P. Handke: Die weiße Gans, die Erdbeeren und die Erdbeeren.

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P. Handke: Die weiße Gans, die Erdbeeren und die Erdbeeren.

Beitragvon Willimox » Do 12. Dez 2019, 09:00

"alis nil gravius" (Nycticorax)
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P. Handke: Wilde Gänse und Wilde Erdbeeren.

Beitragvon Willimox » Do 12. Dez 2019, 21:17

Bild

Hier der Anfang von Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren":

https://www.youtube.com/watch?v=A3n4TxNeaPg

„Ich notiere die Träume so, wie sie sich mir offenbarten, ohne im mindesten daran zu denken, ihren eventuellen Sinn herauszufinden und kommentieren zu wollen. Die psychoanalytische Theorie, dass Träume eine Wunscherfüllung in negativer oder positiver Richtung seien, hat mich nie besonders beeindruckt. Ich will aber nicht leugnen, dass in diesen Traumsituationen etwas Zwingendes und Warnendes lag, das sich mit fast unerträglicher Zielsicherheit in mein Bewusstsein bohrte.“

Sigmund Freud hält Träume für eine phantasieinterne Wunscherfüllung des Kopfkinos. Entweder versucht ein Ich nicht erfüllte glückorientierte Wünsche seines Lebens wenigstens im Traum zu erfüllen. Oder das träumende Ich verdrängt Schuld so sehr, dass Selbstbestrafungswünsche in der Traumwelt ausagiert werden. Erotischer Trieb und Todestrieb beherrschen nach Freud das Bewusstsein. Auffallend in Isaks Träumen ist aber vor allem ihr Aufarbeitungscharakter und ihr Potential, das Tagesverhalten Isaks, seine Einstellung zu ändern.

Isak präsentiert sich im Vorwort („ich verabscheue Gefühlsausbrüche, Frauentränen und Kindergeschrei“ S. 08) (Die Seitenzahlen referieren auf die Hanserausgabe von Bergmans Filmscript) und im ersten Gespräch mit Marianne („Versuch nicht, mich in deine...Ehekalamitäten hineinzuziehen, denn darauf pfeife ich, jeder hat mit sich allein klarzukommen“; S.18) als emotionsfern und abweisend gegenüber Familienangelegenheiten.

Die Ereignisse des 1. Juni (reale Begegnungen, realitätsorientierte und „phantastische“ Träume) zeigen dem und den Wissenschaftler Isak, wie er auf sein Umfeld wirkt. So lockert sich sein Panzer. Eines dieser Ereignisse ist das Gespräch mit Marianne. Es spiegelt für Isak recht deutlich, welche Folgen eine eisige Beziehung für die Kinder und deren Kinder haben kann (Evalds Lebensüberdruss, Mariannes Verzweiflung, Isaks tot-lebendige Kälte ähnlich wie bei der Mutter) und das erschüttert Isak.

Das menschliche Bewusstsein (Intellekt, Wahrnehmung, Gefühl) ist nicht auf bestimmte Einstellungen festgelegt. Neben dem oft festgefahrenen Tages-Ich agiert ein relativ selbständiges Zweit-Ich mit eigener Kompetenz: Seine Fähigkeit zu Selbstreflexion (Träume, Tagträume, Phantasie, Gesprächsfähigkeit, Denken, Emotionen) kann - so zeigt sich an Isak - ,,,Bewusstseins- und Verhaltensänderungen hervorrufen.
(.....)

Modern an dieser Erzählung erscheint vielerlei: Da ist erstens das Aussparen von Deutungen und Kommentaren. Der Rezipient wird selber fündig, wenn er die Dialoge und Szenen ausleuchtet. Da ist zweitens der thematische Schwerpunkt: Innerpsychische Vorgänge unterhalb der hohen Bewusstseinsebene. Der „feste Ichkern“, ein traditionelles Modell, löst sich. Auf. Da ist drittens die Hauptfigur, gewiss keine sympathische Identifikationsfigur, sondern ein Pedant mit herrischen und egoistischen Zügen. Keineswegs ein situationsmächtiger Held, allenfalls ein „halber Held“. Und da ist viertens die religiöse Diskussion, latent im Subtext des Uhrenmotivs oder explizit in den Streitgesprächen zwischen Viktor und Anders. Eine Diskussion, die keine präzisen Antworten bereithält und so das Frage-Antwort-Spiel nach einer steuernden göttlichen Instanz in der Schwebe hält. Immerhin, die Auflösung des festen Ich-Kerns, führt hier bei Isak zur Katharsis und zu einer gewissen Wandlung seiner prinzipienstarren Einstellung.

