Latein im Bundestag

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Latein im Bundestag

Beitragvon RM » Fr 22. Okt 2010, 07:23

Salvete!

Sagt mal: Kennt jemand die Gruppe "Klassische Sprachen" des Bundestages? Bin zufällig drüber gestolpert: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2010/30751804_kw31_klassische_sprachen/index.html

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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon Laptop » Fr 22. Okt 2010, 07:55

Finde das Interview ganz passabel gelungen; kann aber beim besten Willen nicht nachvollziehen, was in der PG Produktives geschafft wird. Um den Sprachen mehr Anreiz zu verschaffen brauchen sie vor allem Lebendigkeit und munteres Lehrwerk, keine Wettbewerbe oder mehr Lehrer. Qualität statt Quantität.
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon Apollonios » Fr 22. Okt 2010, 08:40

Laptop hat geschrieben:Finde das Interview ganz passabel gelungen; kann aber beim besten Willen nicht nachvollziehen, was in der PG Produktives geschafft wird.


Das sehe ich anders; im Bundestag wird auch über Schulreformen beschlossen, und da kann es nur gut sein, wenn die alten Sprachen auch dort ihre Freunde haben. Vielleicht wird auf diese Weise gerade noch verhindert, daß der Latein- und Griechischunterricht völlig von den Schulen verbannt wird.
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon RM » Fr 22. Okt 2010, 18:34

Apollonios hat geschrieben:im Bundestag wird auch über Schulreformen beschlossen,

Allerdings recht unverbindlich, denn Schulpolitik ist ja Ländersache. Das Einzige, was der Bund gelegentlich darf, ist den reichen Erbonkel spielen, aber nur, wenn er den Neffen nicht vorzuschreiben versucht, was sie kaufen sollen.

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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon Apollonios » Fr 22. Okt 2010, 21:13

Stimmt - und damit ist umso wichtiger, daß der reiche Erbonkel wenigstens versucht, den jungen Lümmel auf den rechten Weg zu bringen. :D
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon Medicus domesticus » Fr 22. Okt 2010, 23:14

Ich muss sagen, da besteht im Noricum, pars Bavarica in montibus altis sita , kein Problem.....Als mein ältester Sohn Sprachenwahl zur 6. Klasse hatte, war eher das Problem, ob Französisch zustande kommt... ;-) Die Lehrer gestalten bei uns im Gymnasium heute den Lateinunterricht so interessant, dass mein Sohn und viele in der Klasse Latein eher als etwas Besonderes empfinden.....
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon Procopius » Sa 23. Okt 2010, 21:09

Es wäre sehr zu wünschen, wenn die angeblich 70 Gruppenmitglieder (siehe Link) auf ihre altsprachliche Schul"bildung" in ihren veröffentlichten Lebensläufen auch hinweisen würden.
Ich habe kürzlich das Handbuch für die 15. Wahlperiode durchgeblättert und fand nur ganz wenige Abgeordnete, die "altsprachliches" oder "humanistisches" Abitur in ihren Viten angegeben hatten:
Haibach,
Weizsäcker, Ernst Ulrich von,
von Klaeden,
Dr. Ruck,
Dr. Stadler
Rainer Funke.
Sehr zu loben ist übrigens von Klaeden, der wohl in jeder Rede ein Zitat aus einem "Alten" hat.
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon philistion » Mo 25. Okt 2010, 22:29

Longipes hat geschrieben:dass wir uns jenes nervigste und platteste Argument -
Wäre es aber in Zeiten von Globalisierung und zunehmender länderübergreifender Mobilität nicht sinnvoller, über einen Ausbau des modernen Fremdsprachen-Unterrichts nachzudenken, als über eine verstärkte Förderung von "toten" Sprachen wie Latein und Alt-Griechisch?

- in Zukunft nicht mehr werden anhören müssen.

Das werden wir uns - wie ich befürchte - in Zukunft wohl noch häufiger anhören müssen. "Wir" wären daher gut beraten, dem eine fundierte Antwort entgegen zu halten.

