heuchelei und Lügen. Daher heißen alle Menschen Lügner, Psalm 116, darum, weil keiner aus Herzensgrund Gottes Gesetz hält noch halten kann. Denn jedermann findet bei sich selbst Unlust zum Guten und Lust zum Bösen. Wo nun nicht freie Lust zum Guten ist, da ist des Herzens Grund nicht am Gesetz Gottes. Da ist denn gewißlich auch Sünde und Zorn bei Gott verdient, obgleich auswendig viel guter Werke und ehrbares Leben scheinen.....
Denn obwohl du äußerlich das Gesetz mit Werken hältst, aus Furcht vor Strafe oder aus Liebe zum Lohn: so tust du doch das alles ohne freie Lust und Liebe zum Gesetz, vielmehr mit Unlust und Zwang. Du möchtest lieber anders handeln, wenn das Gesetz nicht wäre. Daraus folgt, daß du von Herzensgrund dem Gesetze feind bist....
So gewöhne dich nun an die Rede, daß es etwas ganz anderes ist, des Gesetzes Werke tun, als: das Gesetz erfüllen. Des Gesetzes Werk ist alles, was der Mensch aus seinem freien Willen und eigenen Kräften am Gesetz tut oder tun kann. Weil aber unter und neben solchen Werken im Herzen Unlust und Zwang zum Gesetz bleibt, so sind solche Werke alle verloren und nichts nütze. Das meint St. Paulus Kap. 3, wo er sagt: Durch Gesetzeswerk wird vor Gott kein Mensch gerecht. Daher siehst du nun, daß die Schulzänker und Sophisten* Verführer sind, wenn sie lehren, sich mit Werken zur Gnade zu bereiten. Wie kann sich einer mit Werken zum Guten bereiten, der kein gut Werk ohne Unlust und Unwillen im Herzen tut? Wie wird Gott Lust an einem Werke haben, das aus einem unlustigen und widerwilligen Herzen kommt? Aber das Gesetz erfüllen, das heißt: mit Lust und Liebe seine Werke tun und frei, ohne des Gesetzes Zwang, göttlich und fromm leben, als gäbe es kein Gesetz oder Strafe. Diese Lust freier Liebe aber gibt der Heilige Geist ins Herz, wie es heißt Kap. 5. Der Geist aber wird nur in, mit und durch den Glauben an Jesus Christus gegeben, wie es in der Einleitung heißt. So kommt der Glaube nur allein durch Gottes Wort oder das Evangelium, das von Christus predigt, wie er ist Gottes Sohn und Mensch, gestorben und auferstanden um unsertwillen....>

* siehe S. 180ff: https://homepage.univie.ac.at/henning.s ... chrift.pdf

<Daher kommt es, daß allein der Glaube gerecht macht und das Gesetz erfüllt. Denn er bringt aus Christi Verdienst den Geist. Der Geist aber macht ein Herz voller Lust und ein freies Herz, wie das Gesetz es fordert. So gehen denn die guten Werke aus dem Glauben selber hervor. Das ist gemeint Kap. 3, wo des Gesetzes Werke verworfen waren, so daß es lautet, als wolle er das Gesetz durch den Glauben aufheben. Nein, sagt er, wir richten das Gesetz durch den Glauben auf, das heißt: wir erfüllen es durch den Glauben....

Glaube: Aber Glaube ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott und den alten Adam tötet, aus uns ganz andere Menschen in Herz, Gemüt, Sinn und allen Kräften macht und den heiligen Geist mit sich bringt. O es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß es unmöglich ist, daß er nicht ohn Unterlaß Gutes wirken sollte....

