aufheben

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aufheben

Beitragvon sinemetu » Mo 29. Jun 2015, 11:58

Hallo, sicherlich weithin bekannt, die hegelsche Dialektik, in der aufheben ein Zentralbegriff.

Die beiden antithetischen Begriffe, die einen Widerspruch miteinander bilden, werden in einem dritten umfassenderen, höheren, wahreren »aufgehoben«, in dem dreifachen Sinne dieses Wortes: nämlich verneint oder negiert, erhöht oder eleviert und bewahrt oder konserviert, indem sie in ihm als berechtigte Momente, die aber jedes nur die halbe Wahrheit enthalten, weiterleben.
Zitiert nach Friedell: Buch 4 Kapitel 1 "Die dialektische Methode" s. S. 79

Ich bekomme die beiden Bedeutungen konservieren und elevieren sprachbildlich konkretisiert, aber zur dritten Bedeutung, der Negation fehlt mir jede Verbindung.

Ein Mann geht des Wegs. Irgendetwas glänzendes am Boden zieht seine Aufmerksamkeit an. Er bückt sich und hebt es auf. Bei näherer Betrachtung stellt es sich als eine Münze aus alter Zeit heraus. Er steckt sie sich in die Hosentasche, um sie zu hause bestimmen zu können. Dort stellt sich heraus, daß sie ein recht seltenes Exemplar ist, und in jedem Fall wert, aufgehoben und verkauft zu werden.

An dieser kleinen Geschichte sehen wir, wie die beiden Bedeutungen elevieren und konservieren auseinander hervorgehen. Wie aber mag die Bedeutung negieren sich dazu verhalten? Warum werden Gesetze aufgehoben? Ist sie etwa eine Prägung des Berliner Schwaben? Was ich weniger glaube, denn schon der Neue Bund hebt den Alten auf.
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Re: aufheben

Beitragvon RM » Mo 29. Jun 2015, 18:53

sinemetu hat geschrieben:..., aber zur dritten Bedeutung, der Negation fehlt mir jede Verbindung.

Ganz einfach: Wenn man die Tafel aufhebt, trägt man die Tische nach draußen und dann sind sie weg.

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Re: aufheben

Beitragvon sinemetu » Mo 29. Jun 2015, 20:50

Bist Du sicher, daß auch Gesetze deshalb aufgehoben werden..... :book:
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Re: aufheben

Beitragvon Zythophilus » Mo 29. Jun 2015, 21:52

Hat das deutsche Verb "aufheben" die Bedeutung "beseitigen" o.ä. ursprünglich oder ist es eine Lehnübersetzung von tollere?
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Re: aufheben

Beitragvon Laptop » Mo 29. Jun 2015, 23:45

Ich komme eher mit dem "erhöht und eleviert" nicht zurecht. Was soll das heißen?

Der Rest ist mir eigentlich klar. "Aufheben" im Sinne von logisch oder semantisch unterbringen, so wie man zwei sich z. B. ggü. stehende Begriff im Überbegriff unterbringt, Mann und Frau werden im Überbegriff "Mensch" untergebracht.

Normalerweise werden Widersprüche aufgelöst. Antithesen synthetisiert. Gegensätze aufgehoben oder in Einklang gebracht. Hegel verwendet wohl statt dem deutschen Wort "Gegensatz" "Antithese. Aber mir wird da abstrakt zuviel in einen Topf gerührt: Widersprüche sind Paradoxa. Antithesen sind im neueren Sprachgebrauch gegensätzliche Thesen, nicht unbedingt Widersprüche. Und Gegensätze und Konversen sind wieder etwas anderes.
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Re: aufheben

Beitragvon sinemetu » Di 30. Jun 2015, 10:01

Ich vermute in Richtung Zythophilos: legem ferre ..... das meint aber das Gegenteil, nämlich ein Gesetz in Vorschlag bringen. Könnte aber eine Bedeutungsverschiebung erlebt haben, denn wer ein Gesetz in Vorschlag bringt, will ein anderes (bestehendes) aufheben. Ansonsten haben sie dafür legem abrogare, auch seltsam, ein Gesetz abfragen ....

von der Sache her ist, daß etwas Kraft verliert, wenn es aufgehoben wird, nur die Sage von den Riesen, die man besiegt, wenn man sie in die Höhe hebt, bekannt .... könnte das auf die Nomoi gehen?
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Re: aufheben

Beitragvon sinemetu » Di 30. Jun 2015, 10:04

Laptop hat geschrieben:Ich komme eher mit dem "erhöht und eleviert" nicht zurecht. Was soll das heißen?


