Verse voll Maß

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Re: Verse voll Maß

Beitragvon RM » Di 29. Mai 2012, 09:46

Nun, als Beispiel können wir ja noch einmal den Marshallplan bemühen. Nach heutigem Wert hatte er ein Volumen von 100.000.000.000 US$ (genau: 100 Milliarden Dollar). Hat die USA das ganz selbstlos gemacht? Ja und nein. Auf der einen Seite brauchte Europa diese Hilfe, um schnell wieder auf die Füße zu kommen, auf der anderen Seite haben die USA davon wirtschaftlich stark profitiert. Das war aber eine langfristige Strategie - die Unterstützungen erfolgten 5 Jahre lang - ohne Garantie auf positive Effekte. Eine ähnliche Situation finden wir im Fall von Griechenland: Auf der einen Seite dürfen wir das Land nicht ins Elend abrutschen lassen, so falsch auch immer sie bisher gewirtschaftet haben, auf der anderen Seite müsste ich mich als Europa doch sehr schämen, wenn es mir nicht einmal gelingt, ein Land von der Einwohnerzahl Bayerns finanziell aufzufangen. Das Signal wäre jedenfalls verheerend. Es hieße nämlich: Europa ist unfähig. Natürlich wirkt im Selbstverständnis Europas eine starke historische Komponente, die Grass ja auch in seinem Gedicht einsetzt.
Was jetzt die arabischen Staaten betrifft: Über sie haben wir noch andere Dinge kennengelernt, z.B. die Zitronen, den Kaffee usw. In Teilen ist es aber eher so, dass die arabischen Staaten die Europäer wirtschaftlich unterstützen, als umgekehrt. Allerdings hat das Ansehen der Europäer durch die Kolonialzeit - und die ist noch nicht so lange her - in weiten Teilen Afrikas extrem gelitten, so dass dort nur wenige auf Hilfe aus Europa hoffen würden.
Das hat natürlich alles wenig mit formalen Aspekten des Grassschen Gedichtes zu tun, aber die sind mir, wie ich schon sagte, nicht besonders wichtig. Ich würde mich jetzt auch nicht erdreisten, politische Gedichte von Grass nach solchen Aspekten zu sezieren - schön muss ich sie ja nicht finden. Da gehe ich mit Cato konform: Rem tene, verba sequentur.

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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Willimox » Di 29. Mai 2012, 11:34

Erstmal zum (falschen, in der online-Ausgabe konjunktivisch ausgewiesenen ) Fakealarm der FAS
und dort Volker Weidermann. Spaßmachend das SZ Streiflicht:

Das Streiflicht

(SZ) Heute: In eigener Sache. Bis zu diesem Pfingstwochenende lebten wir, was die Herkunft unserer Texte anging, wie die Phäaken vor uns hin, ein auf Kerkyra ansässiges Völkchen, dessen Lockerheit sprichwörtlich war und von dessen Gastfreundschaft Europa immer noch lernen könnte. Dessen Lockerheit, dessen Gastfreundschaft : Wenn das mal nicht wieder zwei von diesen „unsinnigen Genitivkonstruktionen“ sind, die der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) zufolge darauf hinweisen, dass der vorliegende Text nicht von uns stammt, sondern von den Ghostwritern bei der Titanic , die, getarnt als Günter Grass , unserem Feuilleton eben auch das Gedicht „Europas Schande“ unter die Weste gejubelt haben. Jetzt, da die Sache ruchbar geworden ist, kann man ja sagen, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: dass das Satiremagazin weite Teile der deutschen Presse mit Artikeln beliefert, wobei die weniger gelungenen vornehmlich an die FAS gehen. Das Blatt bezahlt dafür fast nichts, muss die Texte aber unter dem Decknamen Volker Weidermann veröffentlichen.

