Sprechtradition

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Sprechtradition

Beitragvon sinemetu » Di 21. Jun 2016, 10:42

Wenn jemand ein Wort liest, und er hat es noch nie gesprochen gehört, spricht er es erst einmal aus, wie er meint, es müsse ausgesprochen werden. Dabei lehnt er sich wahrscheinlich an gleich geschriebene Silben in anderen Wörter an.

Hier haben wir so einen Fall. Der Mann kannte nicht die Aussprache von Prophetie, Prophetien. Er weiß nicht, daß das lange I am Ende durchgehalten wird. Er hat das Wort gelesen und lehnt sich in der Aussprache an ein anderes, an die durch Trema getrennte Aussprache in solchen geografischen Begriffen wie Mikronesien, Kaukasien etc. an.

Ab 1:49 kann man das Wort falsch bzw. untradiditionell ausgesprochen hören.

https://www.youtube.com/watch?v=XvZD1furUB8

Wird er jetzt zum Begründer einer neuen Sprechtradition?
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Tiberis » Do 23. Jun 2016, 23:11

sinemetu hat geschrieben:Wenn jemand ein Wort liest, und er hat es noch nie gesprochen gehört, spricht er es erst einmal aus, wie er meint, es müsse ausgesprochen werden. Dabei lehnt er sich wahrscheinlich an gleich geschriebene Silben in anderen Wörter an.
Wird er jetzt zum Begründer einer neuen Sprechtradition?


sicher nicht. bevor man an die aussprache denkt, sollte man sich nämlich über bedeutung und herkunft des fraglichen wortes im klaren sein. dann ist eine ausspracheanalogie zu diversen ländernamen von vornherein ausgeschlossen.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon sinemetu » Fr 24. Jun 2016, 06:08

Tiberis hat geschrieben:sollte man sich nämlich über bedeutung und herkunft des fraglichen wortes im klaren sein.


Oft hat man das beschriebene Phänomen, bei Ausländer, die gerade Deutsch lernen, und die Worte nach ihrem Gutdünken formulieren.

Also, die Bedeutung war dem Sprecher schon klar. Wir leben in einer nachchristlichen Kultur, in einer Kultur, in der das offene Zeigen von christlicher Haltung und Bildung und Denkungsart, oder was dafür gehalten wird, mehr oder weniger verpönt ist. Nichtsdestotrotz bewegt der Inhalt der Bibel viele Menschen, viel mehr als es äußerlich scheint, wobei die "Bewegten" mehr in den Sekten, als in den Großkirchen zu finden sind. Dort findet auch Austausch und "Lehre" statt. Dies Belegen die unzähligen Bibelseiten im Weltnetz. Es gibt unter diesen Bewegten nicht wenige, die einem Bibelstudium unbeleckt von aller universitären und bezahlten Theologie betreiben. In solchen Kreisen ist imho der Sprecher zu suchen, und ich habe in meinem Leben des öfteren solche Leute getroffen. Man wird Ihnen keinen Vorwurf machen können, den griechischen Hintergrund zum Worte und dessen Aussprache nicht parat zu haben. Sie sind von der Sache bewegt.

Was mich eher wundert ist, daß der Prophet ständig mit dem "Voraussager", also jemand, der eine Ereignis voraussagt, well er die Fähigkeit habe, ein objektives Geschehen in seinem Inneren zu schauen. Ich habe noch nirgends die Interpretation gehört, das er jemand sei, der die Zukunft beeinflußt, daß nämlich das "geschaute" Ereignis eintritt, weil er es voraussagt.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Zythophilus » Fr 24. Jun 2016, 06:51

Tiberis hat geschrieben:bevor man an die aussprache denkt, sollte man sich nämlich über bedeutung und herkunft des fraglichen wortes im klaren sein