Gerechtigkeit: das ist nun solcher Glaube. Sie heißt Gottes Gerechtigkeit, oder Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, darum weil Gott sie gibt und um Christi, unseres Mittlers, willen als Gerechtigkeit rechnet. Sie macht, daß der Mensch jedermann gibt, was er ihm schuldig ist. Denn durch den Glauben wird der Mensch ohne Sünde und gewinnt Lust zu Gottes Geboten.>

Weiteres in http://www.biblischelehre.de/Ausfuehrun ... rbrief.htm


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Re: Röm 3,21

Beitragvon Prudentius » Mi 6. Apr 2016, 08:10

νυνὶ δὲ χωρὶς νόμου δικαιοσύνη θεοῦ πεφανέρωται.
,

Röm 3:21. Das ist eine ganz gewichtige Aussage, eine feierliche Unabhängigkeitsdeklaration des Christentums gegenüber dem Judentum; das Gesetz, nomos, Thora, das für die Juden uneingeschränkte Autorität besitzt, wird heruntergestuft, wird an die zweite Stelle gesetzt. Paulus formuliert hier als Dogmatiker das, was Jesus praktisch vorgelebt hat: die Bevorzugung des reumütigen Zöllners gegenüber dem thoratreuen Pharisäer, das Beispiel des barmherzigen Samariters gegenüber dem vorübergehenden Thoragelehrten, die Aussetzung der Steinigung der Ehebrecherin, die Relativierung des Sabbatgebotes, usw.

"Nomos", Gesetz, ist wohl die Übesetzung der Septuaginta von hebr. "thora", und dazu ergeben sich Fragen: die Juden sagen uns, dass diese Identifizierung nicht stimmt, es bedeute "Weisung", aber wieder nicht wie bei uns verwaltungsmäßig, als verbindliche Anordnung, sondern Weisung als Wegweisung, als Richtungsempfehlung. In der Praxis aber wurden die Weisungen als Vorschriften gehandhabt.

Bei Paulus liegt hier eine Weichenstellung vor; der Leser kann kaum "objektiv" über Wahrheit urteilen, er kommt nicht umhin, sich selber zu positionieren; "Farbe bekennen" heißt es - während wir Philologen uns allerdings heraushalten :-D und uns auf die objektive Wissenschaft berufen und auch so eine Äußerung literarisch und historisch einordnen.

Hallo Roxane, auf Luther komme ich dann auch noch, hallo Marcus, auf die Perspektiven der modernen Wissenschaft komme ich auch noch, aber jetzt brauche ich erst einmal Bewegung :hail: , ich mache mich auf den Spaziergang,


lgr. P.
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Roxane » Mi 6. Apr 2016, 13:10

Da sind wir mal gespannt, Prudentius!

Unterdessen lese ich noch ein bisschen dieses und jenes nach, etwa

- über die Übersetzung des hebr. "tora": <Die Übersetzung von 'Tora' mit dem falschen Begriff 'Gesetz' ist via der griechischen (Koiné) aus der hebräischen Sprache gekommen. Dass dabei Übersetzungsfehler entstanden sind, liegt auf der Hand. Dass man damals 'Tora' mit 'Nomos' übersetzt hat, ist nicht unbedingt falsch, denn auch dieses Wort kann verschiedene Bedeutungen haben, z.B. Ordnung, Gebrauch, Herkunft, Weise, Recht. In der Philosophie bedeutet es: Satzung, Brauch, positives Recht im Gegensatz zum göttlichen Recht (dike). Wie auch immer, beim Übersetzen muss man die damalige soziokulturelle Umwelt betrachten. Die Begriffe 'Tora', 'Nomos' und 'Gesetz' stammen nicht nur aus verschiedenen Kulturen, sondern auch aus total verschiedenen Sprachgruppen. Deshalb ist es wichtig, zu der ursprünglichen Bedeutung und ihrem Kontext zurückzukehren. Aus diesem Grund untersuchen wir zuerst das hebräische Wort 'Tora'.
Etymologisch ist das Wort 'Tora' identisch mit dem babylonischen têrtu »Orakel« und bedeutet ursprünglich 'Anleitung', 'Wegweiser', 'Unterricht'...>


- über Seneca und die Nächstenliebe: <Hilfe in Notsituationen war in der antiken Umwelt der ersten christlichen Gemeinden zwischen dem ersten und dritten Jahrhundert keinesfalls selbstverständlich. Die Römer hatten kein Verständnis dafür, dass man Bettler, die weder Kleidung, Wohnung, Arbeit noch Nachkommen hatten, mit Almosen am Leben hielt. Der Philosoph Seneca († 65) meinte sogar, dass es besser sei, einem solchen Menschen keine Brotkruste zu geben, da dies nur sein Leiden verlängern und damit seine Freiheit zum Sterben nehmen würde. Die Nächstenliebe der Christen wurde anfänglich sogar verspottet.> Au weia!