Unabhängig davon, dass das Feuilleton der FAS also ebenfalls von der Titanic munitioniert wird, hat bei uns eine große Gewissenserforschung eingesetzt. Alles müsse auf den Tisch, hieß es in der Chefredaktion, die ihrerseits mit gutem Beispiel voranging und ein paar geleaste Leitartikel in alle Aufzüge hängen ließ â€“ lustigerweise auch solche, die wir bei der FAS bestellt hatten, ohne zu ahnen, dass diese den Auftrag an die Titanic weitergab. Um die Kollegen nicht schwerer als nötig zu „beschädigen“, hat man sich auf ein Verfahren besonnen, mit dem schon die Finanzbehörden bei Steuerflüchtlingen gute Erfolge hatten. Wer gewissermaßen auf der CD ist, also verdächtig, der kann Selbstanzeige erstatten und sich dadurch rehabilitieren, dass er einen Leitartikel in völliger Klausur schreibt, also auch ohne die Möglichkeit, mit der Titanic übers Internet Verbindung aufzunehmen. Griechenlandgedichte beziehen wir freilich auch in Zukunft von der Titanic , weil die in diesem Genre angeblich bei Kapazitäten wie Raoul Schrott und Durs Grünbein arbeiten lässt.

Was Letzteren angeht, so schreibt er derart viel für die FAS, dass sich das Gerücht gebildet hat, es handle sich dabei um Frank Schirrmacher. Das ist ebenso Unsinn wie die auf schrägeren Blogs zu findende Vermutung, Grass beschäftige Schirrmacher für lästige Nebenarbeiten. Schirrmacher ist ausgelastet mit seinem Job als Chefredakteur der Zeit , den er unter dem Pseudonym Giovanni di Lorenzo ausübt (für die Talkshow „3 nach 9“ wird er von einem Titanic -Mann gedoubelt). Giovanni di Lorenzo hat sich als Frank Schirrmacher unter die Herausgeber der FAS gemischt, kommt aber seiner Aufgabe, auf Volker Weidermann etwas besser aufzupassen, nur schlampig nach.

SZ 29. Mai 2012, Seite 1
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon guenterus » Di 29. Mai 2012, 21:12

Apollonios hat geschrieben:
RM hat geschrieben:Der formale Aspekt stört mich dabei eigentlich wenig. Da könnten wir auch ein paar Gedichte von Goethe lesen und würden ungefähr dasselbe finden.


Nun, das ist kein Argument. Ein schlechtes Gedicht bleibt auch dann ein schlechtes Gedicht, wenn andere auch schon schlechte Gedichte schrieben. Wenn es ein Aufsatz wäre, könnte man bei klarem Inhalt über kleine Formfehler hinwegsehen. Aber ein Gedicht will immer kunstvoll in Form gebrachte Sprache sein. Formale Schludrigkeit im Gedicht ist eine Zumutung.

Und was den Zeitraum angeht: Findest Du auch, wir haben den Arabern gegenüber eine tiefe Dankesschuld, die uns jetzt zur Hilfe verpflichtet - wegen der Zahlen und der Medizin? Versteh mich recht, ich finde durchaus, daß man hilfsbedürftigen Ländern nach Kräften helfen soll. Aber zum einen nicht über die eigenen Kräfte hinaus, zum andern nicht ohne Sinn und Verstand. Also erst zuschauen, daß das Faß keine Löcher hat, eh man etwas hineinkippt.

Wann ist ein Gedicht wirklich Kunstvoll? Darf es sich Reimen? Hängt es von der Wortwahl ab - welche Rolle
spielt der Inhalt? Ich lese wirklich gerne ab und zu Gedichte und denke Sie müssen Berühren!
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Tiberis » Mi 30. Mai 2012, 02:39

RM hat geschrieben:Der Kernaussage, nämlich Griechenland in Europa und im Euro zu halten, ohne ihm die Luft zum Atmen zu nehmen, kann ich auf jeden Fall zustimmen.


wo bitte ist in dem gedicht davon die rede, dass Griechenland "im euro zu halten" sei ? was obendrein auch noch die "kernaussage" sei ? :?
die "kernaussage" findet sich vielmehr in jedem einzelnen "distichon" und nicht zuletzt im titel selbst: es ist schändlich, wie "Europa" (metonymisch für die EU) mit einem land verfährt, dem es ebenjene kultur verdankt, ohne die eine europäische identität nicht vorstellbar wäre. mag auch seine "blütezeit" schon sehr lange zurückliegen, die kulturellen leistungen Griechenlands sind unvergänglich und wirken in der gegenwart fort. oder wäre jemand so vermessen, Griechenland aus der liste der kulturnationen nur deshalb streichen zu wollen, weil seit der antike schon zweitausend jahre vergangen sind?
dass "Europa"- oder wohl besser: die EU, die diesen namen usurpiert hat - Griechenland nur noch als ökonomisches problem sieht, darauf beruht der grundgegensatz dieses gedichtes: wirtschaftliche macht vs. kultur. die kopfgeburt EU , die dreist vorgibt, "Europa" zu sein, ist ein politisch-ökonomisches konstrukt, in dem zwar unablässig die "europäischen werte" beschworen werden, während es in wahrheit nur auf den wert des geldes ankommt. das einstige land der denker ist heute in der hand der banker, könnte man salopp formulieren.
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Zythophilus » Mi 30. Mai 2012, 17:25

