Magie des Unterrichts: Erzählung über einen Referendar

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Magie des Unterrichts: Erzählung über einen Referendar

Beitragvon Willimox » Mi 27. Feb 2019, 20:07

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Bläid gloffn?

Kennen Sie vielleicht die „Schwere Stunde“ von Thomas Mann? Ja? Die novellistische Studie? Wow. Dann sind Sie wahrscheinlich Deutschlehrer an einem Gymnasium. Und Sie sind am Verzweifeln. Doch, geben Sie es ruhig zu. Und die anderen, also die keine Deutschlehrer sind, die treffen dann auf diese verzweifelten Deutschlehrer, die in der Buchhandlung. An dem Regal stehen sie alle, wo die Ratgeber zum Glücklichsein stehen: Jeden Tag weniger ärgern. Das kleine Buch vom wahren Glück. Die sieben Gesetze des Glücks. Der Glücksfaktor. Ab heute besser drauf. Wege zum Glück. Umarme dein Glück. Glück ist kein Zufall. Aber jetzt mal ganz ehrlich. Kommen Sie zu diesem Regal, um Deutschlehrer anzuschauen?

Also gut, wenn Sie auch aus Verzweiflung da sind und das zugeben, dann bleiben wir bei den Deutschlehrern. Diese Unglücklichen, arme Würmer wie Sie auch, sie könnten ganze Bücher über das Unglück in ihrem Leben schreiben. Titelvorschlag: Wie Sie sich ihr Leben gründlich versauen. Und schon kommt die seufzende Bestätigung. Ja, versauen, summen ringsum leise die Lehrer. Und das nicht nur wegen der Korrekturen.

Weil?
Sagt man zum Beispiel zu seiner 11. Klasse: „Sie sollten gestern, bevor wir heute ins Detail gehen, die Ringparabel in Lessings Nathan der Weise schon mal im Voraus lesen. Die drei Reclam-Seiten, das war Hausaufgabe. Also, da gibt es drei Brüder und diesen Ring des sterbenden Vaters. Überlegungen dazu? Erste Ansätze? Na? Was ist Ihnen dazu eingefallen? Ist Ihnen etwas aufgefallen?"
Lastende Stille und fröhlich-entspannte Resignation.
"Was fällt Ihnen dazu jetzt ein? Was haben Sie da gerade leise gesagt, Sven? Sagen Sie es laut, keine Sorge, vielleicht liegen sie richtig."
„Ok, die sind vielleicht schwul, die Brüder?“
„Mein Gott, wie kommen Sie denn darauf?“
„Na, drei erwachsene Männer und sie schlägern sich um ´nen Ring.“

Oder ihr schaut hier herein. Ich darf jetzt doch das "Sie" aufgeben? Wo doch die Mühseligen und Beladenen unter sich sind? Freunde! Schaut auf dieses Klassenzimmer. Hinten links lauscht einer dem Unterricht, ein Student für Lehramt. Er hospitiert seit einer Woche in der Gymnasialklasse. Da die Schüler ihn nicht ernst nehmen und kaum mehr beachten, hat er die Möglichkeit einer realitätsnahen, szenischen Mitschrift:

Lehrer: „Was ist das für eine Stilfigur in Zeile 43?“
Schweigen. Zunehmend intensiv.
"Eine Anapher, eine Epipher? Ein Parallelismus?", der Lehrer lächelt noch.
"Eine Metapher, ein Chiasmus, ein Paradoxon, eine rhetorische Frage, eine Tautologie, eine Metonymie.....?"
Schüler Peter vorne: "Almächd! Woss isn däss?!“
Lehrer (Peter ignorierend, wendet sich an Peters Nebenmann):
„Karl, Sie sind ein intelligenter, guter Schüler, früher hätte man gesagt, ein aufgeweckter Schüler, während die anderen gern pennen."
Beifälliges, betont langsames Nicken der Restklasse: "Karl ist ein Streber, pennen tut der net."
"Und wir haben doch schon so oft über diese Figuren gesprochen. Und wie man sie erkennen kann. Die Liste mit den rhetorischen Figuren. Das ausgeteilte Blatt."
Stimmen aus der Klasse: "Die Blätter."
"Ja, ja, ist ja gut.
Also, Karl. Sie haben doch sicher eine Ahnung, was das für eine rhetorische Figur ist?"
"Wo nimmstn die Energie bloß her, Karli?"
O je, Sebastian, drei Reihen dahinter, der dialektalen Färbung nach kommt er aus Österreich.
"Etz ärcher dich ned, Karli."
Wieder der Allmächd. Und macht nochmal das Maul auf:
"Dousd mer fei echt leid, Karli."
"Bitte, Karl. Stimmen Sie mir zu, dass uns diese Witze völlig egal sein können? Ja?
Also was war das jetzt für eine Stilfigur"?
Karl öffnet endlich den Mund, antwortet mit Frageintonation: „Eine rhetorische Frage?“
Beobachter (still für sich):
Was für ein fetter Punch. Egal, ob das jetzt gezielt war oder nicht. Aber war es wahrscheinlich. Weil: Die Klasse reagiert.
Schüler Peter vorne: "He, he."
Schüler Peter dreht sich um, grinst nach hinten, auch zum hospitierenden Unterrichtszeugen, dann wieder nach vorne in Richtung Lehrer, ohne ihn direkt anzuschauen sagt er:
"Bläid gloffn?"
Lehrer, den Dialekt imitierend und zum Beobachter blickend:
"Bläid gloffn, jo. Abber däss is scho a archer Verein aa.“


