Ars versus scientia

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Ars versus scientia

Beitragvon Brakbekl » Do 1. Nov 2012, 12:36

latein müßte es ja Ars scientiam versum (us) heißen ..... aber es ist ja ein deutscher Satz der als Titel steht.

Hallo, es handelt sich um den sehr lesenswerten und zu wenig bekannten Aufsatz Richard Schröders betitelt mit "War die copernicanische Reform der Astronomie ein Weltbildwandel?" zu dem ich etwas fragen möchte:

Deinde causas earundem, seu hypotheses, cum veras essequi nulla ratione possit, qualescumque excogitare et confingere, quibus suppositis iidem motus ex geometriae principiis, tam in futurum, quam in praetaeritum recte possint calculari. Horum autem utrumque egregie praestitit hic artifex" aus Osianders Vorwort ad lectorem de Hypothesibus Huius Operis (De revolutionibus) in Zekl "Das neue Weltbild", Meiner 2006, s. S. 60
Osiander gibt damit das damals allgemein verbreitete resignative Verständnis der Astronomie wieder, das bis auf Ptolemaeus selbst zurückgeht. Sie ist nicht Wissenschaft, sondern ars, Rechenkunst, die an der Wissenschaftlichkeit nur insoweit Anteil hat, als sie bei ihren Konstruktionen die Grundsätze der Geometrie respektiert.

http://books.google.de/books?id=1vHaiN3 ... 22&f=false

Ich möchte auf den hier von Schröder hingestellten Gegensatz von Wissenschaft und Kunst zu sprechen kommen und fragen, -vor dem Hintergrund, daß es zu Osianders Zeit noch kein positivistisches Wissenschaftsideal gab, wie wir es heute pflegen - ob es denn zu seiner Zeit schon einen Kanon an Wissenschaften (etwa die 4 Faculates?) im Gegensatz zu den artes liberales gegeben habe, und von wem dieser, zu O. Zeit gültige, stamme, und ob davon auszugehen ist, daß Osiander sich bei Schreiben dieses Satzes jenes erwähnten Gegensatzes wohl bewußt war oder ob es sich hier evntll um ein Konstrukt Schröders (Verfasser) handelt, welches sich auf dem Hintergund des modernen Vorbildes eingeschlichen hat.

Zur Illustration meiner Zweifel noch zwei andre Stellen aus jenem Vorwort Osianders zu de revolutionibus:
Im Eingangssatz schreibt Osiander nämlich "...putentque disciplinas liberales recte iam olim constitutas turbari non oportere" und dies übersetzt Zekl mit "die edlen ... Wissenschaften..". Nun kennen wir zwar artes liberales, aber scientiae liberales sind mir nicht geläufig - was nicht heißen muß, daß es sie nicht gegeben habe. An einer andren Stelle übersetzt Zekl den Satz Osianders "Satis enim patet, apparentium inaequalium motuum causas, hanc artem penitus et simpliciter ignorare." mit "Es ist ja hinreichend bekannt, daß diese Wissenschaft die Ursachen der erscheinenden ungleichmäßigen Bewegungen schlicht überhaupt nicht kennt." Zekl s. S. 63
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon RM » Do 1. Nov 2012, 13:05

Die typischen Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst gibt es heute nicht mehr.
Früher war das Hauptziel wissenschaftlicher Betätigung die Frage, nach welchen Prinzipien die Natur funktioniert. Heute sehen wir jedoch gerade in den Naturwissenschaften die Tendenz, die Naturgesetze nicht nur beobachten und verstehen zu wollen, sondern mit deren Hilfe Dinge zu entwickeln, die in der Natur nicht vorkommen. Während dieser Ansatz früher weitgehend auf die Mechanik beschränkt war, erfasst dieses Denken inzwischen den gesamten Bereich der Naturwissenschaft: Wir wenden also unsere Kreativität an, um Neues zu schaffen. Dasselbe passiert in der Kunst. Aber auch hier ist ein Wandel eingetreten: Während früher meist die Natur abgebildet wurde, werden heute Werke geschaffen, die darüber weit hinausgehen.