Über die Bedeutung eines Wortes sollte man sich tatsächlich im Klaren sein. Bezüglich der Herkunft wäre es schön, ist aber oft nicht so. Wer denkt daran, dass "Joghurt" aus dem Türkischen kommt?
Im Deutschen werden Fremdwörter tatsächlich oft so bzw. so ähnlich wie in der Originalsprache ausgesprochen, wenngleich das nicht immer ganz klappt. Sogar bei dem oft hervorgeholten Wort "Chance" ist die bundesdeutsche Aussprache der Versuch, die französische nachzuahmen. Wörter werden eingedeutscht, um eben die Schreibung an die Aussprache anzupassen.
Im Englischen geschieht das meist nicht. Das Wort bleibt in seiner Form unverändert, während sich die Aussprache analog zu schon vorhandenen englischen Wörtern gestaltet.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Prudentius » Sa 25. Jun 2016, 15:41

sinemetu hat geschrieben: ... in einer Kultur, in der das offene Zeigen von christlicher Haltung und Bildung und Denkungsart, ... verpönt ist.


Das war doch schon immer so, dafür sind die Pharisäer sprichwörtlich.

Die Prophetie hatte bei den Gr. eine andere Bedeutung, sie war nicht so sehr auf die Zukunft, sondern auf Gegenwart und Vergangenheit gerichtet; das pro- von Prophet hat nicht die Bedeutung "vorher", sondern "hervor"; der Seher ist der, der das Verborgene ans Licht zieht; im "König Ödipus" des Sophokles offenbart der Seher Teiresias nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart und Vergangenheit des Ödipus: er sagt ihm, wer er ist und was er getan hat; dieser aber ist in tragischer Verblendung befangen und erkennt es nicht.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Tiberis » So 26. Jun 2016, 14:59

Prudentius hat geschrieben:im "König Ödipus" des Sophokles offenbart der Seher Teiresias nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart und Vergangenheit des Ödipus:


nicht so bei Homer (Od.11,99ff): hier weissagt derselbe Teiresias dem Odysseus sehr wohl die zukunft.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Medicus domesticus » So 26. Jun 2016, 15:54

Tiberis hat geschrieben:
Prudentius hat geschrieben:nicht so bei Homer (Od.11,99ff): hier weissagt derselbe Teiresias dem Odysseus sehr wohl die zukunft.

Ja, aber Homer benutzt μάντις...ein kleiner Unterschied zum Wort προφήτης, das erst später (im LXX und NT) die Bedeutung für Vorausseher in die Zukunft erhielt.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Zythophilus » So 26. Jun 2016, 16:06

In unserem Sprachgebrauch wird das Wort "Prophet" zumeist im religiösen Kontext für entsprechende Personen aus dem Alten Testament sowie den Propheten des Islam verwendet. Ähnliche Figuren aus der griech.-röm. Mythologie werden meist nicht mit diesem griech. Begriff, sondern als "Seher" bezeichnet.
Atl. Propheten sagen die Zukunft i.d.R. nicht als etwas voraus, das zwangsläufig eintreten wird, sondern als Folge von aktuellen Missständen.
Das griech. Wort προφήτης kommt m.E. schon vom Verb πρόφημι, also "vorhersagen".
Von einem uates erwartete man sich natürlich Aussagen über die Zukunft (sehr detailliert z.B. im 6. Buch der Aeneis), und die Römer hatten verschiedenste Praktiken, wie sie etwas darüber herausfinden wollten.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Medicus domesticus » So 26. Jun 2016, 16:17

Die Bedeutungen von προφήτης sind relativ klar im LSJ aufgeführt. Die Bedeutung "in die Zukunft voraussehen" hat sich erst spät entwickelt. Prinzipiell war es einer, der den Willen eines Gottes übermittelt und interpretiert hat.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Tiberis » So 26. Jun 2016, 23:22

Medicus domesticus hat geschrieben:Ja, aber Homer benutzt μάντις...ein kleiner Unterschied zum Wort προφήτης

auch bei Sophokles wird Teiresias als μαντις bezeichnet, also als "seher". und ein solcher verkündet, anders als von Prudentius behauptet, selbstverständlich auch künftige ereignisse (s.o.).
Medicus domesticus hat geschrieben: Prinzipiell war es einer, der den Willen eines Gottes übermittelt und interpretiert hat.

was natürlich genauso auf den μαντις zutrifft. allzu groß dürfte somit der bedeutungsunterschied zwischen den beiden begriffen nicht sein.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Prudentius » Mo 27. Jun 2016, 08:12

Prudentius hat geschrieben:... sie war nicht so sehr auf die Zukunft, sondern auf Gegenwart und Vergangenheit gerichtet;


Ich schließe ja die Zukunft nicht aus, das Verborgene ist ja u.a. die Zukunft; aber wir haben so einen Sprachgebrauch: "Ich bin kein Prophet", d.h. ich weiß nicht, wie die Partie ausgehen wird.