Kurz und gar nicht gut: Dieser Deutsch-Unterricht haut keinen vom Stuhl. Aber es gibt erbauliche, es gibt tröstliche Ausnahmen, seltene Momente, seltene Stunden. Johannes Willibald Wenzel ist hierfür Zeuge und Bürge. Seine Erlebnisse, diese Geschichte jetzt gerade vor Ihnen, sie birgt für aufmerksame Leser und müde Pädagogen Potential robuster Rekreation und reifer Resilienz, sie kann punktuell beglücken und Niedergeschlagenheit lindern, sie kann Lebensmut restituieren. Sie stützt sich auf Wenzels tschechisch-böhmische Großmutter und seinen germanistischen Vater. Sie seien beide bedankt. Und wer diese lange Geschichte bis zum Schluss durchhält, bis hin zu Max Brod und Franz Kafka und dem heiligen Nepomuk, dem möge Vater Wenzel und dem möge Großmutter Wenzel am Ende auch zulächeln.

Mach´ ma´ starken Eierlikör

Johannes war 1951 ein kleiner Junge. Der Koreakrieg war da und die Leute in der kleinen Stadt am Main hatten entsetzliche Angst, dass der Weltkrieg vielleicht wieder kommt. Nachts träumte Johannes. Auf das Dach fiel eine Bombe, im Dachboden schlug sie ein, sie bohrte sich durch die Decke des vierten Stockes, fiel und fiel. Alle Stockwerke brachen herunter in einer Staubwolke aus Feuer und Schwefel, bis in den Keller herunter. Sie wohnten im Erdgeschoss. Alles brach herunter auf ihn. Was hast Du Schlimmes geträumt, Johannes? Du hast in der Nacht geschrien.

Oh, je, da machen wir was. Der germanistische Vater griff in den Bücherschrank. Da war Gegenzauber. Leopold Webers „Unsere Heldensagen“ aus dem Jahre 1934, in der Schulbibliothek ausgemustert. Dietrich von Bern. Siegfried, Hagen von Tronje, Herzog Ernst. Auf dem Umschlag ein Ritter mit einem riesigen Schild, ein Helm, offenes Visier, Blick in die Ferne, rechts vom Schild ein gesenktes, langes Schwert. Blank gezogen. Schaut euch vielleicht doch den Link an: https://img.oldthing.net/2515/29160333/ ... nsagen.jpg. Das verlängert die Lektüre, aber auch das Vergnügen.

Riesenstark, adlig an Antlitz und Gliedern, wuchs Dietrich heran. Lichtbraun wellte sich um die Schläfen das Haar. Versonnenen Geistes litt er lang, wenn die Spielkameraden spottend den Schweigenden reizten, geriet er aber in Grimm, dann stoben sie schreiend vor Schrecken davon, denn jählings verkehrte er sich, daß er einem Dämon gleich anzusehen war: funkensprühend sträubte sich steilauf sein Haar, und aus der entbrannten Brust schlug ihm in heißer Lohe das Feuer zum Munde hervor.

Johannes hörte angespannt zu. Die Stimme des Vaters, sein Mund, das Umblättern der Seiten. Dietrich von Bern. Das bannte. Das brannte. Das spannte die Muskeln. Kämpfen und Hauen.