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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Brakbekl » Do 1. Nov 2012, 13:13

RM hat geschrieben:Früher war ....

Wann, bei wem?

Es geht bei meiner Frage genau um zwei Zeiten, um Osianders und um unsere....
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon RM » Do 1. Nov 2012, 17:46

Mit "früher" meine ich bis ca. zum 18. Jhdt.

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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Laptop » Fr 2. Nov 2012, 06:29

Zuerst einmal ist der Unterschied zw. ARS und SCIENTIA nicht der zw. Können u. Kenntnis, denn der ist gering, sondern der zw. angewandtem(!) Können/Kenntnis und bloßer Kenntnis. Das eine ist praktischer Natur, das andere theoretischer. Ferner darf man ARS nicht auf “Kunst” in unserem heute weit verbreitetem Sinne als schöpferische Kunst verengen. Bspw. hat die Kunst auf einem Kamel zu reiten nichts schöpferisches an sich. Die einzige Wissenschaft, die seit alters her keine Anwendung hat ist die Philosophie. Daher brauchte es auch keinen Überbegriff, sondern nur: Philosophia (später dann auch: Theologia, Ontologia).

Zu deiner Frage nach den höheren Fakultäten (facultates superiores) in Abgr. zu den propädeutischen artes liberales. Diese waren im Mittelalter drei: Theologie, Recht, Medizin.
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Brakbekl » Fr 2. Nov 2012, 09:24

Danke Laptop, später scheint dann erst die Philosophie hinzugetreten zu sein. Und es muß doch jemand gewesen sein, der das theoretisch begründet hat, d. h. der die Wissenschaften (doctrinae, scientiae) von den Artes abgetrennt hat, der gesagt hat, warum das eine Wissenschaft, das andere Kunst ist. Aristoteles wird das ja nicht gewesen sein, weil bei ihm Theologie eher keine Disziplin war, oder?
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Prudentius » Fr 2. Nov 2012, 10:50

Aristoteles wird das ja nicht gewesen sein,


es war eher der platonische Sokrates, bei ihm steht der Gegensatz von techne, handwerklichem Know-how, und episteme, Wissen mit Einsicht in die Gründe, im Vordergrund, er war am Marktplatz aktiv und führte die cleveren Geschäftsleute und Politiker in die Aporie, in das Eingeständnis des Nichtwissens, sie wussten über die einfachsten Grundfragen, was für den Menschen letztlich gut ist, nicht Bescheid. Platon selbst musste sich gegen den aufkommenden Relativismus der Sophisten zur Wehr setzen (Satz des Protagoras: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge"), objektive, verbindliche Wahrheitserkenntnis drohte unterzugehen, wenn jeder einzelne seine eigene Wahrheit haben sollte: es war eine echte "Grundlagenkrise der Wissenschaft", wie wir modern sagen, Platon setzte seine Ideenlehre dagegen; diese wird oft verkannt, man verharmlost sie, wenn man sagt, Platon hing metaphysischen Träumen von ewig-seienden himmlischen Ideen an. Platon musste eine Basis schaffen, auf der Wissenschaften aufbauen konnten.

Gruß P. :)
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Brakbekl » Fr 2. Nov 2012, 11:54

Also, Osiander war im ordentlichen Lehrbetrieb m. w. beschäftig. Für das beginnende 16. Jahrhundert jetzt mit Plat. und Ar. zu kommen - da denke ich, dazwischen hat es noch jemand gegeben, der das für diese Zeit begründet hat, der also die Autorität für diese Zeit war, wenn denn die behauptete Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft von Schröder oben so hingenommen werden kann. Hat denn die Scholastik zu der Frage nichts gesagt?
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Laptop » Sa 3. Nov 2012, 11:01

