Merkwürdige Genitive

Beiträge zu Themen, die in keine andere Kategorie passen

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Merkwürdige Genitive

Beitragvon Christophorus » Sa 28. Apr 2018, 23:35

Salvete,

bin ich der Einzige, der bei folgenden Genitiven Bauchweh bekommt?

"Es hatte sich Streit daran entzündet, dass Türkeis Außenminister Cavusoglu zur Veranstaltung nach Solingen kommt, mitten im türkischen Wahlkampf." (WDR-Videotext)

"Ich bin ein Bogenschütze des Königs Leibgarde." (Walter Scott, Quentin Durward, der Übersetzer wird nicht namentlich genannt)
Könnte man da ein "aus" oder "von" vor das "des" setzen, weil "der Leibwache des Königs" sich auch ein wenig gespreizt anhört ...?
Timeo Danaos et donuts ferentes.
Christophorus
Senator
 
Beiträge: 2818
Registriert: Sa 27. Nov 2004, 23:43

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon Tiberis » So 29. Apr 2018, 00:21

Christophorus hat geschrieben:Türkeis Außenminister

:hairy:
wie geht das jetzt: das Türk-ei, des Türk-eis, dem Türk-ei... :lol:
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11862
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon medicus » So 29. Apr 2018, 08:34

oder:
-->von dem König seiner Leibgarde
-->...von der Türkei ihrem Außenminister

"Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" :shock:
medicus
Augustus
 
Beiträge: 6623
Registriert: Do 9. Dez 2010, 11:39

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon cometes » So 29. Apr 2018, 22:35

Türkeis Außenminister Cavusoglu


Der Abbau des Artikels im vorangestellten Genitiv bei Ländernamen, die sonst einen solchen bei sich führen (die Türkei, der Irak, die Niederlande, der Sudan, ...), ist im Vormarsch. "Deutscher Medienpreis für Niederlandes Königin in Baden-Baden", "Iraks Außenminister spricht vor UN" usf. können als akzeptabel gelten. Zu möglichen Gründen dieses Phänomens siehe z.B.: https://books.google.de/books?id=2j0kDwAAQBAJ&pg=PA83 Die Variante mit Artikel in der Voranstellung würde die im Folgenden behandelte Auffälligkeit aufweisen ("Der Türkei Außemninister Cavusoglu ...").


"Ich bin ein Bogenschütze des Königs Leibgarde." (Walter Scott, Quentin Durward, der Übersetzer wird nicht namentlich genannt


In diesem Satz stecken m.E. zwei Probleme:

In der dt. Gegenwartssprache gelten solche vorangestellten Genitivattribute jenseits von artikellosen Eigennamen ("Elisabeths Waffensammlung") prinzipiell als markiert, sind also auffälliger und meist unnatürlich wirkender Sprachgebrauch. Man könnte noch Wendungen zu den Ausnahmen zählen ("aller Laster Anfang").

Dessen ungeachtet besitzen vorangestellte Genitivattribute Artikelfunktion, es treten also in der übergeordneten Nominalphrase keine Artikelwörter mehr auf ("Sabine sah Waldemars Socken [die Socken Waldemars] im Aquarium treiben."). In deinem Beispiel steht allerdings die übergeordnete Nominalphrase ebenfalls im Genitiv, ohne jedoch die sogenannte "Sichtbarkeitsregel", die gewährleistet, dass ein Genitiv auch als solcher im Satzzusammenhang zu erkennen ist, zu erfüllen:

Genitivregel: Eine Nominalphrase kann nur dann im Genitiv stehen, wenn sie (1) mindestens ein adjektivisch flektiertes* Wort und (2) mindestens ein Wort mit s- oder r-Endung enthält. Duden: Grammatik, 8.Aufl., 1534

* Unter adjektivische Flexion fallen nicht nur eigentliche Adjektive, sondern auch die meisten Artikelwörter.





"ein Bogenschütze des Königs Leibgarde" genügt dieser Regel offensichtlich nicht. Das Genitivattribut "des Königs", das den bestimmten Artikel "der" verdrängt hat, kann die erforderliche Markierung von "Leibgarde" als Genitiv nicht leisten. Auch sonst ist kein Kandidat in Sicht.

