Latein und Präzision

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Latein und Präzision

Beitragvon sinemetu » Di 21. Feb 2017, 23:45

„Die Studenten sind gezwungen, präzise zu denken.“


Quelle: http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance ... ageIndex_2

Hier einer der regelmäßig in den conservativeren Qualitätsmedien auftauchenden Lateinwerbetexte.

Ich finde das Argument schlecht. Ich statuiere mal, daß die Präzision einer Sprache, die es durchaus gibt, weniger von der Sprachfamilie und der Grammatik, als von der Kulturstufe eines Volkes abhängt. Kann man Präzision des Ausdrucks messen? Erst wenn man es messen könnte, könnte man damit Vergleich anstellen. Und den Vergleich können auch nur Leute anstellen, die sich mit den Sprachen beschäftigen und beide zu vergleichenden Sprachen auf Muttersprachenniveau beherrschen.

Ich denke, daß Präzision wegen der technischen Umwelt, wo dies Wort unheimlich positiv dasteht, so hervorgehoben wird. Im 17. Jahrhundert hätte kaum ein Mensch davon geredet. Mich dünkt, daß "historisches Verständnis" ein viel gewichtigeres Argumente pro re ist.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 22. Feb 2017, 09:41

Da kommen wir wieder zur Diskussion Latein und Mathematik. Ich kenne zwar viele, die in Latein und Mathematik gut waren (mich eingeschlossen), aber auch die, die in Latein gut, in Mathe aber die totalen Nieten... ;-)
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon sinemetu » Mi 22. Feb 2017, 09:47

Ich weiss ja auch nicht, was Präzision hier meint. Vllt ist einfach nur guter und treffender Stil in einer differenzierenden und hoch entwickelten Sprache (sehr großer Wortschatz) gemeint?
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Tiberis » So 26. Feb 2017, 02:33

Medicus domesticus hat geschrieben:aber auch die, die in Latein gut, in Mathe aber die totalen Nieten


(mich eingeschlossen :lol: )

ja, dieser mythos von der angeblichen präzision des Latein und seiner sich daraus ergebenden affinität zur mathematik ist einfach nicht totzukriegen. abgesehen davon, dass bereits der begriff "präzision", bezogen auf sprache, höchst unscharf und somit auch unpräzise ist, bleibt immer noch die frage, wodurch sich das Latein, im vergleich mit anderen sprachen,denn das Prädikat "präzise" verdient haben sollte. Präzision und sprache schließen einander aus, und diejenigen, die - in bezug auf latein - das gegenteil behaupten, scheinen mir von der tatsächlichen komplexität und vielfalt sprachlicher ausdrucksmöglichkeiten wenig ahnung zu haben.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Prudentius » So 26. Feb 2017, 11:04

An der Affinität von L und M ist wirklich etwas dran, es fragt sich nur, worin diese besteht; nicht in den Fächern selbst, sondern auf der pädagogischen Ebene; beiden ist gemeinsam, dass der Schüler an einen Problembereich herangeführt wird und sich eine Lösung erarbeiten muss: er muss das vorgefundene Unverstandene auf ein vorher behandeltes Normensystem beziehen, also das verstreute Einzelne unter einen gesetzlichen Kausalzusammenhang stellen, und das nennt man erkennen und wissen, und das ist das pädagogische Unterrichtsziel "Wissenschaftspropädeutik", auch "problemlösendes Denken". Die "Präzision" liegt also im Subjektiven, der Schüler lernt präzis zu arbeiten.

Ich erinnere mich noch an unvordenkliche Zeiten, als ich Referendar war; da wurde uns das Programm "Arbeitsunterricht" beigebracht; als Exempla dienten aus der M. die Lösung einer Gleichung, und aus L die Erfassung einer Cäsar-Periode.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon sinemetu » So 26. Feb 2017, 11:59

Ich denke, eine der Tatsachen, die dazu verleiten von "Präzision" bei beiden Fächern zu sprechen ist das Arbeiten mit Algorithmen. Setzen wir mal das Lösen einer quadratischen Gleichung mit dem Entschlüsseln einer lat. Periode gleich, stellen wir fest, daß man eine Reihe ganz bestimmter nichttrivialer Arbeitsschritte unternehmen muß, um zu einem richtigen Ergebnis zu kommen. Die Arbeitschritte müssen gewusst und gekonnt werden.
Vielleicht war es diese Tatsache, die mit Präzision gemeint ist und nicht die Sprache als solche?

