Meine Vorrednerin Mystica hat ihre Gedanken zu einer typisch materialistischen Argumentation vorgebracht.
Mein Name ist Severin Brecht,
soweit ich Herrn Thrasybulus verstanden habe, geht es darum, in der Art einer offenen Debatte eine Fremdargumentation auf ihre Schlüssigkeit zu überprüfen. Dabei ist auch der spielerische Gehalt einer solchen Übung zu bedenken. Das Spielerische mag dazu nützen, eine Argumentationsstruktur aufzuhellen und sie dann anzugreifen, wobei - das scheint mir wichtig - nicht unbedingt die eigene Überzeugung die Begleitmusik spielen muss. Es geht um ein durchaus elegantes Florettfechten, um eine rhetorische Übung. Ihr durchaus ernster Hintergrund: Man legt sich nicht voreilig fest und beharrt nicht oder weitgehend nicht in selektiver Wahrnehmung auf seinen Positionen.
Nun denn...
(1) Petitio PrincipiiMystica scheint manchmal das Kursmaterial eher kurzschlüssig zu behandeln. So heißt es ja
(...) Zumindest seien naturalistische Erklärungen weit weniger problematisch als Erklärungen von Dualisten. Und damit wahr oder zumindest wahrscheinlicher.
Wir betrachten eine typische Argumentation der naturalistischen Art.
Argumentation 1 - Nichtmaterielle Gegenstände gibt es nicht:
1. Nicht-materielle Gegenstände der Art A (Götter, Engel, Gott) anzunehmen, ist problematisch.
2. Der Aspekt X der materiellen Welt (z.B. das hochkomplexe Auge) kann auf die Weise E (Evolution) erklärt werden, ohne auf Gegenstände der Art A Bezug nehmen zu müssen.
3. Von zwei Erklärungen ist diejenige besser, die ohne die Bezugnahme auf problematische Gegenstände auskommt.
4. Also ist die Erklärung E besser als die durch nicht-materielle Gegenstände der Art A.
5. Ist eine Erklärung des Aspekts X der Wirklichkeit der einzige Grund, Gegenstände der Art A anzunehmen, lässt sich X jedoch besser ohne Gegenstände der Art A erklären, dann gibt es diese Gegenstände A mit hoher Gewissheit gar nicht.
6. Also gibt es vernünftigerweise keine nicht-materiellen Gegenstände der Art A.
Also kann man der naturalistischen Argumentation nun wirklich nicht eine petitio principii (Vor-Vorraussetzung des erst zu Beweisenden) vorhalten. Es ist der fragliche Satz ja lediglich eine Überschrift.
Die Argumentation in den sechs Sätzen beginnt vielmehr mit durchaus diskutablen Prämissen (1-5) und führt dann zu einer induktiv abgeleiteten aber in ihrer Wucht nicht gerade gerechtfertigten Conclusio in 6. Einen ähnlichen Vorgang der vorschnellen Kritik finde ich übrigens bei dem Vorredner Sinemetu, er setzt auch - wenn auch kaum präzise - auf den Vorwurf einer Voreinstellung und übersieht den Ablauf des Gedankengangs.
(2) Problematische Gegenstände: Der Rekurs auf Kardinal SchönbornMeine Vorrednerin verfolgt eine interessante Strategie: Sie erklärt, dass naturwissenschaftliche Untersuchungen zu Phänomenen sich etwa im Verlauf der Geschichte ändern oder gar synchron in verschiedenen, fast widersprüchlichen Varianten auftauchen. Insofern seien sie mindestens so problematisch wie - nennen wir es einmal so - "metaphysische" Erklärungen.
Auffallend ist dabei ein gewisser Selbstwiderspruch. Schönborns früher Aufsatz zu einer Evolution, die in der Nähe von Intelligent Design anzusiedeln ist, und so offensichtlich für meine Vorrednerin eine gewisse Verbindlichkeit besitzt, lässt aufhorchen.
Ist das Evolutionsmodell mit
Überproduktion,
Variation (im genetischen Code, minimale Variation),
Selektion („natural selection“; Charles Darwin)
Migration
nun nicht mehr problematisch? Weil es - so eine kirchliche Autorität - zur Genesis passen könnte?
Gewiss, Schönborn hebt in Times-Aufsatz auf einen Gegenbegriff zu "Zufall" und "blinder Uhrmacher" ab:
Die Evolution im Sinn einer gemeinsamen Abstammung (aller Lebewesen) kann wahr sein, aber die Evolution im neodarwinistischen Sinn – ein zielloser, ungeplanter Vorgang zufälliger Veränderung und natürlicher Selektion – ist es nicht. Jedes Denksystem, das die überwältigende Evidenz für einen Plan in der Biologie leugnet oder weg zu erklären versucht, sei Ideologie, nicht Wissenschaft.
Allerdings spricht sehr viel dafür, dass in der Evolution ein Aussterbenlassen und Ausschalten von weniger lebenstüchtigen Lebewesen zu beobachten ist. Eine art von "trial and error" mit einem heftigen Blut- und Leidenszoll. Und das bereits weit lange vor dem, was manche als Ergebnis des Sündenfalls bezeichnen. Der Tod als Strafe für Ungehorsam und und weitervererbte Schuld (Erbsünde). So ist denn der zielgerichtete Schöpfungsakt problematisch und problematisch ist das Modell eines gütigen Gottes. Das Theodizee-Problem ist ein echtes Problem in der metaphysischen Deutung der Welt und ihrer "Gegenstände".