Ich nehme folglich an, dass du z.B. bei "Ich bin ein Bogenschütze des Königs tapferer Leibgarde" nur noch Bauchschmerzen verspürst, die ihren Ursprung in der Markiertheit haben, aber nicht im Verstoß gegen die Sichtbarkeitsregel.
Zuletzt geändert von cometes am Mo 30. Apr 2018, 14:19, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
cometes
Consul
 
Beiträge: 340
Registriert: Do 6. Mär 2014, 00:45

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon consus » Mo 30. Apr 2018, 11:55

cometes hat geschrieben:...Der Abbau des Artikels im vorangestellten Genitiv bei Ländernamen, die sonst einen solchen bei sich führen (die Türkei, der Irak, die Niederlande, der Sudan, ...), ist im Vormarsch. "Deutscher Medienpreis für Niederlandes Königin in Baden-Baden", "Iraks Außenminister spricht vor UN" usf. können als akzeptabel gelten...
Diesem Vormarsch muss m. E. an einigen Stellen Einhalt geboren werden. Wem wird nicht übel, wenn er die grässlichen Worte "Niederlandes Königin" liest? Der oberflächliche Schreiberling, der dieses sprachliche Missgebilde schuf, wollte offenbar mit aller Gewalt den Namen "die Niederlande" (Plural!) in einen Gen. Sing. nach dem guten Vorbild "Deutschlands Bundeskanzler", "Österreichs Außenminister", "Schwedens Königin" u.dgl. umwandeln. "Türkeis Außenminister" ist aber überhaupt nicht akzeptabel (vielleicht wieder wie so oft eine bloße, ach so bequeme Nachahmung der englischen Ausdrucksweise "Turkey's foreign minister"). Welch ein Segen, dass unser Nachbarland Tschechien heißt! So bleibt uns ein Ausdruck wie "Tschecheis Innenminister" erspart. Treten wir also sprachlichen Missbildungen der hier geschilderten Art mit Entschiedenheit entgegen, zumindest in Schule und Universität ist uns dies möglich.
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon medicus » Mo 30. Apr 2018, 12:44

Eine Frage an die Lehrer hier im Forum: Wird in einem deutschen Text ein Fehler angestrichen, wenn ein Schüler schreibt "das Auto von meinem Vater"?
( Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod)
medicus
Augustus
 
Beiträge: 6623
Registriert: Do 9. Dez 2010, 11:39

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon Christophorus » Mo 30. Apr 2018, 14:03

medicus hat geschrieben:Eine Frage an die Lehrer hier im Forum: Wird in einem deutschen Text ein Fehler angestrichen, wenn ein Schüler schreibt "das Auto von meinem Vater"?
( Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod)



A für Ausdruck und unterschlängelt, würde ich so handhaben, man passt sich ja - genau wie der Duden - den veränderten Sprachgewohnheiten an. Wobei ich aber immer "die Krise kriege" und denke, das kann nicht richtig sein, obwohl man es sogar in Büchern und Zeitungen sieht, ist der Kasuswechsel bei Appositionen im Kontext der Besitzanzeige, also z.B. (das habe ich jetzt erfunden, weil ich kein anderes parat habe):

Das ist die Burg König Lothars, dem bekannten Herrscher.
Timeo Danaos et donuts ferentes.
Christophorus
Senator
 
Beiträge: 2818
Registriert: Sa 27. Nov 2004, 23:43

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon Christophorus » Mo 30. Apr 2018, 14:04

... und schon mal ein Dankeschön für alle Meinungen sowie dir, cometes, für deinen ausführlichen und interessanten philologischen Kommentar.
Timeo Danaos et donuts ferentes.
Christophorus
Senator
 
Beiträge: 2818
Registriert: Sa 27. Nov 2004, 23:43

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon cometes » Mo 30. Apr 2018, 14:17

Gern geschehen.

Zum ersten Thema:

Ich denke, dass sich die in der verlinkten Einführung in die Onomastik prognostizierte Entwicklung kaum aufhalten lassen wird. In großen Tageszeitungen etwa gehen Verwendungen vom Typ "Iraks Außenminister", "Türkeis Präsident" in die Dutzende. Das als Segen empfundene Tschechien statt Tschechei wird dort übrigens als Beleg dafür angeführt, dass Ländernamen immer stärker zum artikellosen Neutrum tendieren (wodurch die mit Artikel zusätzlich unter Druck geraten).