Und der Vater las laut mit geschulter Stimme Merseburger Zaubersprüche:

Phol und Wodan ritten ins Holz.
Da ward dem Fohlen Balders der Fuß verrenkt.
Da besprach ihn Wodan, wie (nur) er es verstand:
bên zi bêna,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden,
sôse gelimida sin!


„Johannes, das heißt: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, als ob geleimt sie seien.“
Johannes atmete tief aus. Knochen gebrochen, davon hatte er schon gehört.
Ein Motorradfahrer auf der Mainbrücke, Miltenberg Nord, an einem Sonntag.
Knochen leimen, die gebrochen waren, Vater, der Zauberer. Der Zaubererer.
"Naja", sagte der Vater, "eigentlich nur verrenkt. Aber der Spruch ist sehr stark."
Johannes wurde ruhig.

Die tschechisch-böhmische Großmutter aus Prag hatte anderen Trost.
„Weißt Du, wenn die Russen kommen, das wird nicht so schlimm. Wir haben unsere Hühner im Garten. Wir haben Eier. Wir haben hochprozentigen Alkohol im Flascherl. Mach´ ma´ starken Eierlikör, den kriegen sie und dann lassen sie uns in Ruh.“
Und einen magischen Spruch hatte sie auch. Sie nahm die Hand des Kleinen.

Michala myšička kašičku (Michala mischitschka kaschischitsku)
Es rührte ein Mäuschen ein Breichen

Großmutters Finger kreisten auf dem Handteller von Johannes, ringsum die Finger warteten.
na zeleném rendlíčku,
in einem grünen Töpfchen

Sie zupfte jeden einzelnen Finger des Jungen.
tomu dala,
dem gab es etwas
tomu taky,
dem auch
tomu málo,
dem wenig
und für diesen Kleinen
blieb gar nichts übrig.
Und der Kleine rannte, rannte.
In die Speisekammer.

Jetzt lief der Finger der Großmutter in die Achselhöhle und kitzelte dort wie wild.
a tam se napapal.
Und dort aß er sich voll.


Das Kind, es kicherte und lachte und hatte überhaupt keine Angst mehr.
Vielleicht schaut ihr es euch an, das Kind? Iim Link:
https://www.youtube.com/watch?v=PP07kWI4rEE
Großmütter. Sie machen uns glücklich, wenn wir klein sind.
Und später fehlen sie uns.
Aber wir machen unsere Enkel glücklich. Vielleicht doch.

Geh raus, Wurm, mit neun Würmelein

Johannes war 1973 erwachsen und Referendar im Zweigschuleinsatz in Fürstenfeldbruck. Viscardi-Gymnasium, ein Anfänger mit Deutsch und Latein. Seine Betreuungslehrerin in Deutsch – Frau Fischhaber – saß ihm gegenüber.
„Also Ihre Korrekturen sind sehr sorgfältig. Aber ich sag ihnen was. Ihre Schlussbemerkungen bei Schulaufgaben. Zu lang. Viel zu lang. Schaun´s, ma macht sich kaputt mit solchen Wenzel-Romanen. Ich schreib einfach: Sprachlich oft recht geschickt, die Rechtschreibung könnte besser sein, die Gedankenführung ist meist solide, eine Gliederung ist nicht recht zu erkennen. Des sagt alles. Des glangt.

Und dann ihr Unterricht, Herr Wenzel. Machen´S doch endlich was Normales. Was im Lesebuch steht. Eine Kurzgeschichte von Borchert. Die mit der Küchenuhr. Oder die mit den Ratten. Die Merseburger Zaubersprüche. Dann leben´s länger. Moana´s, ich geh mit fünfundsechzig in Pension und stirb? Na, i stirb net, die Pension, die verputz i. Des dürfen´s ma glaubn. Ich schau mir´s an bei einem Unterrichtsbesuch. Eine runde, normale Stunde. Gell`?“
Dann - in der Pause im Lehrerzimmer - sagte sie ihren Besuch ab: "Wissen´s, jetzat, die Deutschschulaufgaben, des is a Kreuz, korrigieren muss i ah in meine Freistunden. Dann muss i´s Protokoll no schreib´n vom Personalrat. Machen´s was Schönes, was Normales.
I lass mir dann erzählen, wie´s war."

