Himmlische Heimat. Das Lied zum Herrn.

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Himmlische Heimat. Das Lied zum Herrn.

Beitragvon Willimox » Do 21. Nov 2019, 13:09

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Das Unterforum Sonstiges hat einige interessante Beiträge zu Religionsfragen aufzuweisen. Hier eine Skizze zu religiöser Musik in einem Film von 2003.

(1) Cold Mountain und die Heimkehr

1.1 plot

Der Film Unterwegs nach Cold Mountain ist ein opulentes Bürgerkriegsepos mit einer Odysseus-Liebesgeschichte (Law, Kidman, Zellweger; 2003). Eine Liebesgeschichte, die 1860 in den Bergen von North Carolina beginnt. Die Pfarrerstochter Ada (Nicole Kidman) verliebt sich in den jungen Inman (Jude Law) , der aber kurze Zeit später in den Krieg ziehen muss.

Anthony Minghellas Film, der auf dem brillanten ersten Roman von Charles Frazier basiert, beginnt mit einer Bürgerkriegsschlacht, in der es kaum mehr um Werte geht, was wir sehen, ist brutales Schlachten auf einem Boden, der vom fließende Blut der Verstümmelten und Sterbenden feucht und schlammig wird. Eine höllische Szene, eine Hölle auf Erden.

Der konföderierte Soldat Inman (Jude Law), der im Kampf verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert wurde, ist zutiefst desillusioniert und beschließt, zu desertieren. Er macht sich zu Fuß von Virginia aus auf den Weg zu seiner Heimatstadt in den Blue Ridge Mountains, wo er Ada Monroe (Nicole Kidman) zurückgelassen hat, gerade als zwischen ihnen Liebe aufkam. Obwohl sie nur wenige Gespräche geführt und sich einmal geküsst haben, findet jeder von ihnen Halt in dieser Begegnung und in dem Versprechen einer gemeinsamen Zukunft.

Rückblenden erzählen die Geschichte von Ada und ihrem Priestervater (Donald Sutherland), die aus Charleston umgesiedelt sind, um auf einer Farm in der ländlichen Black Cove im Schatten von Cold Mountain zu leben. Als ihr Vater stirbt, ist Ada, die für das Stadtleben erzogen wurde, nicht gerüstet, um den Hof zu führen. Die Investitionen ihres Vaters werden durch den Krieg wertlos. Ada überlebt nur mit Geschenken von einer freundlichen Nachbarin, Sally Swanger (Kathy Baker).

Die Hilfe kommt in Form von Ruby Thewes (Renee Zellweger), einer einheimischen Frau mit wenig Bildung, aber einer Fülle von Fähigkeiten in Landwirtschaft und Überleben überhaupt. Gemeinsam arbeiten die beiden Frauen daran, die Farm aus dem Ruin zu führen. Eine Bande von Homeguards, gesetzlose vom Gesetz bestallte Kopfgeldjäger, die auf der Suche nach Deserteuren sind, wird zu einer Bedrohung für die Region.

Die Geschichte von Ada's Erlebnissen wird mit Episoden aus Inman's odyssey-ähnlicher Heimreise geschnitten. Auch er muss auf seinem Weg den Homeguards ausweichen und trifft: einen sexuell getriebenen Prediger (Philip Seymour Hoffman), eine Bergfrau, die isoliert mit ihren Ziegen im Einklang mit der Natur lebt (Eileen Atkins), eine einsame junge Witwe, die allein mit ihrem Baby lebt (Nathalie Portman), einen wilden Hinterwäldler, der seine Töchter als Sexköder benutzt (Giovanni Ribisi).

1.2 Sacred Harp

Beide Erzählstränge sind episodisch angelegt, jede Episode eine Lernerfahrung für Inman on the road und Ada zu Hause. Dann ein herzerreißendes Finale, doch.

https://www.youtube.com/watch?v=kfxXPhKuMUA

https://de.wikipedia.org/wiki/Unterwegs_nach_Cold_Mountain_(Film)

Mir fiel das Singen in der Kirche des Pfarrers und seiner Tochter auf. Ein Performance-Stil, der ein wenig an Spirituals und Gospels erinnert: Taktschlagende Handbewegungen während des ganzen Gesanges, zu Beginn lediglich die Tonfolge ohne Text mit bloßem Fa, So, La, Mi , dann die Strophenfolge und ihr Chorus. Ein Pitcher gibt die Grundmelodie vor und begleitet die Gruppe, die so zu einem Chor wird: Sacred Harp.

Hier ein eher konzertantes Auftreten in Los Angeles, mit dem Text beginnt die Gruppe nach textfreiem Einstieg etwa bei 2´5´´
https://www.youtube.com/watch?v=UWQDl6cyj2Y

Farewell, vain world! I'm going home!
My savior smiles and bids me come,
And I don't care to stay here long!
Sweet angels beckon me away,
To sing God's praise in endless day,
And I don't care to stay here long!

