Läuse und Präterita

Beiträge zu Themen, die in keine andere Kategorie passen

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Läuse und Präterita

Beitragvon Willimox » Do 7. Mär 2019, 21:25

Beobachtbare Evolutionen: Läuse und Imperfekt/Präteritum

(1) Die schnelle, komplexitätsorientierte Evolution bei Läusen

Als Charles Darwin im Jahr 1835 die Galapagos-Inseln besuchte, stieß er auf eine Reihe von Singvögeln, die später nach ihm benannten Darwinfinken. Von Insel zu Insel hatten die Finken andere Schnäbel, mal spitz, mal rund, mal filigran oder kräftig geformt. Darwin vermutete - damals revolutionär - darin eine Anpassung an die Umwelt: Während beispielsweise der Großgrundfink in seinem Lebensraum bevorzugt Samen pickt und dafür einen massiven Schnabel braucht, hatte sich der Schnabel beim Waldsängerfink im Laufe vieler Generationen zugespitzt, um damit besser Insekten jagen zu können.

Dieses Prinzip, genannt "adaptive Radiation", erhob Darwin zu einem Grundpfeiler seiner Evolutionslehre - es besagt, dass Arten sich durch Selektionsdruck evolutionär auffächern und so an neue Umweltbedingungen anpassen. Ein großer Teil der Artenvielfalt auf dem Planeten lässt sich vermutlich dadurch erklären. Allerdings stützen sich die Beobachtungen dazu meist auf Arten, die sich vor langer Zeit aufgespreizt haben, vor Hunderttausenden oder Millionen Jahren. Nun haben Biologen erstmals den umgekehrten Weg beschritten - und die adaptive Radiation experimentell und in Echtzeit nachgestellt.

https://www.sueddeutsche.de/wissen/evol ... -1.4356808

(2) Die "vorschnelle", vereinfachende Evolution bei Tempus-Morphemen

Anonym
Der Unverbesserliche

Man fragte mich: »Heißt's fragte oder fr-ug?«
Ich sagte drauf: »Ich wähle immer fragte,
da man ja auch statt sagte nicht spräch sug,
was schlecht dem Ohr und Sprachgebrauch behagte.«

Der andre sprach: »Ich werde draus nicht klug,
man sagt doch auch nicht schlagte oder tragte?«
Ich sprach: »Ausnahmen sind nur schlug und trug;
doch tug, rug, zug und wug noch keiner wagte.

Nun, wird der Zweifel, der bisher Sie nagte
und plagte - und nicht etwa gar nug und plug –
behoben sein, ob richtig frug, ob fragte?«

Der andre sprach: »Sie haben recht« und schlug
sich an die Stirn, als ob ihm Licht nun tagte,
»verzeihen Sie, daß ich so töricht frug.«


(2.1) Das Regelproblem

Gewiss sind manche Verben recht schrullig. Das lässt sich recht gut an unserem Poem zeigen.

Zwei der Verben („schlagen“ „tragen“) – signalisieren ihre Handlung als vergangen, indem
sie innerhalb der ersten Silbe den Vokal ändern. Die restlichen Verben - sie sind in der Überzahl - dagegen bilden ihr Präteritum mit dem Anhängen einer Silbe, dem „-te“.

Keinem dieser Verben sieht man in der Grundform an, wie sie ihr Präteritum bilden werden. Der Deutschlerner wird sie daher einfach lernen müssen, sie gelten ihm als „unregelmäßig“. Ähnlich wie das englische „fight“ - „fought“. Alle anderen Formen arbeiten mit einer einfachen „Regel“ („ Hänge ein –te an“) und sind insofern regelmäßig.

Ein Linguist wie Chomsky dürfte diese Zweiteilung „regelmäßig – unregelmäßig“ zurückweisen oder in ihrer starken Form aufweichen:. Die englischen Verben befinden sich in seiner Perspektive allesamt auf einem Kontinuum von Produktionsregeln.

Auf dem einen Ende des Kontinuums steht die Affigierung des Suffixes „-ed“ (decide, decided), dann Familien wie „sing-sang, ring-rang oder bind-bound, wind-wound. Dann die „suppletiven Verben“ wie englisch „go – went“, oder deutsch „sein-war-gewesen“. Auf der anderen Ende der Skala liegen die regulären Verben. Sie folgen einer allgemeinen Regel ohne die Vokale der ersten Silbe filetieren zu müssen. „Er sagt, er sagte, er hat gesagt.“ Reguläre wie irreguläre Verben sind also auf jeden Fall bestimmten Regeln unterworfen.