@brakbekl Die Unterscheidung von Kunst und Wissenschaft, an der du deine Frage aufhängst, ist eine Unterscheidung der dt. Sprache, nicht der Lateinischen. “musica” steht elliptisch für “ars musica”. “rhetorica” steht elliptisch für “ars rhetorica” u. dgl. m. D. h. vieles was bei uns “Wissenschaft” ist, war dem Römer eine ars. Das Wort “scientia” für “Wissenschaft” ist ja bekanntlich unklass.
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Brakbekl » Sa 3. Nov 2012, 11:08

Ok, dann läßt sich Schröders oben zitierter Unterscheidungssatz für die damalige Zeit (Osiander) so nicht halten, oder?
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon RM » Sa 3. Nov 2012, 11:18

Laptop hat geschrieben:Das Wort “scientia” für “Wissenschaft” ist ja bekanntlich unklass.

Wird aber von Celsus für die Medizin durchaus verwendet.
Ich bin jedoch der Meinung, dass die Unterscheidung zwischen "scientia" als "Wissen" (also der systematisch gesammelten Kenntnis, durchaus auch im Sinn von "Wissenschaft") und "ars" als Fertigkeit, dieses Wissen kreativ anzuwenden, durchaus vorhanden war.

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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Brakbekl » Sa 3. Nov 2012, 12:14

Leute, Erkenntnistheorie ist eine ganz alte Disziplin, auch wenn sie nicht immer so hieß. Es hat aber zu Zeiten Osianders sicherlich eine Koryphäe gegeben, auf die man sich berief. Wer ist es also gewesen?
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Re: Ars versus scientia

Beitragvon RM » Sa 3. Nov 2012, 16:49

Ich verstehe jetzt vielleicht das Problem zu wenig, aber das Ganze hat doch mit Astronomie nichts zu tun - das ist alles rein politisch zu sehen: Osiander hat den Kopernikus in einer leicht abgeschwächten Form veröffentlich, aber er hat ihn veröffentlicht. Da man damals als Autor noch einer strengen Zensur unterlag, war es schon geboten, keine Dinge zu schreiben, die verhindern könnten, dass ein solches Werk erscheint. Man durfte z.B. bestimmte Dinge nicht als absolute Wahrheit darstellen. Dass Galilei später Schwierigkeiten bekam, lag auch mehr an seinem Verhalten gegenüber den kirchlichen Institutionen als an dem, was er schrieb. Er hätte seine Kenntnisse wohl ohne allzu große Änderungen an seinen Veröffentlichungen verbreiten können, ohne einen derartigen Konflikt mit der Zensurbehörde zu provozieren.

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Re: Ars versus scientia

Beitragvon Brakbekl » Sa 3. Nov 2012, 21:03

Danke, RM, für den Beitrag. Es geht darum, ob man den roten Satz im 1. Posting so stehen lassen kann, besonders die Entgegensetzung von Wissenschaft und Kunst, also, ob da Gedanken Osianders wiedergegeben werden, oder ob dieser etwa ein auf modernen Kategorien beruhendes Missverständnis wiedergibt.
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Re: Die Koryphäe

Beitragvon Prudentius » Sa 3. Nov 2012, 21:53

Es hat aber zu Zeiten Osianders sicherlich eine Koryphäe gegeben,


Diese hat es nicht gegeben, du musst erkennen, Osiander gibt hier wieder, was der Mainstream in Antike und Ma. war, communis opinio, die Scholastik pendelt zwischen Platon und Aristoteles, es gab im Spätmittelalter die Tendenz zur Naturforschung, aber sie berief sich auf Aristoteles, und der hatte sich ja für das geozentrische Weltbild entschieden, für das empirisch Wahrnehmbare, gegen die platonischen metaphysischen Spekulationen. Die Ironie der Geschichte lag ja darin, dass das nztl. Weltbild Galileis platonischer war als es sich die traditionalistischen Platoniker vorgestellt hatten, ein Triumph der Ratio, die Gravitation als universales Prinzip.

P. :)
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