- über die Spaltung der Jerusalemer Gemeinde: <Unter der Führung eines leiblichen Bruders von Jesu, Jakobus, entstand ein 'judenchristlicher Kreis'. Er hielt streng am jüdischen Gesetz fest, verlangte die Beschneidung und sah in Jesus lediglich einen durch die Auferstehung göttlich legitimierten Propheten.
Einen weiteren Kreis sammelte der Jünger Petrus um sich. Seine Mitglieder sahen in Jesus den Messias, auf dessen baldige Wiederkunft sie hofften. Die Verkündung der Auferstehung war für sie wichtiger als die Lehre Jesu.
In der dritten Gruppe sammelten sich die 'Hellenisten' oder 'Griechen'. Aus dem Messias Jesus wurde in Analogie zu den bestehenden Mysterienkulten der leidende und auferstehende Erlösergott. Der Führer der Gruppe, Stephanos, wurde in einem von jüdischen Staatsorganen begünstigten Volkstumult gesteinigt. Nach seinem Tod zerstreute sich die Gruppe in die griechischen Großstädte.
Alle drei Gruppen missionierten von Anfang an. In der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts gab es mindestens drei größere christliche Gemeinden außerhalb Palästinas (Antiocheia, Alexandria, Korinth). Für die Gemeinde in Rom ist das älteste Zeugnis das Judenedikt des Kaisers Claudius. Tacitus schreibt in seinen Annalen (15,44): "Er [Claudius] trieb die Juden aus der Stadt aus, die auf den Impuls eines 'Chrestos' hin beständig Aufruhr stifteten".>


- Zu Luther: Der Luther kann einen schon ganz schön ins Grübeln bringen mit seinem "Du möchtest lieber anders handeln, wenn das Gesetz nicht wäre". Unsinn, denke ich mir, möchte ich doch sowieso nicht, stehlen etwa oder ehebrechen. Oder wie käme ich dazu, jdn. zu töten? Dann fiel mir der Fall Marianne Bachmeier ein, die, obwohl es ein Gesetz gab, plötzlich Lust zum Bösen hatte, weil nämlich jemand anders Lust gehabt hatte, ihre Tochter zu töten. M. Bachmeier war eine unbescholtene Frau, bis sie den Mörder ihrer Tochter erschossen hat.
Jedermann findet bei sich selbst Unlust zum Guten und Lust zum Bösen, hat Luther gesagt. Jedermann ist im Extremfall in der Lage, einen Menschen zu töten, hat einmal, so habe ich es mir erzählen lassen, ein Strafrechtler in einer Juravorlesung behauptet.
Hat hier sonst noch jemand eine Tochter?



:stretch:
Roxane

PS: Bitte überseht den Ioscius nicht, er hat gerade eine Frage gestellt und ich habe ihn verdrängt....
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Prudentius » Mi 6. Apr 2016, 16:05

marcus03 hat geschrieben:... Das Problem wird sich zudem verschärfen - nicht nur wegen der zu erwartenden umfassenden Erklärung des Kosmos und dessen Letztursachen,...