Dass die EU eine Wertegemeinschaft sei, ist ein gut klingender Slogan. Es ist eine Interessensgemeinschaft, und Staaten sind dort Mitglieder, weil ihre Regierungen oder Bevölkerungen sich mit einer Abstimmung dafür entschieden haben. Die Argumente waren Wohlstand und Sicherheit. Griechenland hat für seine Bevölkerung einige Zeit lang sehr viel dafür herausgeholt. Die Investitionen, die zu einem gewissen Teil versickerten oder in sinnlose Infrastrukturprojekte flossen, kamen von der EU, während die Bevölkerung von Sozialleistungen profitierte und zudem keine Steuern zahlte. Dazu stiegen die Löhne in einem Maß, das mit der realen Wirtschaftsleistung nichts zu tun hatte. Außer einem mittlerweilende darniederliegenden Fremdenverkehr, Oliven und Retsina gibt's dort fast nichts. Beamte, die fürs Nichtstun bezahlt werden, und Friseure, die aufgrund ihrer harten Arbeitsbedingungen mit 50 in Pension gehen, kann man schlecht als Attraktion verkaufen. Es wird schmerzhaft sein, wenn man sich an einen gewissen Luxus dort gewohnt hat, aber die, die den Konsum der Griechen, den sie sich bis vor Kurzem auch nicht wirklich leisten konnten, weiter finanzieren wollen, sind kaum mehr auszumachen. Wenn Griechenland in der EU bleiben soll, dann ist es keine Dankbarkeit für 2000 Jahre weit zurückliegende Leistungen, für die die heutigen Griechen nichts können. Korruption ist kein Wert.
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Tiberis » Do 31. Mai 2012, 00:17

Longipes hat geschrieben:Was soll denn diese »Liste der Kulturnationen« darstellen? Ist das so eine Art Club für Gebiete, auf denen irgendwann einmal Dinge getan wurden, die wir als »kulturelle Leistungen« verbuchen? Kann man also ohne weitere Querelen Staaten aus der EU werfen, die nicht zu diesem Club gehören?

lieber Longipes, ich muss dir nicht erklären, was eine metapher ist, wenngleich ich zugebe, dass es zweifellos bessere metaphern gibt als die von mir verwendete. natürlich ist der heutige staat Griechenland nicht mit dem Griechenland der antike gleichzusetzen, ebensowenig wie irgendein anderer moderner staat mit seinen vorläufern gleichgesetzt werden kann. umgekehrt aber ist das heutige Griechenland ohne die allgegenwärtige antike nicht vorstellbar. man kann also keineswegs sagen, das eine habe mir dem anderen nichts zu tun.
auch die großen kulturellen leistungen anderer nationen wurden zumeist in vergangenen zeiten erbracht. aber was damals erdacht, geschaffen, geschrieben wurde, ist ja nicht verloren oder weggesperrt, sondern wirkt nachhaltig in den jeweiligen völkern weiter.
Longipes hat geschrieben:Das alte Griechenland war nicht nur für Philosophie, Demokratie und die Olympischen Spiele bekannt, sondern auch für andauernde blutige Bürgerkriege. Gehört das auch zu den kulturellen Leistungen?

die Olympischen spiele gab es nur in Griechenland, die demokratie nahm von dort ihren ausgang ebenso wie die literarische form des dramas. Griechenland ist dafür bekannt, weil all das eben dort entstanden ist. hingegen ist mir nicht bekannt, dass bürgerkriege etwas spezifisch griechisches gewesen sein sollen. :roll:
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Zythophilus » Do 31. Mai 2012, 07:10