Ich würde dabei gar nicht auf die angeblichen Vorteile zum Deutsch-Lernen unter Migrantenkindern verweisen, sondern versuchen, mit demjenigen, der eine solche Frage stellt, die eigentlichen Ziele von Bildung (mäeutisch ;)) zu erörtern.
Meines Erachtens geht es bei Bildung um die Vermittlung eines ganzen Fundaments an Bildungsgut, das keineswegs nur darauf beschränkt sein darf, "in Zeiten von Globalisierung" der Wirtschaft dienliches Humankapital zu liefern. Das Vertrauen in die heilige (Markt)Wirtschaft beginnt schon leicht zu bröckeln, wenn nun immer noch Leute mit der Ansicht durch die Welt gehen, Ziel der Bildung sei es, die Leute möglichst speziell auf die wirtschaftlichen Anforderungen vorzubereiten, steigt mir die Zornesröte ins Gesicht.

Aber wie kann man einer großen Menschenmasse aus allen Bildungsschichten diese Frage so einfach wie möglich beantworten?
Sollte man wie der Herr im Interview auf Studien auf den positiven Einfluss beim Fremdsprachenerwerb generell, das korrekte Erlernen der deutschen Sprache/Grammatik oder die angeblichen Vorteilen bei Migrantenkindern verweisen? Mag sein dass dies für ökonomistisch-denkende Menschen eher ein Grund zur Überredung ist, also dass sie sich denken "Wenn ich Latein kann, erlerne ich die anderen romanischen Sprachen in der halben Zeit -> Das rentiert sich.."

Ich denke aber dass dies nur nebensächliche Vorteile sind und dies niemals der Hauptgrund, alte Sprachen zu lernen, sein sollte.

Wenn wir vom Kennenlernen der Philosophie, Ethik, Geschichte und Kultur des Abendlandes sprechen, kommen wir dem Primärziel meines Erachtens schon näher.
Da die Wurzeln Europas in diesen Sprachen zu finden sind, ermöglicht und Griechisch und Latein, Schlüsseltexte der europäischen Geistesgeschichte exemplarisch zu behandeln und anhand dieser jeden einzelnen Schüler im kritischen, philosophischen Denken, im Analysieren von Bedeutungsnuancen und Untertönen, im Ausformulieren von deutschen Übersetzungen, im Verstehen von grundlegenden Prozessen, die sich in der Geschichte regelmäßig wiederholen (seien es Kriege oder andere politische Konflikte) und vielem anderen zu schulen.

Hat jemand noch eine Idee, wie man das "noch eingängiger" und noch "mitreißender" formulieren könnte? Oder fällt jemandem noch ein "Primärargument" ein, warum man alte Sprachen lernen sollte?
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon RM » Mo 25. Okt 2010, 23:03

philistion hat geschrieben:... Schlüsseltexte der europäischen Geistesgeschichte exemplarisch zu behandeln und anhand dieser jeden einzelnen Schüler im kritischen, philosophischen Denken, im Analysieren von Bedeutungsnuancen und Untertönen, im Ausformulieren von deutschen Übersetzungen, im Verstehen von grundlegenden Prozessen, die sich in der Geschichte regelmäßig wiederholen (seien es Kriege oder andere politische Konflikte) und vielem anderen zu schulen.

Das ist zwar ein nettes Argument, das man auch recht oft von Fachdidaktikern hört, aber als Schüler hätte ich so etwas sicher nicht akzeptiert - tue ich ehrlich gesagt immer noch nicht, denn der Fall liegt da relativ einfach: Wenn ich die "Schlüsseltexte der europäischen Geistesgeschichte" lesen will, besorge ich mir eine gute Übersetzung - die verstehe ich besser und schneller. Vielleicht gilt das nur für Prosatexte und nicht für die Dichtung. Aber wieso lese ich dann in der Schule z.B. Caesar? Livius oder Tacitus brauche ich nicht unbedingt im Original, Seneca auch nicht, Vergil, Ovid und Lukrez schon eher, aber nur, wenn mich die Schönheit der Sprache interessiert. Auch den größten Teil Homers liest man, wenn überhaupt, wohl eher in Übersetzung. Richtig wichtige Texte wie die von Kopernikus, Kepler, Descartes und Leipzig lese ich in der Schule sowieso nicht. Die lateinischen Inschriften in den Kirchen versteht man mit dem Schullatein kaum. Wozu also Latein? Um die Muttersprache zu lernen? Um den Geist zu schulen? Viel interessanter wäre es, Texte zu lesen, die es in Übersetzung (noch) gar nicht gibt. Weiße Flecken auf der literarischen Landkarte sind genug vorhanden, z.B. unendlich viele mittelalterliche Handschriften, an die man - Digitalisierung sei Dank - endlich etwas besser herankommt. Das ist natürlich selten etwas für Unerfahrene, aber ungehobene Schätze gibt es in den Bibliotheken jede Menge.
Nun, darüber hinaus könnte aus dem Latein ja noch ein bißchen mehr machen, es z.B. aktiv anwenden, wenn man es denn schon lernt. Latein ist ein sprachliches Phänomen, weil es seit mehr als 2000 Jahren praktisch unverändert auf dem Markt ist. Schon das macht es als Sprache interessant, da man sich damit sowohl unterhalten als auch die Vergangenheit erforschen kann.