Hallo allerseits,

du bist ja sehr optimistisch, ich neige eher zur Skepsis, der Wissenschaftsoptimismus blühte ja zuletzt im sogen. "Wiener Kreis", bis 1938, der bekannteste Vertreter war Rudolf Carnap, er ging dann nach Amerika und machte dort die "Analytische Philosophie" populär, die ja bis heute vorherrschend ist, wenn auch irgendwie versandet; etwas mit dem Kreis verbunden waren auch Popper und Wittgenstein.
Aber dieser ganze Ansatz ist gescheitert, die Hoffnungen auf die "umfassende Erklärung des Kosmos" wurden enttäuscht; das wurde auch aktenkundig gemacht, Gödel bewies 1931, dass es unmöglich ist, ein universales Ableitungssystem widerspruchsfrei aufzustellen; man musste einsehen, jedes System greift über sich hinaus, basiert auf etwas, das außerhalb liegt.

Für die zu erwartenden Beiträge der Wissenschaft zur Religion haben wir allerdings schon lange einen Vorgeschmack bekommen, sie fallen alle unter das Stichwort "Reduktionismus", d.h. sie verwenden die "Formel "... ist nichts als ..."; Karl Marx: "Religion ist nichts als Opium für das Volk", S. Freud: "Der Philosoph ist nichts anderes als ein Mann, der keine Frau gefunden hat und nun die ganze Welt umarmt", derselbe: "Christliche Liebe heißt alle lieben, d.h. niemanden wirklich lieben".

Ich finde für uns immer noch bedenkenswert, was unser Cusanus meinte: "Ignoramus, ignorabimus", und "docta ignorantia".

Wir sollten auch im Auge behalten, was der Darwinismus/Evolutionismus für einen kulturellen Kahlschlag bedeutet: Weg mit Metaphysik, Religion, Philosophie, Ethik, Kunst, Geschichte, Musik, Literatur!

:)
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Prudentius » Do 7. Apr 2016, 09:50

- Auch noch zu Luther:
Ebenso wie die Paulusstelle das Gründungsdokument des Christentums war, war auch die Luthersche Auslegung und Anwendung dieser Stelle im Zusammenhang mit der Werkgerechtigkeit das Gründungsdokument der Reformation und der reformatorischen Kirchen, und es hat sich eben der große Baum des Christentums um eine Verästelung bereichert, also so möchte ich es ausdrücken (ex officio philologi :-D ); und ebenso wie bei Paulus ergibt sich für den objektiven Beobachter auch eine zweite Sicht; dort war es die Stellungnahme der Juden, hier ist es die Bewertung der Werkgerechtigkeit bei den Katholiken, die sich durch Tetzel nicht richtig repräsentiert sehen.
Zu Tetzel habe ich übrigens gelesen, dass Luther ihm, als er sterben musste, einen Trostbrief geschrieben hat; es ist aber auch zu beobachten, dass Luther sich mit seiner Bewertung der Werke im Protestantismus nicht allgemein durchgesetzt hat; die Calvinisten/Reformierten haben ganz anders argumentiert; sie gingen von der Prädestinationslehre aus, dass Gott also seine Auserwählten erlöse, und dass er diesen auch schon im diesseitigen Leben Wohlstand und Erfolg gewähre; sodass also beim Gericht die Gottesboten schon von weitem sähen, wer der Auserwählte sei; das führte dazu, dass die Reformierten ganz allgemein eine rege Aktivität entfalteten, um ja möglichst schon von weitem als erfolgreiche Gottgeliebte erkennbar zu werden; so hatten die Reformierten also einen Stimulus zum Wirken, während die Lutheraner leicht träge werden konnten: man braucht sich ja keine Beine auszureißen, wenn es nicht auf Werke ankommt.
Dieser Unterschied hatte damals Konsequenzen: Das brandenburgische Fürstenhaus, die Hohenzollnern, wechselte vom lutherischen zum reformierten Glauben, weil dieser dem Staate förderlicher sei; so begann der Aufstieg des Hauses Hohenzollern, und das arme sandige Brandenburg überholte bald das reiche, lutherische Sachsen; und hat Konsequenzen bis heute: die USA als reformiert geprägte Gesellschaft sind mit ihrer Neuerungsbereitschaft und Entwicklungsfreudigkeit zur Weltmacht Nr. 1 geworden.
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Re: Röm 3,21

Beitragvon Roxane » Fr 8. Apr 2016, 11:10

Hallo Prudentius!