Die kulturellen Leistungen der alten Griechen sind unbestritten, doch seit damals gibt es einen kontinuierlichen Abstieg.
Die Olympischen Spiele in Athen sind ein schönes Beispiel dafür, was heutzutage dort passiert: Die Linien 2 und 3 der Athener U-Bahn wurde de facto zur Gänze von der EU bezahlt. Das Geld ist zum Großteil weg, denn Athen wird bestenfalls einen geringen Teil seiner Schulden bezahlen. Kann man das nun gegen die historischen Olymp. Spiele oder gegen die Lehren Platos aufrechnen?
Griechenland profitiert ohnedies doppelt von dem, was vor mehr als 2000 Jahren auf seinem Boden erdacht wurde: Einerseits sollte es nicht nur dem restlichen Europa zu Gute kommen, andererseits lässt sich das inklusive der antiken Schätze gut vermarkten. Wenn nichts von den Griechen selber kommt - und das ist zumindest seit der Euro-Einführung so gewesen -, wäre es weder ökonomisch noch moralisch gerechtfertigt, so weiterzumachen. Stavros, der als vermeintlich Blinder jahrelang staatliche Unterstützung kassiert hat, ist nicht Homer und soll auch kein Geld dafür bekommen, dass einst ein Homer in seiner Gegend lebte, und Kostas mag es zwar für eine gute Idee gehalten haben, als braver Wähler einen arbeitsfreien Beamtenposten zu bekommen, für Platons Ideenlehre verdient er aber auch keine Drachme.
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Zythophilus » Do 31. Mai 2012, 20:11

Die kleinen Betrügereien alleine sind es natürlich nicht. Es ist die Kombination aus den kleinen Betrügereien und der großen Korruption sowie der Glaube, alles würde sich schlagartig ändern, wenn einmal der Euro da wäre.
Wäre der Euro nicht gekommen und hätte die EU keine Zahlungen geleistet, dann wäre Griechenland zwar nicht weniger korrupt, könnte aber als billiges Urlaubsland punkten und könnte durch wiederkehrende Abwertung der Währung auch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken.
Heute war zu lesen, dass die Löhne ohne den Euro in Griechenland halbiert würden http://kurier.at/nachrichten/4498037-at ... lbiert.php. Was als Drohung gedacht ist, beschreibt die Realität sehr gut. In der Slowakei sind die Löhne - ebenfalls in Euro bezahlt - keineswegs halb so hoch wie in Griechenland, also scheint das auch zu funktionieren. Hätte man schon früher reagiert, gebe es weniger neue Autos, Villen etc. Die Griechen zahlten das nicht mit verdientem Geld.
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Tiberis » Do 31. Mai 2012, 23:27

Zythophilus hat geschrieben: Es ist die Kombination aus den kleinen Betrügereien und der großen Korruption sowie der Glaube, alles würde sich schlagartig ändern, wenn einmal der Euro da wäre.
Wäre der Euro nicht gekommen und hätte die EU keine Zahlungen geleistet, dann wäre Griechenland zwar nicht weniger korrupt, könnte aber als billiges Urlaubsland punkten und könnte durch wiederkehrende Abwertung der Währung auch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken.

rem acu tetigisti, o Zythophile.
nicht "die Griechen" sind das primäre problem, sondern der euro. womit wir wieder beim sogenannten politischen willen wären, von dem zu beginn dieser diskussion schon einmal die rede war. dieser politische wille stand bereits bei der "süderweiterung" der EG im vordergrund, als es nach dem ende der faschistischen diktaturen in Griechenland,Spanien und Portugal darum ging, einen weiteren machtzuwachs der dortigen kommunistischen parteien durch massive wirtschaftshilfe zu verhindern. obwohl diese wirtschaftshilfe an der strukturschwäche der griechischen wirtschaft kaum etwas verändert hat, wurde Griechenland dann noch wider besseres wissen und ohne genaue prüfung der relevanten daten in die eurozone aufgenommen. mittlerweile ist es eine binsenweisheit, dass eine gemeinsame währung in staaten mit derart unterschiedlichem ökonomischem potential ohne einheitliche finanzpolitik nicht funktionieren kann. gegen einen hierzu unabdingbaren weiteren souveränitätsverlust dürfte es jedoch widerstand geben - nicht nur in Griechenland. und so wird eben der "politische wille" entgegen alle ökonomische realität weiter bis aufs äußerste ausgereizt, indem ein rettungsschirm nach dem anderen aufgespannt , ein finanzierungskonstrukt nach dem anderen aus dem hut gezaubert wird, Maastricht-verträge hin oder her. die märkte lassen sich davon nur wenig beeindrucken, die Griechen jedoch, geradezu süchtig nach der droge Euro, die es ihnen eine zeitlang ermöglicht hat, über ihren verhältnissen zu leben, wollen zum überwiegenden teil von einem euro-ausstieg nichts wissen. dafür sorgt schon die propaganda jener, deren "politischer wille" die ganze katastrophe erst verursacht hat.
und jene sind es auch, die Grass meint, wenn er von "Europas schande" spricht. jene mächtigen in der EU, für die der "politische wille" immer schon mehr zählte als die wirtschaftliche realität. sie sind letztlich verantwortlich für die nunmehrige "griechische tragödie". sie gleichen einem unseriösen geldverleiher, der einem kunden einen kredit aufschwatzte, ohne sich um dessen bonität zu kümmern, und ihn jetzt bis aufs existenzminimum pfänden möchte.
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Willimox » So 3. Jun 2012, 19:46

