"Wenn der Mensch gelernt hat, zu sehen und zu wissen, was wirklich ist, wird er im Einklang mit der Wahrheit handeln. Erkenntnistheorie ist an sich Ethik, und Ethik ist Erkenntnistheorie."
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch
Schön gesagt, Marcuse! Doch wird es dem Menschen, wenn wir Kant und seiner fundamentalen Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich folgen, nicht gelingen, „zu sehen und zu wissen, was wirklich ist“; so ist denn überzeugender die Weisheit eines Xenophanes, dessen Erkenntnistheorie in den folgenden, von Karl Popper*) so trefflich übersetzten Versen enthalten ist:
"Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Sollte einer auch einst die vollkommenste Wahrheit verkünden,
Wissen könnt’ er das nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung."
Es gibt also nach Xenophanes für uns Menschen kein Kriterium der Wahrheit; es könnte freilich sein, dass wir einmal – objektiv, d. h. von einem von uns unabhängigen Standpunkt aus gesehen - im Besitz einer Wahrheit sind, allein wir selbst werden dies nicht wirklich sicher wissen.
Welche Konsequenzen sich aus dieser Einsicht auch im Hinblick auf die Ethik ergeben, das mag jeder selbst bedenken.
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*) Karl R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 4. Aufl., München/Zürich 1989, S. 220.