Bild

p.p.s. Vertiefungsmöglichkeiten:

http://www.peaceofmusic.com/Cms.aspx/Show/127
https://books.google.de/books?id=5EVbDw ... es&f=false

https://www.youtube.com/watch?v=YZFjNcEzNMk
Zuletzt geändert von Willimox am Fr 13. Dez 2019, 12:19, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: P. Handke: Die weiße Gans, die Erdbeeren und die Erdbeer

Beitragvon Tiberis » Fr 13. Dez 2019, 00:19

Einmal abgesehen von den Verwechslungen (Jahrhundert, Margarete) - was willst du, o Thrasybule obscurissime, uns eigentlich sagen? Etwas mehr Klarheit im Ausdruck, sowie umgekehrt etwas weniger intellektuelle Pirouetten wäre ein hilfreicher Ansatz.
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P. Handke: Wilde Gänse und Wilde Erdbeeren.

Beitragvon Willimox » Fr 13. Dez 2019, 03:17

(1) Frage an Thrasybulus

Tiberis hat geschrieben:Einmal abgesehen von den Verwechslungen (Jahrhundert, Margarete) - was willst du, o Thrasybule obscurissime, uns eigentlich sagen? Etwas mehr Klarheit im Ausdruck, sowie umgekehrt etwas weniger intellektuelle Pirouetten wäre ein hilfreicher Ansatz.


(2) Peter Handke und Gustav und die wilden Gänse und Erdbeeren

Bild

10. Dezember 2019

Peter Handke adressiert im Schluss seiner Bankettrede vor dem schwedischen Königspaar drei kulturelle Größen:

- Nils Holgersson und seine Wildgänse (Selma Lagerlöf),
- Strawberry Fields (Beatles) und die
- "Wilden Erdbeeren" (Ingmar Bergman):

My wish, my greetings: they go to the WILD GEESE in « Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige » and the wish is : that the geese should in the future, beyond Sweden, also overfly every landscape not only in Europe and so transforme even the smallest country into a world wide one! Selma Lagerlöfs wild geese forever.

Strawberry Fields for ever. Wild Strawberries for ever.

https://www.nobelprize.org/prizes/liter ... ke/speech/


Aufschlussreich für das poetische Denken des Autors (und seine rhetorische Höflichkeit gegenüber Schweden) und daher für Handke-Leser von Interesse.

Bild
(Wilde Erdbeeren, Lund, Doctor Jubilaris)

(3) Franz Seraphicus Grillparzer in der lateinischen sapphischen Ode (lose verknüpft mit "Pirouetten")

Poetisch aufschlussreich in der lateinischen Version von Franz Seraphicus Grillparzers "Weihnachten" der "manebo"-Vers:

Doch ist's der Lauf der Zeiten;
Ein Trost nur stellt sich dar:
Bin ich auch nichts geworden,
Ich blieb doch, der ich war.

Temporum decursus is est. sed una
res mihi solacio erit: Licet sim
nil adeptus : Qui fueram, manebam i-
demque manebo.


Damit nutzt der Odendichter das sapphische Metrum, um den resignativ-verbittert-trotzig griesgrämigen Grillparzerton ( zwei Waisen pro Strophe....) und den temporum decursus

Bild

(nicht nur am Ende) leicht umzumodulieren.
Ein Dichter, der über die Zeiten hinweg bleiben wird.
Nein, keine Pirouette :) ,
aber doch insgesamt ein (leicht triumphaler) Wechselschritt?


p.s.

https://gutenberg.spiegel.de/buch/grill ... ch-10202/7

:book:
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Re: P. Handke: Die weiße Gans, die Erdbeeren und die Erdbeer

Beitragvon Tiberis » Fr 13. Dez 2019, 14:42

Erravi, Thrasybule. nam poetam
ipsum commemorasse non putavi
fraga illa Ingmaris anseresque canos.
lento ignosce animo meo, sodalis.
:oops:
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Re: P. Handke: Die weiße Gans, die Erdbeeren und die Erdbeer

Beitragvon Zythophilus » Fr 13. Dez 2019, 16:04

Quid genitus Carnis nobis uult dicere uates?
Linguere nos culos – hoc reor – ille iubet.
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Culos linguere?

Beitragvon Willimox » Fr 13. Dez 2019, 17:00

@Zythophilum

At ibi sunt humi prandia, caro pomaque,
res ipsae, quid sint, "mobilitate" docent.

Bild
Zuletzt geändert von Willimox am Fr 13. Dez 2019, 17:47, insgesamt 4-mal geändert.
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Wilde Gans und Wilde Erdbeer.

Beitragvon Willimox » Fr 13. Dez 2019, 17:22

@Tiberim

Probitas in verbis modestia pulchra refulgent
atque tuis meritis iungitur alter honor.

:wink:
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