Erkenntnistheorie und Ethik

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Erkenntnistheorie und Ethik

Beitragvon consus » Di 9. Okt 2007, 12:36

Salvete, amici!

"Wenn der Mensch gelernt hat, zu sehen und zu wissen, was wirklich ist, wird er im Einklang mit der Wahrheit handeln. Erkenntnistheorie ist an sich Ethik, und Ethik ist Erkenntnistheorie."
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch

Schön gesagt, Marcuse! Doch wird es dem Menschen, wenn wir Kant und seiner fundamentalen Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich folgen, nicht gelingen, „zu sehen und zu wissen, was wirklich ist“; so ist denn überzeugender die Weisheit eines Xenophanes, dessen Erkenntnistheorie in den folgenden, von Karl Popper*) so trefflich übersetzten Versen enthalten ist:

"Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Sollte einer auch einst die vollkommenste Wahrheit verkünden,
Wissen könnt’ er das nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung."

Es gibt also nach Xenophanes für uns Menschen kein Kriterium der Wahrheit; es könnte freilich sein, dass wir einmal – objektiv, d. h. von einem von uns unabhängigen Standpunkt aus gesehen - im Besitz einer Wahrheit sind, allein wir selbst werden dies nicht wirklich sicher wissen.

Welche Konsequenzen sich aus dieser Einsicht auch im Hinblick auf die Ethik ergeben, das mag jeder selbst bedenken.

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*) Karl R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 4. Aufl., München/Zürich 1989, S. 220.
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Beitragvon th3o » Di 9. Okt 2007, 12:56

Ich halte Kants Unterscheidung von transzendentalem Ich und Ding-an-sich für den richtigen Anfang, allerdings jedoch für das falsche Ende.
Das Ich und die objektive Welt sind (mit Hegel gedacht) durcheinander "vermittelt" und entsprechend ist das Subjekt dasjenige welches Objektivität "setzt".
Nicht durch einen Impuls oder einen Affekt (wie die faschistischen Ideologen versucht haben Hegel und auch Kant in ihrem Sinne zu verbiegen) sondern durch die immanente Bewegung des Geistes selbst, unter der Maxime der Verwirklichung von Realität als zu sich selbst gekommene Vernunft.

Gerade die Empiristik und/oder die positivistische Philosopihe sowie Soziologie haben durch die Betonung, dass nur das, was Tatsache ist, als Legitimation für Entscheidungen und Handlungen gelten soll, Tür und Tor geöffnet für Pathos und Affekthandlungen, die sich nur einer entsprechend verkürzten Form der Vernunft bedienen müssen, da ja alles spekulative Denken keine "Tatsache" in ihrem Sinn war. Wozu Positivismus gepaart mit dem Primat der Tat statt des Denkens geführt hat wissen hier alle denke ich ganz genau.

edit: Kant ist ein guter Typ, aber ich kann und werde mich mit seiner devoten Haltung gegenüber der objektiven Welt und damit der Hintenanstellung des Denkens und der Vernunft nie und nimmer anfreunden :P

Sehr zu empfehlen genau in diesem Zusammenhang ist "Vernunft und Revolution, Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie" von Herbert Marcuse
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Beitragvon consus » Di 9. Okt 2007, 13:35

Ergänzung zu Xenophanes:

Wenn es auch kein Kriterium der Wahrheit gibt, so aber doch eines für den Fortschritt in Richtung Wahrheit:

„Nicht vom Beginn an enthüllen die Götter den Sterblichen alles,
Aber im Laufe der Zeiten finden wir, suchend, das Bess’re.“*)

In Bezug auf Erkenntnistheorie und Ethik neige ich, ohne hier große Worte machen zu wollen, zu der Auffassung, dass eine Sicht der Dinge um so wahrer ist, je mehr sie ein Zusammenleben der Menschen im Sinne der unveräußerlichen Menschenrechte fördert. Dass damit totalitäre Ideologien wie Nationalsozialismus und Marxismus-Leninismus völlig, um es gelinde auszudrücken, an Überzeugungskraft verlieren, liegt auf der Hand.

Nebenbei ein nettes Wort zu Hegel aus der Feder von Marx (Das Kapital, 2. Aufl. 1872, S. 822; zitiert nach Popper, aaO. S. 113):

„Die mystificirende [sic] Seite der Hegel`schen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war.“

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*) Popper, aaO. S.50.
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Beitragvon th3o » Di 9. Okt 2007, 13:48

und dabei bezieht marx sich auf die versöhnende seite der helgelschen dialektik in der philosophie des rechts und nicht auf dialektik bei hegel allgemein :) das wäre ja auch schön blöd, hat marx doch hegels hist. idealismus in hist. materialismus gekehrt und jedoch notwendig an der gleichen methode der negation als triebkraft festgehalten um damit die immanenten widersprüche der materiellen einrichtung der welt aufzudecken.

zur phil. des rechts von hegel ist (als nur teilweise entschuldigung für seine haltung, die die fortschrittlichen prinzipien seiner eigenen philosophie verrät) zu sagen, dass die kleinbürgerliche opposition, die zu hegels zeit gegen den bestehenden staat agitierte durch und durch potentiell nationalistisch gewesen ist.
da dachte sich selbst hegel, dass der bestehende staat immer noch besser ist als eine nationalistische bewegung kleinbürgerlicher prägung.
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