Trotzdem: Der Linguist mag zwar wissen, auf welche Klassen des Protogermanischen die starken Verben zurückgehen und so ein striktes Regelwerk ansetzen. Aber auch er muss zugeben: Begegnet einem ein Verb mit der Form K1eiK2en (etwa bleiben oder reiten oder seifen), so kann man nicht erkennen, ob es stark oder schwach gebeugt wird.

Nur wenn man weiß, dass es stark ist, so erkennt man aus dem Stammvokal eine bestimmte Klasse (die Klasse 1) und kann erschließen, dass das Präteritum K1ieK2 (blieb) lauten muss. Aber das gilt nur, wenn der Konsonant K2 stimmhaft ist. Bei nicht stimmhaftem K2 entsteht ein Präteritum mit. K1iK2K2 (ritt). Und dann gibt es gleich eine Ausnahme: seifte.

Man sieht: Um die Prognostizierbarkeit – Grundvoraussetzung einer Regel – ist es schlecht bestellt. Es scheint eher gewisse Familienähnlichkeiten in der Menge der starken Verben zu geben, und: eine Hinreichend-Notwendig-Logik mit klaren Grenzen nach außen und einer Binnendifferenzierung, ist hier eher nicht anzusetzen.

(2.2) Die Standard-Voreinstellung mit -te und Co

Bei Linguisten wie Thomas Pyles [http://www.uoregon.edu/~spike/ling290/badEnglish.html] findet sich der Hinweis, vermutlich sei das Suffix –ed auf ein protogermanisches Präteritum von „tun“ zuruckzuführen.

Man habe Verben einfach im Infinitiv gesetzt und sie von einem Präteritum „did“ abhängen lassen. Das habe man dann später verkürzt und mit dem Infinitivverb verschmelzen lassen.
Dieses umschriebene Präteritum ist eine Art Default-Pattern, eine Art von Voreinstellung bei undefinierbaren Verben, sie besagt folgendes: Wähle bei einem Verb, dessen Tempusbildung du nicht kennst - z,b. weil es aus dem Normannischen kommt, lieber Angelsachse – die Form mit did, beziehungsweise die mit dem Suffix -ed.

(2.3 ) Belege

Diese Default-These (Standard-Voreinstellung mit -te) hat ein paar interessante Belege:

a) Versprecher

Bei Kindern und Jugendlichen scheint sehr häufig die schwache Konjugation produktiv zu sein, das äußert sich in solchen Versprechern wie „er ladete“ oder „er laufte“ „gelauft“. „Opa hat gesitzt und gegesst.“
Offensichtlich ist das Muster der schwachen Konjugation sehr stark. Wir müssen es als Primärmuster in unserem Bewusstsein ansetzen. Es wird bei bestimmten (starken) Verben, die wir eben als Ausnahmen gespeichert haben, ausgesetzt oder narkotisiert. Das klappt aber nicht immer. Die Defaultregel und ihre Annehmlichkeiten eines einfachen Regelautomatismus setzen sich dominant.

b) Zwitter

Das Verb "senden" in der Bedeutung von "schicken" wird unregelmäßig gebeugt: Er sandte einen Boten; die Engel waren vom Himmel gesandt worden. Vielen Dank für die Blumen, die du mir gesandt hast.
Das jüngere Verb "senden" in der Bedeutung von "ausstrahlen" wird regelmäßig gebeugt: Der Fernsehkanal sendete plötzlich nur noch Wiederholungen; der Funkspruch ist längst gesendet worden.
Daneben findet sich wohl eine Tendenz auch Wendungen wie „er sendete mir eine Botschaft“, „er sendete mir einen Brief“ als akzeptabel anzusetzen. Die schwache Tempusbildung ist also ein neuzeitlicher, durchsetzungsfähiger Pattern.

Ähnliches gilt für saugen: Das alte Verb saugen wird unregelmäßig gebeugt: saugen, sog, gesogen; das Ferkel sog begierig an der Mutterbrust; er sog die Luft ein; als Kinder haben wir Cola immer durch den Strohhalm gesogen.

Das Verb hauen wird unregelmäßig gebeugt: hauen, hieb, gehauen. Häufiger als "hieb" ist heute die umgangssprachliche Form "haute" gebräuchlich. Beziehungsweise „haute“ hat das „hieb“ bereits verdrängt. Das regelmäßig gebeugte Perfektpartizip "gehaut" wird von manchen vielleicht als mundartlich klassifiziert..