@Tiberim

wir hatten das Thema ja schon mal. So ganz kann ich dir nicht zustimmen. Zwar ist die Präzision des Ausdrucks etwas anderes, als die Präzision einer Messung, aber bei Ausdruck ist der Begriff Präzision schon angebracht, finde ich. Und da sind notwendigerweise Sprachen mit geringerem Vokabular und aus anderen Kulturstufen auf gewissen Gebieten einfach unpräziser als andere Sprachen, ganz einfach deshalb, weil es ihnen an dem Wissen, d. h. dem Wortschatz gebricht. Aber wie gesagt, hier geht Präzision auf Ausdruck, und nicht auf Sprache. Das Gegenwort wär unbeholfen.
Zuletzt geändert von sinemetu am So 26. Feb 2017, 12:52, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Medicus domesticus » So 26. Feb 2017, 12:16

Prudentius hat geschrieben:An der Affinität von L und M ist wirklich etwas dran...

Ich hatte auch lange so eine Vermutung. Sie stimmt aber nur umgekehrt: Viele, die in Mathematik sehr gut waren, waren das auch in Latein... ;-) Ich hatte ja LK Mathematik und LK Latein mit einer Kollegiatin zusammen als Kombination. Mein Vater war Physiker und auch ein guter Lateiner. Meine Schwester war auch gut in Mathematik und Latein. Meine eigene Tochter (12 J.) gut in Latein, Mathematik 4. :-o
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon marcus03 » So 26. Feb 2017, 14:57

Medicus domesticus hat geschrieben:Meine eigene Tochter (12 J.) gut in Latein, Mathematik 4.

Kann nur am defekten, dominanten Mathe-Gen der Mutter liegen. :wink:
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Tiberis » So 26. Feb 2017, 15:08

Prudentius hat geschrieben:beiden ist gemeinsam, dass der Schüler an einen Problembereich herangeführt wird und sich eine Lösung erarbeiten muss: er muss das vorgefundene Unverstandene auf ein vorher behandeltes Normensystem beziehen, also das verstreute Einzelne unter einen gesetzlichen Kausalzusammenhang stellen, und das nennt man erkennen und wissen, und das ist das pädagogische Unterrichtsziel "Wissenschaftspropädeutik", auch "problemlösendes Denken". Die "Präzision" liegt also im Subjektiven, der Schüler lernt präzis zu arbeiten.

Das ist schon richtig, hat aber weniger mit Latein an sich zu tun, als mit der gängigen methode, mit der diese sprache immer noch gelehrt wird. in der wahrnehmung der meisten schüler erscheint ein lateinischer text immer noch eher ein grammatisches konstrukt als eine sprachliche mitteilung, sodass sich die wenigsten überhaupt vorstellen können, dass Latein einmal problemlos gesprochen und verstanden wurde. aber selbst die "regeln", nach denen dieses konstrukt aufgebaut zu sein scheint, sind bei weitem nicht unumstößlich ( es gibt zahllose ausnahmen und varianten), jedenfalls nicht unumstößlicher als in zahlreichen anderen sprachen, dennoch wird suggeriert, dass es sich bei der "entschlüsselung" eines solchen textes quasi um eine gleichung mit mehreren unbekannten handle, die mit geradezu mathematischer präzision gelöst werden könne, was in der regel aber nur dazu führt, dass vor lauter bäumen der wald als solcher nicht mehr gesehen wird.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon marcus03 » So 26. Feb 2017, 15:21

Tiberis hat geschrieben:sodass sich die wenigsten überhaupt vorstellen können, dass Latein einmal problemlos gesprochen und verstanden wurde.