Ganz unphilosophisch "vom Boden aufheben" und in Gesichtsnähe bringen, d. h. erhöhen.
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Re: aufheben

Beitragvon Prudentius » Mi 1. Jul 2015, 08:16

"Aufheben" hat nichts mit Negation zu tun, es bedeutet suspendieren, außer Kraft setzen, außer Vollzug setzen; es kommt aus dem jur. Bereich: Gesetze, Vorschriften, Auflagen bedeuten eine Verpflichtung, d.h. eine Belastung, eine Bürde, die einen niederdrückt; Auflage kommt von auferlegen; bei der "Aufhebung" einer Vorschrift wird diese Last buchstäblich aufgehoben, also weggenommen.

"Konservieren" finde ich auch nicht sehr gut: "aufheben" bedeutet zurücklegen, aufbewahren, für späteren Gebrauch bereithalten; beim "Konservieren" denke ich an die Mumien.

"ab-rogare": rogare heißt einen Gesetzesantrag einbringen, ein Gesetz beschließen lassen wollen; ab-rogare heißt dann, einen Antrag auf Abschaffung eines Gesetzes einbringen.

Die hegelsche Dialektik ist ein Erbstück Platons, Hegel folgt ziemlich eng dem Neuplatoniker Proklos, und über Marx wurde sie dem Diamat einverleibt, wodurch sie auch noch bei uns eine gewisse Bekanntheit genießt :-D .
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Re: aufheben

Beitragvon sinemetu » Mi 1. Jul 2015, 09:31

Prudentius hat geschrieben:"Aufheben" hat nichts mit Negation zu tun, es bedeutet suspendieren, außer Kraft setzen, außer Vollzug setzen; es kommt aus dem jur. Bereich: Gesetze, Vorschriften, Auflagen bedeuten eine Verpflichtung, d.h. eine Belastung, eine Bürde, die einen niederdrückt; Auflage kommt von auferlegen; bei der "Aufhebung" einer Vorschrift wird diese Last buchstäblich aufgehoben, also weggenommen.


Danke, das klingt mir plausibel, Prudentius ... gibt es dafür Nachweise? Das hieße auch, daß das Latein kein Vorbild lieferte für das Sprachbild Gesetze aufheben.
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Re: aufheben

Beitragvon Laptop » So 5. Jul 2015, 08:19

Prudentius Erläuterung ist gut. Ich denke "aufheben" ist wirklich größtenteils mit tollere gleichzusetzen. Also in erster Linie "wegnehmen, entfernen".
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Re: aufheben

Beitragvon Zythophilus » So 5. Jul 2015, 09:54

Es gibt durchaus Wendungen wie lex lege tollitur. Ich sehe "aufheben" sehr wohl als Lehnübersetzuung.
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Re: aufheben

Beitragvon Prudentius » Mi 8. Jul 2015, 15:52

Ich versuche es noch einmal neu und schimpfe euch alle (mich selbst einbeschlossen) zuerst ein wenig aus :-D :

Ihr tappt vollkommen im Dunkeln, es geht hierbei um das Auf und Ab in einer Begriffspyramide: nehmt einmal "Weißwein" und "Rotwein" auf der einen Ebene, und eine Stufe darüber "Wein".
Der Gegensatz weiß : rot ist auf der höheren Ebene "aufgehoben" in dem dreifachen Sinn: beseitigt, denn Wein allgemein hat keine Farbe; "bewahrt", denn wenn wir wieder abwärts gehen, sind die Farben wieder da; dann werden sie auch wieder "aufgenommen".

Noch näher liegt uns die Illustration mit dem Baumdiagramm und seinem Auf und Ab: Wir haben Ordner "Parisreise", "Londonreise", beide in einem Oberordner "Reisen"; Paris und London sind in dem Oberordner "augehoben" in dem dreifachen Sienn: das ist ja trivial, werdet ihr jetzt sagen: aber ihr seid nicht alleine darauf gekommen.