Tiberis verweist auf ein vages, sehr vages Spiel mit dem Distichon und präsentiert für die Inhaltsebene ein stringentes Modell/eine stimmige "pictura", nämlich:
"Geldverleiher schwätzen nicht ganz reifen, eventuell dummschlauen Kunden Kredit auf - bei Verstoß gegen Seriosität und Sorgfaltspflicht gegenüber dem Schuldner."
Hier nun zurück oder besser ein Seitblick zurück, zur poetischen Struktur des Griechenlandgedichts:

Europas Schande

Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht,
bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh.

Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt,
wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert.

Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land,
dem Dank zu schulden Dir Redensart war.

Zur Armut verurteiltes Land, dessen Reichtum
gepflegt Museen schmückt: von Dir gehütete Beute.

Die mit der Waffen Gewalt das inselgesegnete Land
heimgesucht, trugen zur Uniform Hölderlin im Tornister.

Kaum noch geduldetes Land, dessen Obristen von Dir
einst als Bündnispartner geduldet wurden.

Rechtloses Land, dem der Rechthaber Macht
den Gürtel enger und enger schnallt.

Dir trotzend trägt Antigone Schwarz und landesweit
kleidet Trauer das Volk, dessen Gast Du gewesen.

Außer Landes jedoch hat dem Krösus verwandtes Gefolge
alles, was gülden glänzt gehortet in Deinen Tresoren.

Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure,
doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück.

Verfluchen im Chor, was eigen Dir ist, werden die Götter,
deren Olymp zu enteignen Dein Wille verlangt.

Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land,
dessen Geist Dich, Europa, erdachte.

Jutta Rinas

aus Wolfenbüttel sieht hier am Werk das "antike Versmaß des Anapäst"
http://www.waz-online.de/Nachrichten/Pa ... zter-Tinte

Florian Bayer sieht eine vage Poetik im 'Text werkelnd:

Wie schon zuvor in Was gesagt werden muss springt Grass in unregelmäßigen Versen und freien Rhythmen umher, baut sich selbst eine strenge Form auf, nur um sich immer wieder aus dieser zu befreien. Am ehesten erinnern die streng voneinander separierten Verspaare an Distichen, die teilweise auch in der traditionellen, strengen Form in dem prosaischen Gedicht auftauchen.

In der zweiten Strophe finden wir so zum Beispiel einen ganz klassischen Distichon, bestehend aus einem Hexameter im ersten und einem Pentameter im zweiten Vers:

Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt,
wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert.

http://seite360.de/2012/05/26/gunter-gr ... e-analyse/


Konstantin Sakkas
meint in Deutschlandradio Kultur,
dass sich Grass in seinem Gedicht des Versmaßes der asklepiadischen Ode bedient (und dies sehr souverän), dass er sich gleich in der zweiten Strophe elegant auf Goethes Iphigenie bezieht und nebenbei noch mit der deutschnationalen Hölderlin-Rezeption der konservativen Revolution ins Gericht geht: All das entgeht offensichtlich nicht nur den sich betont bildungsfern gebenden Digital Natives.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ ... n/1771084/