Was du schreibst, ist alles sehr inspirierend, wie du siehst. Eigentlich wollte ich ja längst weiter übersetzen, aber jetzt bin ich bei Luther hängen geblieben...
In diesem Trostbrief hat Luther, wie ich lese, den Tetzel gebeten, seine Kritik nicht persönlich zu nehmen.


Sola scriptura
Luther wollte sich nur an der Bibel als Gottes Wort orientieren. Menschliche Autoritäten, wie z.B. die Kirchenväter, enttäuschten ihn.
<Daraus entwickelte sich zunehmend die Kirchenkritik Luthers:
Die Papstkirche dürfe sich nicht selbstherrlich anmaßen, die alleinige Vollmacht, die Bibel auszulegen, zu besitzen. Vielmehr müsse die Bibel die Kirche auslegen,. ..Seit 1517 wird Luther radikal kirchenkritisch und bestreitet jegliche päpstliche Autorität....

So auch Melanchthon: »In Glaubensfragen haben die Päpste, die Konzilien und die gesamte Kirche kein Recht, etwas zu verändern oder festzulegen, sondern die Artikel des Glaubens müssen schlicht und einfach an der Vor- schrift (Urschrift) der Hl. Schrift überprüft werden.« (Melanchthon, Loci Communes 1521)....


Solus Christus
Einer der zentralen Kritikpunkte der Reformatoren richtete sich auch gegen die spätmittelalterliche Heiligenverehrung und Marienfrömmigkeit. Für bestimmte Notlagen betete man zu je anderen Heiligen, Maria wurde intensiv um Hilfe angerufen, ihrer mütterlichen Fürsorge konnte man leichter die eigenen Sorgen anvertrauen als dem fernen Gott. Die Verdienste und die Fürsprache der Heiligen und Mariens sollten dazu beitragen, dass Menschen der göttlichen Gnade teilhaftig wurden.

Die Reformatoren kritisierten diese Anrufung anderer Mittler zu Gott, weil durch Christus allein und ausreichend Heil erwirkt worden sei... Kein bloßer Mensch, auch nicht diejenigen, die man Heilige nenne, erfüllten Gottes Gebote in ausreichender Weise. Sie seien genauso Sünder wie alle anderen Menschen auch. Deshalb dürften sie auch nicht angebetet oder um Hilfe angerufen werden. Nur auf Gott, wie er sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben habe, solle sich der Glaube richten:

»Durch die Schrift mag man aber nicht beweisen, daß man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. ›Denn es ist allein ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und Menschen, Jesus Christus‹ ...« (Confessio Augustana, Art. 21).

Die Reformatoren lehnten auch die damalige Vorstellung von einem »Schatz der Kirche« ab, in dem, wie es hieß, die Verdienste Christi und der Heiligen gesammelt waren und aus dem die Kirche den Sündern etwas austeilte, das ihnen als gute Werke oder Buße angerechnet wurde.

»Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.« (Luther, Disputation zur Klärung der Kraft der Ablässe« These 62).


Sola gratia
Die Kirche lehrte in dieser Zeit, dass man durch das Sakrament der Buße und die Bitte um Vergebung der Sünden zwar der ewigen Sündenstrafe, der Verdammnis der Hölle, entgehe. Doch müsse man weiter die von Gott aufgrund der Sünde verhängten zeitlichen Sündenstrafen wie Krieg, Krankheit oder Fegefeuer erdulden. Nur durch das Ertragen dieser Strafen werde der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan.
Verrichtet der Gläubige jedoch die ihm vom Priester bei der Beichte auferlegten religiösen Werke, dann kann er die zeitlichen Sündenstrafen minimieren. Auf genau diese zeitlichen Sündenstrafen richtete sich das damalige Ablasswesen. Es enthielt das kirchliche Versprechen, wer Buße tue und dann einen Ablass kaufe, dem würden die zeitlichen Sündenstrafen erlassen.
Die Bevölkerung wurde in Predigten zum Kauf der Ablassbriefe aufgefordert. Für jede Sünde, für jedes Verbrechen war ein bestimmter Geldbetrag vorgesehen, gegen dessen Bezahlung man Absolution erhielt.. Seit dem Jahr 1517 hatte der Erzbischof das Ablassgeschäft auf den Dominikaner Johann Tetzel übertragen. Tetzel lehrte, so schrieb Luther später, der Ablass wäre die "Versöhnung zwischen Gott und den Menschen" und auch dann wirksam, wenn der Mensch "weder Reue noch Leid oder Buße täte." ...