(2.3) Adaptive Übernahme von fremdsprachigen und „fiktiven“ Verben, unser Reaktionsmechanismus

Wenn wir englische Ausdrücke übernehmen wie zum Beispiel „fighten“ tendieren wir dazu ein schwaches Präteritum zu setzen. Der Leser versuche die folgenden Sätze in die Vergangenheit zu transferieren. Sicher wird auch der Englischkundige (fought“) ein „wir fighteten“ oder ein „wir haben gefightet“ in sich aufsteigen spüren.
• Hier fighten Arzthelferinnen, Sekretärinnen. (Quelle: Süddeutsche Online)
• Bayerns Manager, den Calmund inzwischen als einzige Fußballgröße auf Augenhöhe akzeptiert, schätzt den Leverkusener als integren Mitbewerber, der "fighten kann wie ein Geisteskranker". (Quelle: Süddeutsche Online)
• Die Jungen, Wilden, Zeitgeister, die pushen, fighten und ums "Täglich Brot" kämpfen, die Franzobel, Danckwart, Pollesch und Schimmelpfennig, die die Auswahl 2002 besonders berücksichtigt und - nimmt man den Sieger 2001 - auch favorisiert. (Quelle: Süddeutsche Online)
• "Das schleppen wir schon die ganze Zeit mit uns herum, dass wir in Führung gehen, aber das zweite Tor nicht nachlegen", sagte der Trainer: "Dann mussten wir um den Sieg fighten. " (Quelle: Süddeutsche Zeitung 2002)
• Da muss man drum fighten. (Quelle: Süddeutsche Zeitung 2001)

Steven Pinker hat deutschsprachigen Personen einen Fragebogen vorgelegt. Man sollte
beurteilen, wie Partizipformen von völlig neuen Verben unserem Sprachbewusstsein erscheinen. Hier zwei Beispiele (Steven Pinker: Wörter und Regeln. Heidelberg 2000; S. 259f.):

Hier das neuartige Verb "bepfeifen" in Nähe mit einem bekannten Substantiv:
B1:
Die kleinen dreieckigen Pfeifen für Yuppies sind bei der Kundschaft gut angekommen. Täglich muss Tabakhändler Meier die Regal auffüllen, auf denen die Pfeifen aufgestellt werden. Morgens ist daher immer seine erste Sorge:

Sind die Regale auch schon bepfiffen?
Klingt schlecht --- klingt gut.
Sind die Regale auch schon bepfeift?

Hier das neuartig-erweiterte Verb "bepfeifen" in der Nähe des "normalen" Pfeifens:
B 2:
Die schöne Ilse glaubt, mit ihrem Pfeifen Karriere beim Film machen zu können. Wenn sie beim Vorstellungsgespräch gefragt wird, was sie kann, fängt sie keinesweg an, aus Goethes Faust zu zitieren. Nein, nein, Ilse beginnt zu pfeifen.

Mittlerweile hat sie schon sieben fassungslose Regisseure bepfiffen.
Klingt schlecht --- klingt gut.

Mittlerweile hat sie schon sieben fassungslose Regisseure bepfeift.
Klingt schlecht --- klingt gut.

Ergebnis:
Beide Verbformen („bepfiffen“ – stark und „bepfeift“ – schwach) hängen mit einem Substantiv zusammen: die Pfeifen (Tabaksgeschäft, B1), das Pfeifen (Ilse, B2). In B2 setzt sich das irreguläre, starke Muster durch. Offensichtlich ist in der Versuchsanordnung von B2 das starke Verbmuster als Grundmuster abrufbar dominant. Dagegen ist das starke Verbmuster in B1 wacklig.

Die reguläre (schwache) Verbform wurde bevorzugt, wenn das Verb auf ein entsprechendes Nomen in der Nähe eingestellt war.
Die irreguläre, starke Flexion wurde bevorzugt, wenn die Verbbedeutung lediglich "gedehnt"/"erweitert" war.

Wir tendieren bei einem Verb ohne Primärmuster eher dazu, das Defaultmuster, also die schwache Form in Kraft zu setzen.
Ansonsten sind wir "Konservativlinge".

Oder?

Bild
Seven Pinker und (Ehefrau) Rebecca Goldstein
( R. Goldstein: 36 Argumente für die Existenz Gottes. Roman;
Plato at the Googleplex: Why Philosophy Won't Go Away. Philosophical Novel)
Benutzeravatar
Willimox
Senator
 
Beiträge: 2725
Registriert: Sa 5. Nov 2005, 21:56
Wohnort: Miltenberg & München & Augsburg

Zurück zu Sonstige Diskussionen



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 16 Gäste