Die im Weiteren unter onymischer Ikonismus und Agentivität erwogenen Gründe sind ja nicht uninteressant. Dass überdies die am zweiten von Christophorus aufgebrachten Beispiel erläuterte Markiertheit des vorangestellten Genitivattributs jenseits von artikellosen Eigennamen eine große Rolle spielt, ist nicht von der Hand zu weisen. "Der Türkei Armee" verliert dadurch klar gegenüber "Türkeis Armee" an Akzeptanz, wenn sonst die Voranstellung von artikellosen Ländernamen als Genitivattribut als gewöhnlicher Sprachgebrauch gilt. Ob es hier einen Einfluss der Verknappungstendenz in bestimmten Textsorten (z.B. Zeitungsartikeln) gibt, wäre zu untersuchen.

Gewiss birgt "Niederlandes Königin" die zusätzliche Härte, nicht nur den Artikel eingebüßt zu haben, sondern auch, obschon ein Pluraletantum, wie ein Singular behandelt zu werden, auch heißt es noch (?) nicht "USAs Waffenkonzerne". Bei der Schweiz blockiert vermutlich die Beschränkung der Genitivbildung auf "-ens" auf Personennamen Formulierungen wie "Schweizens Bankengesetze".
Zuletzt geändert von cometes am Mo 30. Apr 2018, 15:08, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
cometes
Consul
 
Beiträge: 340
Registriert: Do 6. Mär 2014, 00:45

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon cometes » Mo 30. Apr 2018, 14:31

PS: Wer von euch neigt bei "ein Bogenschütze des Königs Leibgarde" dazu, "Leibgarde" als Eigenname zu lesen und dann irritiert innezuhalten? Mir wenigstens ging es im ersten Augenblick so.
Benutzeravatar
cometes
Consul
 
Beiträge: 340
Registriert: Do 6. Mär 2014, 00:45

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon Christophorus » Di 1. Mai 2018, 00:23

Einen ohne Artikel gebildeten Genitiv fortzusetzen, gelingt auch nicht immer so glatt, aber die Alternative wäre vermutlich ein nicht sehr schönes "von" oder ein nicht ganz zutreffendes "seiner Gemahlin":

"Ludwig XI. war der älteste Sohn König Karls VII. des Siegreichen von Frankreich und dessen Gemahlin Marie d’Anjou." (Wikipedia)
Timeo Danaos et donuts ferentes.
Christophorus
Senator
 
Beiträge: 2818
Registriert: Sa 27. Nov 2004, 23:43

Re: Merkwürdige Genitive

Beitragvon Tiberis » Di 1. Mai 2018, 01:45

cometes hat geschrieben:Ich denke, dass sich die ... Entwicklung kaum aufhalten lassen wird. In großen Tageszeitungen etwa gehen Verwendungen vom Typ "Iraks Außenminister", "Türkeis Präsident" in die Dutzende.

Vermutlich ist diese sogenannte Entwicklung tatsächlich nicht aufzuhalten. Die "großen Tageszeitungen" diktieren uns ja nicht nur, wie wir zu denken haben, sondern auch, wie wir schreiben sollen, man denke nur an die sprachlichen Perversitäten der Genderideologie, deren rabiateste Vertreter sich allemal in den einschlägigen Medien finden. Gerade wir als Philologen (=Freunde des Wortes!) sollten jedoch diese bewusste Sprachzerstörung nicht achselzuckend hinnehmen, sondern mit aller Kraft dagegen ankämpfen, auch wenn wir möglicherweise auf verlorenem Posten stehen.
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11862
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Beitragvon consus » Di 1. Mai 2018, 10:18

Tiberis hat geschrieben:... auch wenn wir möglicherweise auf verlorenem Posten stehen.
Kämpfen wir als Philologen weiter! Ich glaube nicht, dass unsere Bemühungen vergeblich sind. Dazu eine Anmerkung: Beim Frühstück heute Morgen zu Beginn des Wonnemonats hörte ich in den Nachrichten des Deutschlandfunks, dass die Trump-Administration den Iran der Lüge zeihe. Erstaunlich, auch wenn es nur eine Kleinigkeit zu sein scheint! Offenbar gibt es in den sog. Medien doch noch Redakteure, die sich ohne Scheu des Genetivs, verbunden mit einem Verbum der gehobenen Sprache (so Duden), zu bedienen wagen.
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm


Zurück zu Sonstige Diskussionen



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 13 Gäste