Die Reformatoren argumentierten: Gottes Gnade reicht, Gott vergibt dem Menschen, der Mensch wird nicht mehr bestraft.... Sie kritisierten mit dem »allein aus Gnade«, was sie in ihrer Zeit als »Werkgerechtigkeit« wahrnahmen, also jeden Versuch von Menschen, durch ihr eigenes Tun Anerkennung von Gott zu erwirken.

»Ist’s aber aus Gnaden, so ist’s nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein« (Römer 11,6)...

Die Reformatoren richteten sich gegen die Vorstellung der damaligen Zeit, manche Menschen, nämlich die Angehörigen des geistlichen Standes, die Priester, Nonnen oder Mönche, könnten sich durch ihr besonderes Leben und die Einhaltung von Gelübden ein besonderes Verdienst bei Gott erwerben...

Luthers Meinung nach hat jeder Glaubende unabhängig von Stand oder Bildung einen unmittelbaren und direkten Zugang zu Gott, daraus folgt aber, daß jeder die Vollmacht besitzt, über die Kirche und über den Wahrheitsgehalt ihrer Lehre zu urteilen..

»Man hat erfunden, dass Papst, Bischof, Priester, Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, welches gar eine feine lügnerische Erfindung und Schein ist; doch davon soll sich niemand einschüchtern lassen, und das aus dem Grund: Denn alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und es gibt unter ihnen keinen Unterschied.....« (Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung)

Dass Gott gnädig ist, heißt nicht, dass die Verfehlungen oder Schandtaten eines Menschen irrelevant sind.
Glaube ist aber zugleich immer auch tätiger Glaube, da er durch den Heiligen Geist ohne Zwang

»willig und lustig wird, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden« (Luther, Vorrede auf den Römerbrief 1522).

Gute Werke entstehen sozusagen ganz selbstverständlich, quasi automatisch aus dem Glauben...In seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" schrieb Luther, ein Glaube, der nicht spontan gute Werke hervorbringe, sei gar kein Glaube.


In Genf breitete sich eine ganz andere Spielart der Reformation aus. 1535 schrieb der Franzose Johannes Calvin die erste Fassung seines Hauptwerks, einen systematischen Abriss seiner Dogmatik. Nur wer ausschließlich seine Pflichten erfülle und auf jegliches Vergnügen verzichte, dürfe hoffen, erlöst zu werden. Der Rat der Stadt Genf erließ 1541 eine von Calvin verfasste Kirchenordnung. Streng überwachte das aus Gemeindeältesten und Pfarrern zusammengesetzte Presbyterium den Lebenswandel der Bürger und ließ Verstöße nicht selten mit der Todesstrafe ahnden.


Sola fide
Entscheidend für Luther wurde eine Stelle im Römerbrief. Nach dem dort stehenden Text (1,17) ist 'Gottes Gerechtigkeit' nicht die des zürnenden und strafenden Gottes:

Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben steht (Hab. 2,4): "Der Gerechte wird aus Glauben leben".

Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich als Gnade und Liebe. Sie kann durch eigenes Wollen nicht erworben werden. Gott kann also den Sünder gerecht machen; seine Gnade ist ein Geschenk an diejenigen, die sich als Glaubende begreifen (sola fide).>


So spannend das auch alles ist, ich muss jetzt mal was anderes machen....

Schönes Wochenende!

:stretch:
Roxane

PS: Ach du Schreck, ist das viel geworden. Habt Gnade mit mir...
Roxane
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