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Beitragvon Brakbekl » Sa 20. Aug 2011, 08:50

Wir hatten neulich den schönen ciceronischen Spruch: "Historiam nescire, hoc est semper puerum esse.” Ich wollte nun mal fragen, ob jemand weiss, woher die Version kommt: "Wer seine/die Geschichte nicht kennt, ist verdammt, sie zu wiederholen."? Ich vermute mal, der ciceronische Spruch ist die Urversion, und das deutsche Zitat stammt aus der Zeit nach 45. Weiss jemand genaueres?

Jeder Spruch hat ja so seine Sinnig- und Stimmigkeiten, aber genauso seine Unmöglichkeiten. Wenn ich mir die Wirklichkeit so betrachte, bin dezidiert nicht der Meinung, daß die Kenntnis der/seiner Geschichte jemanden davor bewahrt, sie zu wiederholen. Das "sehende Auge" ist ja phraseologisch fest. Ich würde formulieren: "Die Kenntnis der Geschichte gibt jemandem die Chance, ...." und bin mir noch nicht mal sicher, ob das stimmt. Cicero hatte wohl nur einen sehr engen Schicksalsbegriff. Das Wesen der Geschichte ist die Widerholung. Dies ist auch der Kern des Schicksalbegriffes. Das Bewußtsein kann nicht viel daran ändern. Avunculus muß wiederholen, was Avus getan hat. Offensichtlich haben die Alten das auch so gesehen.
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Re: Historia

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 20. Aug 2011, 15:18

Salve,
Das originale Zitat, stammt aus Cic. Orator 34 (120) und lautet dort:
Cicero Orator 34,(120) hat geschrieben:Nescire autem quid ante quam natus sis acciderit, id est semper esse puerum.


Vale.
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Re: Historia

Beitragvon Zythophilus » Sa 20. Aug 2011, 15:42

Die Zitate mögen ähnlich sein, doch ist der Unterschied m.E. zu groß, als dass der deutsche Spruch direkt von dem Cicero-Zitat abhängen könnte.
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Re: Historia

Beitragvon Prudentius » Sa 20. Aug 2011, 18:57

Hallo Brakbekl,

Woher der deutsche Spruch kommt, weiß ich auch nicht, vielleicht ist er so zu verstehen: "Wer die Geschichte (seiner Fehler) nicht kennt, ist verdammt, sie (die Fehler) zu wiederholen".
Beiden Sprüchen ist wohl gemeinsam, was Cicero auch so formuliert: "Historia magistra vitae". So haben es auch die römischen Geschichtsschreiber verstanden, so finden wir es bei Sallust und Livius.

Man spricht ja auch von der "moralischen Geschichtsschreibung" der Römer, Livius sagt in seiner Praefatio, er wolle exempla (Lehrbeispiele) bieten fürs Nachahmen und Vermeiden (imitari, vitare), und Sallust sieht den Sittenverfall als Ursache des Niedergangs Roms.

"Das Wesen der Geschichte ist die Widerholung", das ist kühn gesagt, ich glaube, das musst du uns erst erklären, und auch, worin du das "Enge" von Cic. Schicksalbegriff siehst, :?

Gruß P.
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Re: Historia

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 20. Aug 2011, 19:33

Ich finde, man sollte das originale Zitat zunächst im Zusammenhang von Ciceros Orator betrachten....
und da geht es um die Eigenschaften eines Redners. Liest man 34 (120), geht es darum, dass sich der Redner in der Geschichte und Chronologie der alten Zeiten auskennen sollte, besonders auch über den eigenen Staat und über machtvolle Völker und über glanzvolle Könige sollte er Bescheid wissen. Dann erwähnt er ein Buch von Atticus, das diese mühsame Arbeit erleichtert, da dieser die Geschichte von 700 Jahren in einem Buch zusammengefaßt hatte. Die Verbindung mit der Vergangenheit und Erwähnung der alten Zeiten mit entsprechenden Beispielen findet Cicero geradezu überzeugend bei einem Redner und stattet diesen mit Überzeugungskraft aus.
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Re: Historia

Beitragvon jp-magister » So 21. Aug 2011, 13:26

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Re: Historia

Beitragvon consus » Mo 22. Aug 2011, 08:58

Auch P. Sloterdijk erinnerte im Philosophischen Quartett gestern ("Sind Gesellschaften lernfähig? - Beharrungsvermögen statt überstürzter Entscheidungen") an den inzwischen fast schon zu einem verbum tritum gewordenen Ausspruch Santayanas.
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Re: Historia

Beitragvon Brakbekl » Mo 22. Aug 2011, 11:26

consus hat geschrieben:Auch P. Sloterdijk erinnerte im Philosophischen Quartett gestern ("Sind Gesellschaften lernfähig? - Beharrungsvermögen statt überstürzter Entscheidungen") an den inzwischen fast schon zu einem verbum tritum gewordenen Ausspruch Santayanas.


Danke Consus, das mit dem Verbum tritum - das sind Worte, die meistens ohne Quelle genannt, allgemein geglaubt und zu oft gehört worden sind, so daß man schon mal die Frage erheben darf: Ist es wirklich so? Der Unterschied von Wissenschaft und Religion liegt in der Quelle. Religion hat kein Interesse an Historie, Wissenschaft schon. Religion will Handeln im Hier und Jetzt motivatorisch unterfüttern. Wissenschaft fragt: Wie ist es (gewesen).

Auch an JP Magister Dank, Sicherlich ein kluger Kopf der Santayanas - mal sehen, ob von ihm was greifbar ist.
Zuletzt geändert von Brakbekl am Mo 12. Sep 2011, 11:21, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Historia

Beitragvon Zythophilus » Mo 22. Aug 2011, 13:34

In der Regel wird das Originalzitat, aus seinem Zusammenhang gerissen, anders bei Santayana auf Gesellschaften, weniger auf Individuen, angewandt. "Nicht aus der Geschichte lernen" heißt, dass ein angeblicher oder tatsächlicher gesellschaftlicher Missstand verhindert werden hätte können, wenn man sich ähnlicher früherer Situationen bewusst wäre. Das kann sein. Bewiesen ist es freilich erst, wenn es wirklich eintritt. Mit ein bisschen Phantasie findet man genug Analogien in der Geschichte.
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