Dazu passt auch folgendes Schülerzitat:
"So wie wir übersetzen, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Römer wirklich so gesprochen haben." ;-)
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Zythophilus » So 26. Feb 2017, 15:33

Diese geradezu mathematische Herangehenswese an einen lateinischen Satz funktioniert zunächst recht gut, wenn man Elementarlehrbücher hernimmt. Da kommt, wenn man die Vokabel und die vorausgesetzte Grammatik beherrscht, tatsächlich fast automatisch ein schöner deutscher Satz als Übersetzung eines lateinischen heraus. Das ist auch so beabsichtigt. Schwieriger wird es, wenn man vor einem Satz eines lateinischen Autors steht, da Autoren ihre Sätze nicht nach o.g. Muster konzipieren. Da kommt ein Element dazu, das einer Gleichung m.E. abgeht, man muss sich nämlich Gedanken machen, was der Autor sagen will.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Prudentius » Mo 27. Feb 2017, 18:00

Da kommt ein Missverständnis auf, ich habe überhaupt nicht sagen wollen, dass wir mathematisch an den l. Satz herangehen sollen, sondern habe gemeint, dass eine Analogie besteht in dem Zusammenspiel von allgemeiner Regel und schulmäßig zu lösenden Aufgaben, dass in beiden Fächern der Schüler lernen muss, gelernte Theorie in der Praxis eigenständig zu verwerten, also eben abstrakte Regeln in concreto nutzbar zu machen.
Dass wir trotz Ausnahmen auf Regeln angewiesen sind, ist ja wohl unbestritten, denn wir sind ja auf die Möglichkeit "grammatischer Richtigkeit" angewiesen.

Ich habe den Eindruck, dass bei euch nicht allen bekannt ist, dass es auch den "logischen Airbag" bzw. die "logische Knautschzone" gibt :-D ; wir Philologen fühlen uns ja über den Formalismus des Mathematischen erhaben und werden dafür belächelt, dass wir uns in die freischwebende geisteswissenschaftliche Wolke zurückziehen. Wir dürfen aber nicht vergessen, wenn wir für unsere Fächer weiterhin in der Schule einen Platz sichern wollen, dass wir ihre Wissenschaftlichkeit nach heutigen Standards ausweisen müssen.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 27. Feb 2017, 18:32

Mein Gott, hätte ich schon fast zu Prudentius gesagt. Latein und Mathematik haben viele Verbindungen: Gauß; Newton usw. Viele hier verstehen das nicht: Warum ? Weil sie nur ihr Fach sehen. Im Prinzip Fachidioten sind.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Tiberis » Di 28. Feb 2017, 15:42

Medicus domesticus hat geschrieben:Latein und Mathematik haben viele Verbindungen: Gauß; Newton usw. Viele hier verstehen das nicht: Warum ? Weil sie nur ihr Fach sehen. Im Prinzip Fachidioten sind.


Die Verbindung zwischen Gauß und der lateinischen Sprache erschließt sich mir als Fachidioten, als welchen du mich freundlicherweise bezeichnest, naturgemäß nicht wirklich, auch sonst ist die Affinität zu Mathematik in meinen Augen eher eine behauptete als reale.
Latein ist eine Sprache wie andere Sprachen auch, und niemand würde auf die Idee kommen, etwa Italienisch, das ja nichts anderes als ein modernes Latein ist, mit Mathematik in Verbindung zu bringen.
Man sollte endlich damit aufhören, der lateinischen Sprache einen Sonderstatus beizumessen,der ja nur als Folge der vollkommen unnatürlichen und viel zu umständlichen Art ihrer Vermittlung gesehen werden kann.
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Re: Latein und Präzision

Beitragvon Zythophilus » Di 28. Feb 2017, 16:39

In Bezug das Auswendiglernen von Formen und ein Herangehen an einen Satz wie an eine Gleichung mag es gewisse Parallelen zwischen Latein und Mathematik geben. Darin mag auch der Umstand begründet sein, dass eine gewisse Begabung in Latein mit einer in Mathematik zusammentrifft. Latein wird zudem anders als alle anderen Sprachen - mit Ausnahme von Altgriechisch, aber das gibt's praktisch nicht mehr an Schulen - unterrichtet. Auf aktive Sprachbeherrschung zielt der Lateinunterricht nicht ab.
Mir fehlt auf jeden Fall Mathematik in der Mathematik das Persönliche, Gedanken, Gefühle oder Meinungen kommen nicht vor.
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