Klaus Jarchow
spricht von "Grassem Versmaß" und rät dem nobilitierten (?) Artifex, dem vertrauten Leisten seiner Prosa weiterhin zu vertrauen:

Mal ehrlich, trotz meiner gelegentlichen Sympathien für die Inhalte, von der Metrik versteht der Günter Grass nicht allzu viel. Das klappert und klöppelt durch die Bottnik, bis man das intendierte Gedicht nur am Zeilenumbruch noch erkennt:

Als Schúldner náckt an den Pránger gestéllt,
léidet ein Lánd, dem Dánk zu schúlden Dír Rédensárt wár. …

Sáuf endlich, sáuf! schréien der Kómmissáre Claquéure,
doch zórnig gíbt Sókrates Dír den Bécher rándvoll zurúeck.

-/-/- -/- -/
/- -/-/-/-//-//
/- -//- -/-/- -/-
-/-//- -/-/-/- -/

Mit Verlaub – ein Gedicht weist sich nicht dadurch aus, dass keine Strophe der nächsten gleicht. Anders ausgedrückt: Die Prosa bleibe dein Revier. Doppelhebungen jedenfalls waren weder im 18. noch im 21. Jahrhundert erlaubt, weil sie nachweislich zur Schnappatmung führen. Oder man landet ersatzweise mit der Hebung auf eher sinnentleerten Silben wie z.B. hier dem ‘war’. Dann klingt’s wie ‘Erstklässler lesen den Erlkönig’ …
http://www.stilstand.de/grasses-versmas/


Ach ja, die Schnappatmung, Abhilfs-Ratschläge hier:

Füllet die Zeilen mit würdigem Stoff und ohne Verflachung.
Lasset es glühen das Wort! Asche kommt leider von selbst.

Stets zu Schwärmen geballt fliegt das Volk geschwätziger Stare.
Einsam ;-) flieget der Aar, wahrer Star, droben die Bahn.

Vielschreiber täuschen sich oft mit lateinischem “Linea nulla”,
Ach behielten sie doch manches, nein vieles bei sich.

valete
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Tiberis » Mo 4. Jun 2012, 00:56

es ist schon erstaunlich, wie wenig ahnung jene von antiker metrik haben, die da glauben, ihren senf zu diesem gedicht dazugeben zu müssen.
da ist die rede von "asklepiadeischer ode" - welche eigentlich? da es sich bei Grass um zeilenpaare handelt, käme nur die vierte asklepiadeische strophe in betracht - theoretisch, denn in wahrheit gibt es in dem gedicht keinen einzigen vers, der aus asklepiadeen bestünde.
ein anderer wiederum vermeint, die verszeile "was mit der seele gesucht, gefunden dir galt" (v.3) sei ein "klassischer hexameter". :hairy: gut, dass er das sagt. ich wäre nämlich nicht draufgekommen. wenn jemand den schnabel schon so weit aufreißt wie dieser herr Florian Bayer, sollte er wenigstens bis sechs zählen können.
denk ich an deutschland in der nacht... :(
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Zythophilus » Mo 4. Jun 2012, 06:41

Ein solcher Hexameter, wie Bayer ihn erkennt, ergibt in unheiliger Allianz mit einem Pentameter schon
einen
Distichon, falls hier nicht ein Abschreibfehler vorliegt.
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Tiberis » Mo 4. Jun 2012, 12:03

es ist leider kein abschreibfehler und auch kein einzelfall. an anderer stelle schreibt Bayer : "..verleiht der sprache... einen (!) schmerzhaften, übertriebenen pathos" :hairy:
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Zythophilus » Mo 4. Jun 2012, 18:54

Es gibt Anklänge an Hexameter und auch an ganze Distichen. Ist das Absicht, so kann man darüber geteilter Meinung sein; wollte Grass selber Hexameter fabrizieren, ist er auf jeden Fall gescheitert. Bayer glaubt eben, er wisse besser als die meisten Leser Bescheid, und um glänzen zu können, verwendet er ein paar griech. Ausdrücke, die manche noch aus der Schulzeit kennen.
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Re: Verse voll Maß

Beitragvon Zythophilus » Mo 4. Jun 2012, 18:54

Graecia, te querimur per faenora magna ruisse,
cum careat nummis torta crumina suis.
Graecia, tu nobis artes et uerba dedisti:
Num nummos poteris reddere, Achaia, datos?
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