zu diskutierender Widerspruch

[sinemetu]

In der Physik heißt es:

Von verschiedenen Theorien, die dasselbe können, nimm die einfachste!

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=99hVAu1k6G8 - Siehe 19:23

Bei den Philologen heißt es: Lectio difficilior lectio probabilior est ...

Es das Erfahrung oder was?

[marcus03]

Es gilt das Prinzip der lectio difficilior, das heißt, dass die schwierigere Lesart wahrscheinlich die ältere ist. Dieses Prinzip beruht auf der Annahme, dass ein Text bei seiner Abschrift eher vereinfacht und geglättet wird als komplexer und unverständlicher wiedergegeben. Komplizierte Sätze werden vereinfacht, veraltete Wörter, Wortformen und Formulierungen durch modernere ersetzt. Im Falle von Verderbnis wird ein nicht mehr verständlicher oder offenkundig sinnloser Text zu einem leichter verständlichen abgeändert. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, durch unreflektierte Anwendung dieses mechanischen Prinzips einen Text künstlich zu verkomplizieren. Vollends problematisch, wenn nicht sinnlos, wird ein Vorgehen nach lectio difficilior bei Texten, die a priori keiner hohen literarischen Qualitätsstufe angehörten.

https://de.wikipedia.org/wiki/Textkritik

vgl:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ockhams_Rasiermesser

[Zythophilus]

Das Argument mit der lectio difficilior zielt nicht zuerst auf bewusste Glättungen, Vereinfachungen etc. ab. Welches Kriterium gilt für difficilis bzw. difficilior? Seltenheit gehört m.E. dazu, auch wenn ein Wort objektiv betrachtet nicht unbedingt schwieriger zu schreiben als ein häufigeres ist. Der halbwegs versierte Abschreiber ist nicht nur versucht, Formen, die er nicht kennt, als vermeintliche Fehler absichtlich zu ändern, er liest oft schon das, was seinem Erwartungshorizont entspricht, er liest es sich unter Umständen sogar vor, und ändert den Text unwissentlich.
Wenn wir einen eigenen Text kontrollieren, fallen uns oft auch Fehler nicht auf: Das liegt i.d.R. nicht daran, dass wir die entsprechenden Regeln nicht kennen, sondern daran, dass wir es in der richtig gedachten Version lesen.
Der Abschreiber, der nicht weiß, was er da schreibt, und nur die Buschstaben kopiert, macht zwar auch Fehler, aber die sind meist leichter zu durchschauen.

[medicus]

Wenn wir einen eigenen Text kontrollieren, fallen uns oft auch Fehler nicht auf: Das liegt i.d.R. nicht daran, dass wir die entsprechenden Regeln nicht kennen, sondern daran, dass wir es in der richtig gedachten Version lesen.

Das ist eine prima Erklärung, warum ich oft eigene oder fremde Fehler übersehe.

[marcus03]

Textüberlieferung ein Fall für Psychologen?

[Zythophilus]

Manches lässt sich sicher psychologisch erklären. Es hat jetzt nicht viel mit Textüberlieferung zu tun, aber wir lesen normalerweise auch ein Wort, in dem die Buchstaben vertauscht sind, aber der erste und der letzte stimmen, richtig. Im Internet tauchen auch immer wieder Bilder von Texten auf, in denen einzelne Buchstaben durch ähnlich aussehende Ziffern ersetzt; wenn wir eine Vorstellung haben, was es sein soll, ersetzt unser Gehirn offenbar das Fehlende bzw. korrigiert das Falsche.