Ilias, 24. Gesang - Thema "Mitleid"

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Ilias, 24. Gesang - Thema "Mitleid"

Beitragvon Ioscius » So 8. Jan 2017, 22:58

Hallo,

kennt ihr Passagen im 24. Gesang der Ilias, wo es um das Thema "Mitleid" geht/ gehen könnte?

Danke!
Viele Grüße,
Ioscius
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Re: Ilias, 24. Gesang - Thema "Mitleid"

Beitragvon Willimox » Mo 9. Jan 2017, 09:42

Gewiss doch die große Szene zwischen Achill und Priamos bei der Bitte um Leichenherausgabe (5oo ff):

τὸν σὺ πρῴην κτεῖνας ἀμυνόμενον περὶ πάτρης
Ἕκτορα· τοῦ νῦν εἵνεχ’ ἱκάνω νῆας Ἀχαιῶν
λυσόμενος παρὰ σεῖο, φέρω δ’ ἀπερείσι’ ἄποινα.
ἀλλ’ αἰδεῖο θεοὺς Ἀχιλεῦ, αὐτόν τ’ ἐλέησον
μνησάμενος σοῦ πατρός· ἐγὼ δ’ ἐλεεινότερός περ,
...


Man vergleiche auch Wolfgang Petersen:

https://m.youtube.com/watch?v=R9JflLov1bY

Nach der (blöden) Werbung die Szene bei Petersen.
Petersen hatte als Schüler Griechisch. Seine Gestaltung der Szene im Film
verdient - meine ich - hohen Respekt. Ebenso David Benioff für das Skript.

SPIEGEL: Das muss dann so grell und pompös sein wie möglich?
Petersen: Nein, das Spektakel ist zum Glück nicht alles. Meine Lieblingsszene ist die einfachste im ganzen Film: als der von Peter O'Toole gespielte König Priamos zu Achilles ins Zelt kommt und um die Leiche seines Sohnes bittet. Das Zelt hatten wir im Ballsaal eines großen Hotels im mexikanischen Cabo San Lucas aufgebaut. Trotz des ganzen Trubels und der Hitze draußen herrschte im Saal zwei Tage lang volle Konzentration. Es war totenstill.


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Re: Ilias, 24. Gesang - Thema "Mitleid"

Beitragvon Ioscius » Mo 9. Jan 2017, 20:51

Vielen Dank!

Ich soll dies mit Käte Hamburgers Verständnis von Mitleid vergleichen; nach ihr handelt es sich beim Mitleid um ein ethisch neutrales Phänomen, das unpersönlich ist und im Gegensatz zur Tat steht. Denn tätige Barmherzigkeit ist nach ihr nicht Mitleid. So weist sie auch darauf hin, dass es keine Barmherzigkeits-Ethik gibt, bloß eine Mitleids-Ethik. „Weil Barmherzigkeit ein problemloses, jeglicher Diskussion entzogenes Tun ist, das Mitleid sei hingegen nur eine höchst problematische seelische Verhaltensweise.“

Handelt es sich bei den griechischen Begriffen nun um Mitleid?
Ich käme dann zu dem Fazit, dass das Mitleid-Verständnis bei Homer ein entgegengesetztes ist: Im Gegensatz zu Hamburgers ethisch neutraler Bewertung des Mitleids zeigt es sich im 24. Gesang von Homers Ilias als notwendiges Gefühl, das die damit versehenen Personen zu moralisch unabdingbaren Handlungen verleitet, sowie als ein die ins Stocken geratene Handlung fortführendes Phänomen.

Vielen Dank für eure Verbesserungen/Ergänzungen/ Kritik!
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Re: Ilias, 24. Gesang - Thema "Mitleid"

Beitragvon Willimox » Mi 11. Jan 2017, 18:42

Nun ja, Hamburgers These lässt sich durchaus, wenn auch polemisch, als "unterkomplex" angreifen (ähnlich wie ihre Hinweise zum "epischen Präteritum").
Hier ein paar Ansätze....

Bild

(1) compassio

Kurz zur Semantik - der Begriff "Mitleid" bei Homer und bei Aristoteles (Rhetorik, Poetologie) und Späteren

- griech. eleos, oiktos, später auch sympateia,
- lat. commiseratio, compassio, misericordia,
- frz./engl. commiseration, compassion, pitié bzw. pity

fokussiert auf jeden Fall und einleuchtend bestimmte Komponenten:

- Einfühlung in ein unverdientes, unverhältnismäßiges, menschlich nachvollziehbares, nahes und insofern intensives Leid,
- oft zu beobachten als ein erster Affekt der Rührung und des mitleidenden Weinens,
- Primärstadium und Stimulus für ein oftmals zu beobachtendes Verhalten der Hilfe,
- sei es/sie "materiell", sei es/sie verbal tröstend und mit Zuwendung Leiden mildernd.
- Im Theater (z.B.) und seiner Welt zu beobachten, darin oft sich verströmend und abreagierbar.
-Aber eben doch fähig, die emotionale Disposition abzurufen, rational zu erweitern und dabei einen Sensibilisierungsprozess (zumindest) begleitend.