In der zehnten Klasse gab es eine neue Schülerin, Hanne Hrdy. Ein tschechischer Name? Ja. Vor sechs Jahren aus Prag nach Deutschland gekommen, so die Auskunft im neu eingelegten Schülerbogen. Der Jungreferendar fasste einen didaktischen Plan für eine richtig runde Stunde: "Merseburger Zaubersprüche" im Lesebuch. Und ganz anderes. Er brachte eine dicke Kerze mit, eine Schallplatte der Gruppe Ougenweide und organisierte einen Plattenspieler aus dem staubigen Medienraum und dann kam die runde Stunde und die "Äktschen" war vorbereitet. Johannes Wenzel hatte sich vorbereitet. Arnold Schwarzenegger leistete ihm mentale Hilfestellung: "Conan, der Barbar", der untote Zauberer Thulsa Doom, Videokassette, am Abend zuvor.

Feuer und Wind werden von den Göttern des Himmels geschickt. Aber unser Gott heißt Crom... und er lebt unten in der Erde, nicht im Himmel. Einst lebten auch Riesen in der Erde, Conan. Sie nutzten die Finsternis und das Chaos aus und betrogen Crom, den Gott. Auf diese Weise kamen sie an das Geheimnis des Stahls... Crom war erzürnt. Es erbebte die Erde und durch Feuer und Wind wurden die tückischen Riesen getötet und ihre Leichen in die Meere versenkt... Aber in ihrem rasenden Zorn, vergaßen die Götter das Geheimnis des Stahls und ließen es auf dem Schlachtfeld zurück... Und wir, die es gefunden haben... wir sind nur Menschen... Wir sind keine Götter, wir sind keine Riesen... nur Menschen. Du musst das Geheimnis des Stahls enträtseln, Conan! Du musst seine Regeln lernen... und Du darfst niemandem... niemandem auf dieser Welt Dein Vertrauen schenken! Du darfst weder Männern, noch Frauen, noch Tieren vertrauen...! Nur dem Schwert kannst Du vertrauen!

Hach, Wenzel, komm wieder runter! Das ist die 10c. Mit dumpfer Stimme Phol und Wodan präsentieren:

Ben zi bena, bluot zi bluoda….

Was passiert da? Ein Bild malen lassen.
Den Rhythmus markieren.
Dann im Chor sprechen.
Dann das bleiche Gebein leimen.
Vater Wenzel schaute aus dem Jenseits vergnügt zu.
Fünfzehn Minuten etwa.

Jetzt der Pferdesegen, gegen Würmer ("contra vermes"), in der Version der Ougenweide-Musiker, Schallplattenspieler an:

Gang út, nesso, mid nigun nessiklinon,
út fana themo margę an that ben, fan themo bene an that flesg,
ut fan themo flesgke an thia hud, ut fan thera hud an thesa strala.

Geh raus, Wurm, mit neun Würmelein,
heraus aus dem Mark in den Knochen, aus den Knochen in das Fleisch,
heraus aus dem Fleisch in die Haut, heraus aus der Haut auf diesen Pfeil.


Johannes spannte einen imaginären Bogen und schoss den Pfeil, auf dem die neun Würmer saßen, durch das offene Schulfenster hinaus in den Hof. In der Klasse gedämpftes Amusement. Immerhin: Manche summten bei der Wiederholung des Liedes doch tatsächlich mit, dann sangen sie sogar: https://www.youtube.com/watch?v=nhwwXNvS09Q
Nochmal 15 Minuten von den 45 Minuten der Schulstunde.
Doch, ist magisch und ein Ohrwurm, sollte man aufgemacht haben, den Link.

Erst widerstehet der Damm und wehret den wütenden Wassern

Aber dann:
„Passt auf, ich tu´es ungern, ich habe es mir lange überlegt, aber ich riskier es. Ein Experiment. Es gibt im Althochdeutschen einen berühmten Schadenzauber, sowas wie Woodoo, mit vielen bösartig zischenden Lauten, damit lähmt man Feinde, wehrt Unholde ab. Es kann sein, dass bei diesem Spruch jemand hier geschädigt wird. Der Atem bleibt ihm weg. Vielleicht bekommt er einen Erstickungsanfall."
Hoho, glauben wir nicht.
Schmarrn.
Sie vielleicht?
Der Junglehrer schloss mit ernstem Magier-Gesicht das Fenster, ließ die Roll-Läden herunter, im Klassenzimmer wurde es dunkel. Er zündete vorne am Pult die dicke Kerze an, hielt sie hoch, so dass nur sein sprechendes Haupt von der Flamme erhellt wurde und schaute verhangen in die Finsternis ringsum - Ihr wiederholt jetzt jede Zeile, die ich euch vorspreche - und begann auswendig den Großmutter-kitzelt-Johannes-Spiel-Text:

Michala myšička kašičku
Die Klasse sprach dies feierlich nach, die folgenden Zeilen auch.
na zeleném rendlíčku,
tomu dala,
tomu taky,
tomu málo,
tomu víc ..


