Vox Rotacismi

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Vox Rotacismi

Beitragvon sinemetu » Mi 3. Jul 2019, 07:50

Wenn ich nach dem Wort Rhotazismus gefragt habe, habe ich bisher immer so das erhalten, was auch bei Wikipedia insinuiert steht:
Als Rhotazismus (gr. ῥῶ rho) bezeichnet man den Lautwandel eines beliebigen Konsonanten zu r.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Rhotazismus
Insinuierte und bisweilen auch expressis verbis ausgedrückt wird (Il rotacismo (parola che deriva dal greco ῥῶ rhô, « la lettera r »)), daß das Wort Rhotazismus vom altgr. Buchstaben Rho käme, und würde deshalb auch mit h geschrieben. (La parola rotacismo deriva dalla lettera greca aspirata rho.)

Die meisten nehmen das auch so hin. Klingt ja auch plausibel. Wenn ich dagegen eine Sache drei mal lese, setzen Zweifel ein. Diese Zweifel nun fassen sich angesichts dieser Erklärung des Wortes Rhotazismus in die Frage: Wie ist dann die Silbe -taz- motiviert, wenn sich das Wort nur aus dem Wort für den griech. Buchstaben Rho und der gr. Endung -ismus zusammensetzt? Warum heißt das Wort nicht etwa Rhosmus? Die Frage ist legitim.

Bei Franz Passow finde ich das Wort Rhotazismus nicht, sondern nur eine ganz kurze Notiz zum Verbum: Rhotakizo. Dort ist die Bedeutung angegeben: Das r oft oder zu oft beim Sprechen oder Schreiben gebrauchen." Dann steht da noch "Suid." - was ich deute, daß es erst in der Suda nachgewiesen ist, also am Ende des 1. Jahrtausend u. Z. Die Endung -kismus ist mir außer bei Lamarkismus und Spartakismus, wo das k ja wohl eindeutig zum 1. Teil des Wortes gehört, nicht bekannt.

Dann wäre die Endung auch nicht -ismos, sondern kismos. Und dann ist es erlaubt, die Vermutung auszusprechen, daß der erste Teil des Wortes, das lat. Rota ist. Immerhin "rollt" man das R bis heute. Das h im Begriff könnte, ich weiß nicht wann, durch irgendeinen griechisch lesenden Orthografen (ev. Scaliger, soll Laptop mal kucken.) hineingesetzt worden sein, der noch die assoziative Präsenz des griechischen. Buchstabens im Worte haben wollte. Nun hat sich diese gewollte assoziative Präsenz vollkommen durchgesetzt, und das lat. Rota derart in den Hintergrund gedrängt, daß es nur noch wenige hören. Warum Rota? Weil die Alten das, was wir als Lautwandel bezeichnen und verstehen, der ihnen durchaus bekannt und bewußt war, als Lautrotation sahen. (Rota generationis aus dem Hebräerbrief als Vorbild) Wenn die Neueren in Anlehnung an Rhotazismus den Wechsel von B und V Betazismus* nennen, so war den Alten schon deutlich, daß bestimmte Kräfte Worte zwischen 2 konsonantischen Polen pendeln lassen konnten (Feriae, Fesiae), und das diese beiden Pole auch synchron bedeutungsdifferenzierend auftreten konnten (piscis, fiskus). Das Wort Betazismus konnte erst entstehen, als das Wort Rhotazismus schon eingeengt auf einen Wechsel mit r, war. Da der Ursprung ja wirklich mit dem R zusammenhing, müßte man jetzt nachweisen, daß irgendjemand der vielen Grammatiker das Wort Rhotazismus auch auf eine R-losen Lautwechseln bezogen hat. Das k übrigens sehe ich als konsonantischen Epenthese.

Ich mag mich irren, aber die Silbe "ta" soll mir mal jemand erst einmal anders erklären. In Ermangelung von Alternativen mach ichs solange so!

* https://de.wikipedia.org/wiki/Betazismus
inzwischen gibt es Zetacism und Lambdazism, see here: https://en.wikipedia.org/wiki/Lambdacism
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Re: Vox Rotacismi

Beitragvon Tiberis » Do 4. Jul 2019, 11:02

sinemetu hat geschrieben:Ich mag mich irren, aber die Silbe "ta" soll mir mal jemand erst einmal anders erklären


Das Wort Rhotazismus ist natürlich ein Kunstwort. Es setzt sich zusammen aus
rho + t + az + ismus:

rho ist der grch. Laut, um den es hier geht
t = Bindekonsonant zur Vermeidung eines Hiats
az = Verbalinfix, wie in δικαζω (zu δικη), εργαζομαι (zu εργος), ατιμαζω (zu ατιμος) etc. Bezeichnet meist das Bewirken dessen, was das Stammwort ausdrückt (ατιμος=ehrlos, ατιμαζω= ich entehre).
ismus = Suffix, das meist ein Prinzip ausdrückt

also ist Rhotazismus ein Prinzip, welches die Bildung des Lautes "rho" (bzw. "r") bewirkt.
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Re: Vox Rotacismi

Beitragvon sinemetu » Do 4. Jul 2019, 11:34

Hallo Tiberis, danke für Deine Antwort, sie genügt allerdings noch nicht vollständig.