Hegel ist ja wie gesagt ein Platoniker, diese beschäftigten sich mit den Fragen, wie man von der Sinnenwelt zu den Ideen gelangt. Die Dialektik ist ein Versuch, die metaphysische Kluft zwischen den Bereichen zu überbrücken.
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Re: aufheben

Beitragvon Zythophilus » Mi 8. Jul 2015, 19:16

Ich trinke lieber Bier als Wein.
Das Wort tollere heißt in seiner eigentlichen Bedeutung "etwas von einem Platz in einen höher gelegenen bringen".
Ist dieser höhere Platz als der wichtigere zu verstehen, dann heißt tollere in einem übertragenen Sinn "loben" o.ä.
Nimmt den Aspekt, dass das "aufgehobene" Objekt keine Wirkung auf seinen ursprünglichen niedrigeren Platz ausübt, dann wird es zu "beseitigen" (auch dieses Wort geht ja von einem ursprünglich lokalem Verhältnis aus).
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Re: aufheben

Beitragvon Laptop » Mi 8. Jul 2015, 22:18

Abstrahiert man speziellere Begriffe zu einem allgemeineren, oft einem Oberbegriff, gehen natürlich gewissen Eigenschaften verloren, das hat Abstraktion ja so an sich. Man kann durchaus sagen, daß man vom Begriff "Haus" etwas wegnimmt, wenn man ihn durch "Gebäude" ersetzt, das ist ja trivial. Hegel mischt aber dazu noch Gegensätze, so daß es etwas unübersichtlich wird. Gegensätze haben erst einmal mit Abstraktion nicht viel zu tun.

Achso, sehe gerade, daß dieses Zitat
Die beiden antithetischen Begriffe, die einen Widerspruch miteinander bilden, werden in einem dritten umfassenderen, höheren, wahreren »aufgehoben«, in dem dreifachen Sinne dieses Wortes: nämlich verneint oder negiert, erhöht oder eleviert und bewahrt oder konserviert, indem sie in ihm als berechtigte Momente, die aber jedes nur die halbe Wahrheit enthalten, weiterleben.

nicht von Hegel stammt, sondern aus Sekundärliteratur. Alles theoretisieren ist m. E. müßig solange man es nicht anhand von Beispielen festmacht.
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Re: aufheben

Beitragvon Prudentius » Fr 10. Jul 2015, 10:13

...gehen natürlich gewissen Eigenschaften verloren, das hat Abstraktion ja so an sich


Ich versuche mal, mich in den Blickwinkel der Platoniker, zu denen Hegel ja gehört, zu versetzen, und da würde ich das etwas anders akzentuieren; ihr Hauptanliegen ist ja, die Kluft zwischen der fließenden Sinnenwelt und den überzeitlichen geistigen Gegenständen zu überbrücken; die Abstraktion bezeichnet dabei die eine Richtung, von unten nach oben, schrittweise wird das Konkrete "abgestreift", es geht von dem hölzernen Rad bis zu der geometrischen Definition von "Kreis", in der nur noch von Punkten und deren Abständen die Rede ist. Ob es sich bei dem Abgestreiften um Gegensätze handelt, ist nicht so wesentlich: das Konkrete wird abgestreift (hier das Holz); die "Unterschiede" werden aufgehoben, die manchmal Gegensätze sind, wie warm/kalt, rot/weiß, hell/dunkel (das Bier wird immer mitbedacht :-D ).

Der Hauptgegensatz der Platoniker ist dieser: Vielheit und Einheit, die Dialektik ist der Versuch ihrer Überbrückung.

Den Begriff "aufheben" in diesem mehrdeutigen Sinn haben wir in unserer Sparte auch - man muss aber eine spekulative Ader haben, um ihn wahrzunehmen:

- Bei einem l. Wort gibt das Lexikon 6 Bedeutungen an; in einem bestimmten Satz hat es aber nur eine davon; dann sind die fünf anderen Bedeutungen "aufgehoben";
- ein Verbum hat ein Numerus-Merkmal; der Infinitiv aber hat keines; also ist hier dieses Merkmal "aufgehoben";
- in unserem Rechner haben wir die Funktion "kopieren"; wenn aber nichts markiert ist, ist diese "aufgehoben"; in der Fachsprache sagt man wohl deaktiviert, grau unterlegt.

Hegel hat in Ost- und Westdeutschland Bedeutung gehabt, aber ganz unterschiedlich: im Osten war er der Stammvater der "wissenschaftlichen Weltanschauung", der aber von Marx erst "vom Kopf auf die Füße gestellt" werden musste; im Westen war er der letzte Höhepunkt der langen metaphysischen Geistesgeschichte, der letzte, der sich noch so einen großen Wurf wie eine Gesamtdeutung der Welt zutrauen konnte.
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