(2) Distanz und Mitleid

Hamburgers These von der "Distanz des Mitleids" lässt sich z.B. so hinterfragen:

a) Es mag sein, dass Mitleid weder hinreichend noch notwendig für Barmherzigkeits-Handeln ist, aber das macht in keiner Weise einen Zusammenhang genuiner Art hinfällig.
Man vergleiche eine analoge (absurde) Argumentation wie:

Eine schwierige, von Schlägen geprägte Kindheit ist keineswegs hinreichend oder notwendig für eine Traumatisierung im Leben des Erwachsenen. Weder entsteht immer aus einer miesen Kindheit ein traumatisiertes Erwachsenenleben. Noch entsteht nur bei einer miesen Kindheit eine Traumatisierung.
Also ist eine entsprechende Kindheit als lebenspraktisch neutral zu betrachten.

b) Das "mitleidige Lächeln", das Hamburger anführt, mag das Element "spöttische Distanz" besitzen, aber diese besondere Verwendungsart dürfte kaum mit der Hauptbedeutung von "mitleidig" zusammenfallen, es handelt sich eher um ein Randphänomen in einer Skalierung von "compassion".

In seiner positiven Variante meint es eine leicht spöttische, aber doch explizite Aggression vermeidende Reaktion auf ein bestimmte Ansprüche verfehlendes Verhalten. Der eigentliche Gegenbegriff, den es zu bedenken gäbe, wenn man "mitleidig" verstehen will, dürfte wohl "mitleidlos" sein. Ein Lächeln allerdings hat eine niedigere Verletzungs-Stufe als das Verlachen, insofern ist eine gewisse Schonung impliziert. Inwiefern hier der Vollbegriff "Mitleid" passt, ist sehr die Frage.

c) Will man den Zusammenhang von Mitleid und anderen Affekten mit davon stimuliertem Verhalten beiseite schieben, so tut man sich schwer, rhetorische Effekte zu erklären. Man denke etwa an die Antonius-Rede in "Julius Caesar": In einem komplexen rhetorischen Programm erzeugt Mark Anton Trauer und Mitleid, indem er das mehrfach durchbohrte Gewand Caesars und dessen Leichnam dem Auditorum präsentiert. Fern von jeder Barmherzigkeit natürlich stimuliert er Wut, Rache und gewaltsame Aktion gegen die Verschwörer.

Bild

Man denke an "Onkel Toms Hütte" und ihren Einfluss auf die Gesetzgebung der USA. Sogar Brechts Aversion gegen den Katharsiseffekt lässt sich als ein Hinweis darauf lesen, wie sehr er etwa in der "Mutter Courage" dramenpraktisch seine eigenen Überlegungen unterläuft.

d) In der Ethologie und in der theory of mind laufen gewichtige Überlegungen zur evolutionären Disposition des limbischen Systems und seiner Affekte..., samt einem System von automatischen Reflexen und Feldern der Reflexion ...

Wir Menschen sind soziale Tiere, fähig sich in andere hineinzufühlen und hineinzudenken, verbunden durch gemeinsame Sympathie und gemeinsamen Nutzen. Und fähig dissozial zu agieren, verdeckt bis offen, zurückhaltend bis exzessiv.

(3) p.s.

Lean on me (kitschig, bewegend, man teste sich selbst..)
https://www.youtube.com/watch?v=sf9_lkf7BtA

Antonius-Rede: Mitleid mit dem toten Caesar, Affektsturm und Handeln... (Man prüfe die drameninternen Reflexe und seine eigenen Reflexe und Reflexionen beim Hören der Rede..)

http://www.schooltube.com/video/53efe6c2cf1bb89f9e82/Julius-Caesar-1953-Mark-Antony-speech
(Marlon Brando 1953)

https://www.youtube.com/watch?v=0bi1PvXCbr8
(Charles Heston 1970)

:wink:
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Re: Ilias, 24. Gesang - Thema "Mitleid"

Beitragvon Ioscius » Do 12. Jan 2017, 20:57

Hallo Willimox,

ich halte das Referat erst morgen Vormittag, du hast mir also einen mehr als großen Dienst erwiesen, vielen, vielen Dank!.
Aber ich schätze dich als Linguist ja sowieso, als wir einmal über die Infinitivkonstruktionen philosophiert haben, hatte ich mich damals schon gefragt, warum du nicht Linguistikprofessor geworden bist :lol:

Philosophisch betrachtet stellt sich die Frage, wie eine solche Beziehung zu bezeichnen ist, wenn sie weder hinreichend, noch notwendig ist..
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