Tiberis hat geschrieben:Das Wort Rhotazismus ist natürlich ein Kunstwort.

Wie ist denn die Beleglage, ist es wirklich erst 10 Jahrhundert u. Z.? Ist der Präger bekannt?

Tiberis hat geschrieben:rho + t + az + ismus:
1. rho ist der grch. Laut, um den es hier geht
2. t = Bindekonsonant zur Vermeidung eines Hiats
3. az = Verbalinfix, wie in δικαζω (zu δικη), εργαζομαι (zu εργος), ατιμαζω (zu ατιμος) etc. Bezeichnet meist das Bewirken dessen, was das Stammwort ausdrückt (ατιμος=ehrlos, ατιμαζω= ich entehre).
4. ismus = Suffix, das meist ein Prinzip ausdrückt
also ist Rhotazismus ein Prinzip, welches die Bildung des Lautes "rho" (bzw. "r") bewirkt.


Bild

wenn az = Infix, (Es gibt sehr viele Verba mit dem Intensivinfix ιζ/αζ), dann wäre das Kappa auch noch zu erklären, denn zum Stamm kann es ja nicht gehören, wie bei δικαζω (zu δικη). Und ein 2. Bindekonsonant? Wäre dann nicht Rhotismus zu erwarten? Ist nicht das ιζ im Suffix -ismus aufgegangen?

Tiberis hat geschrieben:...also ist Rhotazismus ein Prinzip, welches die Bildung des Lautes "rho" (bzw. "r") bewirkt.
Das will ich für den Ursprung gar nicht bestreiten, aber eventuell ist es später mal im Sinne von Rota gelesen worden, wofür den Nachweis zu bringen aber ich schuldig bin. Griechisch wäre das Rad übrigens Trochos.
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Re: Vox Rotacismi

Beitragvon cometes » Do 4. Jul 2019, 12:39

Kunstwörter zeichnen sich eigentlich dadurch aus, dass sie nicht nach herkömmlichen Wortbildungsregeln natürlicher Sprachen erzeugt werden.

Ich vermute den für Rhotazismus historisch maßgeblichen Bildungstyp eher bei den lateinischen Grammatikern der Spätantike, die neben iotacismus, labdacismus (welche schon bei Quintilian Inst. I 5, 32 als vitia oris et linguae auftauchen) auch mytacismus (moetacismus, myotacismus, motacismus) geprägt haben. Martti Nyman behauptet in Mytacism in Latin Phonology (Glotta 55. Bd., 1./2. H. [1977], pp. 111-120), dass es keinen Beleg für ein griechisches Vorbild gebe.
Insbesondere die Variante myotacismus wirft die Frage auf, ob es sich bei rhota- nicht um eine Art Kontamination handelt.
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Re: Vox Rotacismi

Beitragvon sinemetu » Do 4. Jul 2019, 15:22

cometes hat geschrieben: iotacismus, labdacismus mytacismus (moetacismus, myotacismus, motacismus) Insbesondere die Variante myotacismus wirft die Frage auf, ob es sich bei rhota- nicht um eine Art Kontamination handelt.


Naheliegender als Anlehnung an myotacismus wäre doch eine Anlehnung an iotacismus, denn da gehört zumindest das t zum Stamm. So wäre das Ta (Anlehnung) und das K als Bindevokal wegen des Hiatus motiviert.
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Re: Vox Rotacismi

Beitragvon cometes » Do 4. Jul 2019, 16:42

Naheliegender als Anlehnung an myotacismus ...


So war es auch gemeint. Wie bei [my-(o)ta]-c-ismus käme bei [rho-ta]-c-ismus die nominale Basis durch eine Art Kontamination des jeweiligen Buchstabennamens mit iota zustande. Ich sage eine Art Kontamination, weil die Verschmelzung hier kein Wort mit einer neuen Bedeutung hervorbringt, das als Derivationsbasis dient, -[ta-c-ismus] hat auch ein wenig von einem (sehr eingeschränkten) Konfix.
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Re: Vox Rotacismi

Beitragvon sinemetu » Do 4. Jul 2019, 20:01

Jetzt wäre nur noch zu klären,
1. wie überhaupt die Bedeutung von "übermäßig r-sprechen" auf R-Konsonantentausch gekommen ist und
2. wie die Begriffserweiterung auf alle Konsonanten bei Rhotazismus zustande kam. Sieht man heute bei Wiki nach, spielt zumindest der 2. Konsonant keine Rolle mehr.... ursprünglich war wohl nur r-s-Wechsel gemeint, oder?

Die bei Passow genannte Bedeutung, also das übermäßige r beim Sprechen hat übrigens eine direkte Entsprechung im Ungarischen. Dort ist das normale der Zungen-Ton. Dann gibt es Leute, die Rollen das r weiter hinten, fast schon, wie bei den Deutschen, das nennt man rácsolni, was man mit einem Gaumen R spricht. Das meint aber ausdrücklich nicht Konsonantentausch.
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