Auf dieses zentrale Problem in der Argumentation meiner Vorrednerin werde ich noch ausführlicher eingehen. Jetzt erst einmal ein Modell für ein empirisches Verfahren.
(3) Wie testet man eine Annahme?Ein Kriegsgefangener lehnt im Lande des Siegers die dort übliche Speise ab. Um statt dessen die gewohnte heimatliche Speise zu erhalten, behauptet er gegenüber dem Aufseher, die heimatlichen Speisen seien viel gesünder.
Der Aufseher glaubt das nicht und entgegnet, wenn der Oberaufseher sehen würde, dass die Gefangenen schlechter aussähen als andere Leute gleichen Alters, brächte er ihn beim König um sein Leben. Der Gefangene beharrt jedoch auf seinem Verlangen; der Aufseher willigt in einen befristeten Test, den der Gefangene vorschlägt mit den Worten:
"Versuch’s doch mit deinen Knechten zehn Tage und laß uns Gemüse zu essen und Wasser zu trinken geben. Und dann laß dir unser Aussehen und das der jungen Leute, die von des Königs Speise essen, zeigen; und danach magst du mit deinen Knechten tun nach dem, was du sehen wirst.
Und er hörte auf sie und versuchte es mit ihnen zehn Tage. Und nach den zehn Tagen sahen sie schöner und kräftiger aus als alle jungen Leute, die von des Königs Speise aßen. Da tat der Aufseher die Speise und den Trank, die für sie bestimmt waren, weg und gab ihnen Gemüse.
Dieser Test enthält wohl zentrale Elemente wissenschaftlichen Vorgehens:
1. Das Experiment testet die Vermutung des Aufsehers
Kein Essen ist gesünder als das des Königs gegen die Vermutung des Gefangenen
Das Essen meines Heimatlandes ist gesünder als das des Königs.
2. Eine Kontrollgruppe.
3. Ein vor dem Versuch festgelegtes Kriterium.
4. Einen Zeitpunkt für das Ende des Versuches.
5. Nach dem Experiment ist die Vermutung des Aufsehers falsifiziert, die des Gefangenen bewährt.
6. Die Folgerung für das praktische Handeln aufgrund des Versuchsergebnisses, die Ablehnung der Speise des Königs.
Durchaus bemerkenswert: Dieser wissenschaftliche Standard wurde bereits vor mindestens 2200 Jahren erreicht– der empirisch orientierte Bericht steht in der Bibel (Daniel 1, 10–17). Nach heutigen Begriffen testet das Daniel-Experiment eine Ernährungstherapie, also einen Teil der Naturheilkunde.
Hat Daniel Gott gebeten, er möge das Essenexperiment segnen? Vielleicht, vielleicht auch wahrscheinlich.
Hat Daniel Gott darum gebeten, er möge ihm auch ohne Experiment helfen und den Aufseher etwa durch einen göttlichen Traum überzeugen oder geneigt machen? Eher nicht.
Ist das ein Beleg dafür, dass Daniel nicht gläubig genug war? Wohl kaum.
Ist es so, dass ohne ein entsprechendes Gebet zu Gott das Experiment gescheitert wäre? Wohl kaum.
Was spricht also dagegen, dass Ärzte oder andere Wissenschaftler atheistischer Provenienz ihre Forschung und ihre Erfolge riskieren? Kaum etwas.
Spricht das dafür, gläubige Ärzte für töricht oder schlechte Ärzte zu halten? Kaum. Kaum, weil es manche gibt, die mit völlig ungeeigneten Mitteln eine Krebstherapie durchführen wollen. Ungeeignet, weil nicht getestet oder was immer.
Spricht das dafür, dass man gläubige Ärzte verlacht und mit Hohn überzieht? Nein.
Das Leib-Seele-Problem, die Frage nach der Wirklichkeit von Spirituellem und die Frage nach der Überzeugungskraft entsprechender Theorien ist ganz zweifellos auch für eingefleischte, geistskeptische Wissenschaftler eine Herausforderung. Und das ist in deren Argumentation auch (meist) ersichtlich.
Dass es plumpe Naturalisten gibt, ist keine Frage. Dass es plumpe Theisten und Metaphysiker gibt, ist auch keine Frage.
Kann man gläubigen Ärzten die Frage stellen, ob naturwissenschaftliche, rationale Untersuchungen von Gott gewollt sind? Ja, sie könnten etwa argumentieren, dass der menschliche Geist, ob er nun unsterblich ist oder nicht, darauf aus ist, zu explorieren. Und er tut das, ob man nun an Gott glaubt oder nicht.
Warum sollte man dann dem Glauben an Spirituelles einen besonders hohen Stellenwert einräumen oder gar auftrumpfend verkünden? Ich weiß es nicht.
Sind naturalistische Erklärungen von Heilungserfolg, Therapie, gesunder Lebensführung weniger problematisch als rein spirituelle Erklärungen. Mir scheint ja. Und damit ist die Conclusio nicht absolut und "eliminativ" zu formulieren, sondern wahrscheinlichkeitsorientiert:
5. Ist eine Erklärung des Aspekts X der Wirklichkeit der einzige Grund, Gegenstände der Art A anzunehmen, lässt sich X jedoch besser ohne Gegenstände der Art A erklären, dann gibt es diese Gegenstände A vielleicht. Aber mit einiger Wahrscheinlichkeit sind sie von minderer Bedeutung in Erklärungsversuchen.
6. Also gilt es vernünftigerweise, im praktischen Leben nicht-materielle Gegenstände der Art A. als vielleicht unwahrscheinliche, aber doch keineswegs als notwendige Entitäten anzusehen.
Hier mache ich nun eine Pause.