(Chorus)
Right up yonder, Christians, away up yonder,
O, yes my Lord, for I don't care to stay here long.

I'm glad that I am born to die,
From grief and woe my soul shall fly,
And I don't care to stay here long!
Bright angels shall convey me home,
Away to New Jerusalem,
And I don't care to stay here long!

(Chorus)
Right up yonder, Christians, away up yonder,
O, yes my Lord, for I don't care to stay here long.

(Chorus)
Right up yonder, Christians, away up yonder,
O, yes my Lord, for I don't care to stay here long.

(2) Die Behandlung des Heim-Begriffes

Auffällig, wie hier mit dem Heim- und Heimatbegriff umgegangen wird und dem, was uns allen bevorsteht, dem Tod: Eine Negativkonnotation „vain world“, der Vanitas-Topos einer nichtigen Welt, markiert und gestützt durch Leidenslast („grief and woe“) und den Kontrast dazu in einer himmlischen Welt ewigen Glückes. So verliert sich Sterbensangst in Glück und in der neuen Heimat („New Jerusalem“):

I'm glad that I am born to die,
From grief and woe my soul shall fly


Das Lied wird im Chor gesungen, arbeitet aber über weite Strecken mit der ersten Person Singular. Damit ist eine Doppelperspektive eingepflegt, was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die anderen Einzelnen. Und in der Gruppe des Kollektives „Christians“ hebt sich Individuelles in Überindividuellem auf. So ist dann der Einstieg mental und emotional gestützt und unterfüttert: „Farewell, vain world! I'm going home!“. Die irdische Heimat hat die Konnotation „home“ verloren, die bessere Heimat ist nun das Ziel.

Hier eine weniger konzertante, eine offene Aufführung, der Text beginnt etwa bei 1´:

https://www.youtube.com/watch?v=t4liEuDm8ac

(3) Ambivalenzen

Man mag darüber lächeln, was da Naives gesungen und physisch getaktet wird. Doch auch Agnostiker dürften mit einer gewissen Faszination auf diesen Gesang reagieren. Die soziokulturelle Erklärung nimmt nicht viel von dieser Faszination bei mir weg. Physische Synchronisation wirkt: Wir erleben eine psychologische Synchronisierung und eine Identitätsfindung und Identitätsstabilisierung in der Gruppe. Singen, Skandieren, Stehen, Marschieren – das läuft darauf hinaus, ein «Wir-Gefühl» zu erzeugen. Wir kennen dieses Phänomen auch aus totalitären Zeiten und ihren Werkzeugen.

Menschen, „andere“ Menschen, werden Teil meines erweiterten Ichs. Sie werden „Brüder und Schwestern“, eine bürgende und kräftigende Gemeinschaft, nicht ohne die ambivalente Unterordnung. Eine göttliche Figur, ein Stellvertreter auf Erden.

Kooperation ist gut fundiert, wo gemeinsam gesungen und getanzt und marschiert und geklatscht wird. Nicht zuletzt kann die natürliche Todesangst gemildert oder gar ausgehebelt werden. Trotzdem, ich wiederhole mich, es ist schwer, diesen Rhythmus ungerührt und intellektuell gewarnt ohne Beteiligung zu erleben.

Eine anthropologische Konstante mit Illusionszwang? Kirchen und kirchenartige Instanzen haben in der Geschichte immer wieder doppelwertig gearbeitet: In Glaubenskriegen gegen die Heiden und gegen andere Konfessionen. In wieder anderen Phasen mit dem Modell von allen Menschen als Gotteskindern.

Also eine universale Variante und eine partikulare. Eine inklusive und eine exkludierende. Unabhängig davon: In kollektiven Gesängen wird die Macht der Musik und - so scheint es - auch eine überirdische Macht fühlbar. Andockbar an politische und religiöse Systeme.

Weniger abgehoben: Mich fasziniert die Körpersprache der Pitcherin und des Mädchens links hinter ihr, das mit dem roten Pulli. Und auch die der schwarz gekleideten jungen Frau, eher skeptisch auf einem roten Stuhl im Hintergrund sitzend.

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Anregend:

Claussen, Johann Hinrich: Gottes Klänge. Eine Geschichte der Kirchenmusik, München: Beck, 2015.
Gardiner, John Eliot: Bach. Musik für die Himmelsburg, übers. von Richard Barth, München: Piper, 2016.
Joseph, Jordania: Choral Singing in Human Culture and Evolution, Melbourne: Lambert Academic Publishing, 2015.
Wild, Beate: Fur Within, Flowers Without: A Transylvanian Fur Coat Worn to Church, in: Elisabeth Tietmeyer und Irene Ziehe (Hg.): Discover Europe!, 2008, S. 26–34.
Arcangeli, Margherita: Against Cognitivism About Supposition. In: Philosophia 42/ 3 (2014), 607– 624. Balcerak Jackson, Magdalena: Justification by Imagination. In: Dorsch, Fabian/ Macpherson, Fiona (Hg.): Perceptual Imagination and Perceptual Memory. Oxford 2018.
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