Bei Horaz geht Odysseus zu Teiresias, um sich Rat zu holen, wie man ohne viel zu arbeiten zu Geld kommen kann; er bekommt zur Antwort: man muss sich bei den reichen Greisen einschmeicheln. Der Seher stellt ihm also ein verborgenes Berufsbild vor Augen, aber die Zukunft prophezeit er nicht.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Laptop » Mi 6. Jul 2016, 03:25

Prudentius hat geschrieben:das pro- von Prophet hat nicht die Bedeutung "vorher", sondern "hervor"

Das bezweifle ich etwas, denn alle etymologischen Erklärungen, die ich dazu finden kann, geben an, daß es von πρό (vorher) + φήμι (ich sage) stammt. Unser Zythophilus sieht das wohl auch so. Ob das nun auf die Gegenwart oder Zukunft bezogen wird ist egal, Hauptsache ist, daß man ein Ereignis voraussagt.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Prudentius » Mi 6. Jul 2016, 08:11

Laptop hat geschrieben: ... daß es von πρό (vorher) ... stammt.


Das ist zu eng gesehen! Bedenke das Beispiel der Ödipus-Tragödie! Weitere Beispiele: Über Sokrates verkündet das Orakel, dass niemand weiser sei als er, und das ist ihm eine sehr verborgene Wahrheit, wo er sich doch seines Nicht-Wissens bewusst war, und er machte sich auf eine geistige Reise zur Erkundung.

Vergleiche das entspr. l. pro-! Pro-d-ire heißt aus dem Verborgenen hervorkommen, hervorgehen, entstehen; prodere verraten, d.h. was verborgen bleiben sollte, ans Licht ziehen.

Die Orakel, Weissagungen sind ja sprichwörtlich dunkel, missverständlich; das ist ganz natürlich, der Orakelempfänger ist ja gewöhnlich in derr Situation des Realitätsverlusts; aus dieser kommt man nicht durch eine einfache wahre Information heraus (dafür braucht der Psychiater viele Sitzungen :-D ). Heraklit sagt, der Gott in Delphi spreche nicht, sondern gebe Zeichen.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Tiberis » Mi 6. Jul 2016, 13:42

Prudentius hat geschrieben:Vergleiche das entspr. l. pro-! Pro-d-ire heißt aus dem Verborgenen hervorkommen, hervorgehen, entstehen; prodere verraten, d.h. was verborgen bleiben sollte, ans Licht ziehen.


ich muss dir leider schon wieder widersprechen, lieber Prudentius.
sicher, die lat. praeposition pro ist mit dem grch. προ eng verwandt und stimmt auch in ihrer bedeutung im großen und ganzen mit diesem überein, allerdings fehlt dem lat. wort - im ggs. zum griechischen - jede zeitliche komponente. zeitwörter mit dem präfix "vorher- , voraus- " beginnen im griechischen zwar mit προ- , im lateinischen jedoch mit prae- . der grch. προφητεια entspricht also lat. praedictio und nicht etwa prodictio.
umgekehrt hat das griech. präfix προ- nur selten die bedeutung hervor- , sondern zumeist vorher- , im voraus usw. ein blick in ein griechisch- wörterbuch liefert dafür unzählige belege.
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Re: Sprechtradition

Beitragvon Willimox » Do 7. Jul 2016, 08:46

Hm, hier eine Frage "aside", aber doch zum Thema :
Wie erklärt sich das bildungssprachliche , neulateinisch fundierte "pro-cras-tination"?
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