Beim dritten "tomu" prustete und keuchte es im dunklen Zimmer. Was war da los? Man wurde unsicher. Nach dem vierten "tomu" dann angespanntes Schweigen in der Klasse: Ununterbrochen Keuchen und Prusten. Die Hanne? Atemnot? Der Erstickungsanfall?

Was schlug nach Pferdesegen und Wurmvertreibung Funken, was glomm zuerst, implodierte dann in mehreren Stufen, was versetzte uns in Schwingungen, was entstand da für ein Kraftfeld, wurde stark und stärker und pulsierte im Raum? Nun, man ahnt es.

Das alles war zuerst gar komisch gewesen, dann doch nicht mehr, nicht lustig, es war anders. Germanische Verwünschung? Natürlich nicht, natürlich, da glaubt keiner dran. So etwas kann der da vorne nicht, das funktioniert nicht, das gibt es nicht. Aber Hanne Hrdy hört die "üblen Zischlaute" und das ist keine Verwünschung, sondern erkennbar das tschechische Fingerspiel aus Kindertagen. Der Mäusleintext und das dunkle Tremolo des Sprechers da vorne und die antwortenden Mitschüler im Chor vor ihm. Da muss sie tief Atem holen und sie seufzt auf und es schüttelt sie. Und die Mitschüler erschauern. Sie starren mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und versuchen auszumachen, was zum Teufel da eigentlich abgeht.

Und die Komik wird immer stärker. Weil: Tschechische Wörter sind germanische Zischlaute, Händekitzeln ist schwarze Magie, rhythmisches Rühren auf der Handfläche ist Schadenszauber. Alle Skepsis bricht ein. Bangende Mitschüler. Bei den zwei Eingeweihten dagegen Multiplex- Ekstase. Johannes presst die Lippen zusammen und bläst die Backen auf. Lasst es mich ein wenig flapsig sagen: Die eskalierende, um sich greifende Komik kickt einen fast ins Koma, kannst du nix gegen machen, fast nix.

Hanne versuchte es, sie rettete sich durch Bewegung, sie patschte mit Armen und Händen voraus flach auf den Tisch, dann warf sie sich nach hinten und schnappte nach Luft. Und wirklich jetzt, bei dieser Bewegung rückwärts, Herrschaftsseiten, kippte auch noch der Stuhl. Johannes Willi Wenzel reagierte unauffällig, er hob schmallippig und beruhigend die Hand. Dann drehte er sich hastig um, damit man sein Gesicht nicht sah, betätigte den Lichtschalter und es wurde hell, aber die Szene blieb rätselhaft dunkel. Hannes Stuhl lag auf dem Boden, sie hob ihn auf und setzte sich darauf. Dabei kicherte und gluckste sie unaufhörlich. Ein neuer Anfall? Ohne Ende?

Was soll man noch viel erzählen? Naja, eigentlich doch noch einiges: Hanne und Johannes klärten angestrengt auf. Ein tschechischer Kinderkitzelreim. Und sie, sie hatten einen germanischen Zauberspruch gehört. O Gott! O Götter! Es brach nun, diesmal kollektiv, unbändiges Glucksen und Gelächter aus. Es war wie im aristotelischen Drama, in der Komödie, wenn der Zuschauer mehr weiß als die Akteure. Nein, nicht ganz: Hier wussten die zwei Akteure mehr als die Zuschauer und beobachteten beim Publikum die Hamartia (Verkennung) und die endlich erfolgende Anagnorisis, das Umschlagen von Unwissen zu Wissen. Und nicht genug. Bald blickte das Publikum voller Wonne darauf zurück, wie es getäuscht wurde und sich verrannt hatte. Ein slow-burner, ein germanisch-tschechischer slowburner zündet eine letzte Stufe und kreiselt langsam als Doppelhelix durch die Bänke und Köpfe. Ihr werdet mir hoffentlich nachsehen, sieben klassisch-homerische Hexameter und nicht acht oder mehr. Hexameter sind angemessen. Ode an die Freude und das Gelächter.

Jetzt nun verstand man; und wie die Woge des reißenden Stromes
überflutet das Land und unaufhaltsam dahinrast –
erst widerstehet der Damm und wehret den wütenden Wassern,
dann aber bricht er zusammen und weithin schießen die Fluten —
also ergaben die Schüler sich schließlich der krampfhaften Lachlust,
ballten die schmächtigen Fäuste, es brach ihr Gelächter hera-us.
Ringsum erdröhnte der Saal und weithin scholl es nach draußen.


Und siehe. Draußen klopft es an der Tür. Die Tür wird halb geöffnet, der Lehrer der nächsten Stunde in der Nachbarklasse schaut herein, Studiendirektor Droht, schwarzer Anzug, schwarze Aktentasche, schwarzes Brillengestell, seine Fächer: Latein und katholische Religion. Die Rollos verdunkeln noch den Raum. Das Licht ist an. Die Kerze brennt vorne auf dem Pult. Zwei Schüler in der letzten Reihe liegen quer über den Tischen. Alles irgendwie disparat und derangiert, wirr. Junger Kollege das, ihm ist der Unterricht entglitten. Aber recht ruhig ist er, unangemessen ruhig. Seltsam.
"Was ist denn hier los? Was ist hier geschehen, Herr Wenzel?"
„Nun ja“, sagte der Referendar, „ein religiöses Experiment. Wir haben mit den Merseburger Zaubersprüchen gearbeitet.“

Franz Kafka und Max Brod und Rainer Maria Rilke und Nepomuk

Am nächsten Tag, kein Schmarrn jetzt, stand Wenzel vor dem Schulgebäude an der Bushaltestelle, ein älterer Herr - langer schwarzer Mantel, etwas abgeschabter Pelzkragen, weißes Halstuch aus Seide - kam auf ihn zu.
„Entschuldigen Sie, junger Mann. Sie sind hier Lehrer?“
„Ja. Deutsch und Latein ..“
„Oh, mein Vater arbeitete beim Prager Tagblatt, war gut bekannt mit Max Brod und Otto Brod, dem Bruder. Die Namen sagen Ihnen wahrscheinlich nichts?“
„Doch, Max Brod hat die Bücher von Franz Kafka herausgegeben. Kafka hatte ihn aber darum gebeten, alle Aufzeichnungen zu verbrennen.“
„No, da kann ich Ihnen was erzählen. Max kam zu Otto Brod und meinem Vater, als Franz gestorben war. Was soll ich nur machen, was soll ich nur machen? Der letzte Wille vom Franzel war, ich soll alles in Feuer werfen, alles. Nix soll veröffentlicht werden. Ich hab´s ihm schwören müssen. Was soll ich nur machen?.... No, Max, weißt was. Die Schriften vom Franz gibst du heraus. Verbrennen tust die deinigen.. Meinen´s Ihr Direktor hätte Interesse, wenn ich an der Schule einen Vortrag halte?“
„Das ist eine wirklich gute Geschichte“, meinte Johannes, "ich sage im Sekretariat Bescheid, die fragen dann den Herrn Aurelius Patscheider." Dann lächelte Johannes: "Übrigens, meine Großmutter stammt aus Prag, mein Vater hat in Prag Germanistik studiert und ich verstehe ein bisschen Tschechisch."
"Dann können Sie ja sicher“, er machte ein Pause, „dann können sie ja sicher Pemmisch?"
"Schon."
Der Mann rollte mit den Augen und begann ein frühes Gedicht von Rilke zu zitieren:

"Große Hajlige unt klajne
fajert jägliche Gemajne.
Aber disä Nepomuken!
Fon des Torganx Luken guken
Unt fon allen Bruken schpuken
lautrlautr Nepomuken."

Ach! Sein Vater und seine Großmutter lächelten, da war er sich gewiss, aus dem Jenseits herab und segneten die Szene. Johannes rezitierte das pemmische Gedicht jetzt hochdeutsch:

"Große Heilige und kleine
feiert jegliche Gemeine.
Aber diese Nepomuken!
Von des Torgangs Luken gucken
und auf allen Brucken spuken
lauter, lauter Nepomuken!"

Hach!
Frau Fischhaber oben im Lehrerzimmer, die würde sich wundern, was es zu erzählen gab.

Appetizer für Aficionados:

Ougenweide: Merseburger Zaubersprüche, am Schluss der Pferdesegen gegen die Würmer mit dem Pfeil
https://www.youtube.com/watch?v=emQDgoKOxog
https://www.youtube.com/watch?v=-r4kPvaYUgY
https://www.youtube.com/watch?v=nhwwXNvS09Q]

Leopold Weber: Unsere Heldensagen
https://img.oldthing.net/2515/29160333/ ... nsagen.jpg

Das tschechische Fingerspiel
https://www.youtube.com/watch?v=PP07kWI4rEE

Tschechisch-Deutsch wie bei Großmutter (Jaromir Konecny)
http://www.jaromir-konecny.de/Kabarett/mobile/


Anmerkung:

Liebe Kollegen,

diesen Beitrag einzustellen unter "Sonstiges" hat mehrere Gründe. Einmal ist Fasching. Dann hat mich Puschas Auftreten immer wieder daran erinnert, wie komisch exotisch-philologischer Terminologieeinsatz bei einem philologiefremden Publikum wirkt. Dann dürfte allen, denen Kakanisches vertraut und lieb ist, hier einiges gefallen, vielleicht. Schließlich hat diese Erzählung noch einen intressanten Aspekt: Sie beschreibt eine Stunde im Leben eines Referendars (Deutsch, Latein), hat also etwas mit der/mit unserer Schulpraxis zu tun. Und die Geschichte ist trotz aller fiktionalen Lizenzen im Genre Erzählung nahezu völlig wahr und geschehen.

Schließlich agiert hier im Text ein eher "unprofessioneller" Erzähler recht auktorial, ähnlich wie im Genre des "Skaz".

Wolf Haas liefert moderne Beispiele für diese Art des Erzählens:
Auf einmal ist er wieder auf dem Holzstuhl in der Polizeischule gesessen, wo sie ihnen auch immer diese Weisheiten hineingedrückt haben. ,Die Exekutive ist eine der drei Säulen der Demokratie.' Diesen Satz hat der Brenner in der Polizeischule so oft gehört, dass er damals automatisch angenommen hat, er stimmt nicht, praktisch Trotzcharakter. Und was er dann im Polizeidienst in dieser Hinsicht erlebt hat, damit möchte ich jetzt lieber gar nicht anfangen, sonst springst du mir noch von der Brücke..


Vielleicht ist dieser Narrator (in) der Johannes-Willibald-Wenzel-Geschichte halbwegs zuträglich. Bin mir da aber eher unsicher.


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Zuletzt geändert von Willimox am Di 5. Mär 2019, 21:35, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Unterrichtspraxis: Germanisch-Tschechisches Woodoo.

Beitragvon Willimox » Mo 4. Mär 2019, 18:48

Didaktisches Additum:

Ein "pilpul" (Koan, paradoxical enlightenment problem):

“Why should ‘eretz’ be spelled with a gimmel?”
“A gimmel? It isn’t.”
“Why shouldn’t ‘eretz’ be spelled with a gimmel?”
“Why should ‘eretz’ be spelled with a gimmel?”
“That’s what I’m asking you—Why should ‘eretz’ be spelled with a gimmel?”

(Gimmel ist der dritte Buchstabe im Hebräischen Alphabet, die Aussprache ist [g].
Eretz hat die Bedeutung „Land“.)

Eine Autorität spricht:

The third grade teacher says,
“Mary, I’d like you to give me a sentence beginning with ‘I’, please.”
Mary hesitates for a few seconds then says,
“I is…” The teacher interrupts her,
“No Mary, you cannot begin a sentence with ‘I is’—you must use ‘I am’.”
Mary appears upset and tries to protest,
“But Teacher…”
The teacher insists,
“I asked you to give me a sentence beginning with ‘I’, and use ‘am’, please.”
Mary shrugs,
“I am the ninth letter of the alphabet.”

Stranded preposition:

Der Bischof Robert Lowth (1710-1787) stellte die Regel auf, dass man im „elevated English“ einen Satz nicht mit einer Präposition enden lassen darf. Die stranded, hanging or dangling preposition sei unbedingt zu vermeiden.

“Excuse me, where is the library at?”
“Here at Harvard, we never end a sentence with a preposition.”
“Oh, I beg your pardon, where is the library at, asshole?”

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