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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon Laptop » Di 26. Okt 2010, 02:31

Ich denke der Fehler liegt auch darin mit Altsprachen diejenigen beglücken zu wollen, die dafür nicht geeignet oder aufnahmefähig sind. Jeder Bürstenmacher will sein Metier zur allgemeinen Pflicht machen. Zudem: vermittelt man die größten Perlen des Humanismus zwanghaft den Massen, dann werden sie anders (gehemmt) aufgenommen, als wenn jemand sie eigenständig findet. Motivation muß von innen heraus kommen und Schüler sollten Suchende sein, nicht Bescherte. Bildungsprogramme beachten sowas nicht in ausreichendem Maße.
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon RM » Di 26. Okt 2010, 08:07

Im alten Rom konnte jedes Kind einigermaßen Latein - intelligenter oder interessierter als die moderne Jugend waren sie damals sicher nicht. Geeignet ist also grundsätzlich jedes Kind. Und was die "Perlen des Humanismus" betrifft, so ist mir noch nicht ganz klar, was damit alles gemeint sein könnte. Vieles davon wird jedenfalls schon lange nicht mehr in der Schule behandelt. Und der Aussage, daß Schüler "Suchende" sein sollen, kann ich mich keinesfalls anschliessen, denn das fördert ja gerade den tiefen Graben zwischen Kindern aus gebildeten Hause und Kindern aus "bildungsfernen" Schichten. Suchen wird nur, wer eine gewisse Hoffnung hat, auch etwas zu finden. Woher soll diese kommen, wenn man gar nicht weiß, daß etwas vorhanden ist? Motivation kommt nicht alleine von innen, sie braucht Nahrung. Erst einmal muss ich Schülern einen Überblick geben, was es alles gibt. Daraus können sie sich später aussuchen, was ihnen am meisten zusagt. Wenn ich möglichst viele Schüler mit humanistischer Bildung in Berührung bringe, wird insgesamt auch mehr hängenbleiben, als wenn ich mich nur auf eine kleine Elite beschränke.

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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon Laptop » Di 26. Okt 2010, 08:33

Man kann das Erlernen der Muttersprache nicht mit dem Lernen aus dem Schulbuch gleichsetzen. Jede noch so komplizierte Sprache, die mit der Muttermilch aufgesogen wird, wird sich ein durchschnittlich intelligenter Mensch mit Leichtigkeit aneignen. Ob im Falle Latein für rasches Erlernen die Köpfe nicht geeignet sind oder die Methoden, darüber ließe sich streiten. Du sagst man solle dem Schüler Übersicht bieten, was alles vorhanden ist, damit er sich dann etwas aussuche. Wenn es nur so wäre! Während der Schulzeit kann man sich bis auf die Wahlfächer nicht viel aussuchen. Schicke ich meinen Sohn auf ein humanistisches Gymnasium, dann lernt er Altsprachen, ansonsten eben nicht. Angebot und Auswahl findet daher höchstens bei der Schulwahl statt, die wir Erwachsene durchführen, nicht unsere Söhne und Töchter. Ich gebe dir recht, daß eine Übersicht wichtig ist, doch wenn man jemandem 5 Jahre Latein zumutet, und man das “Übersicht” oder “Berührung” nennt, disqualifiziert man entweder seine eigene Leistung als Lehrkörper oder man zeigt ironisch wie sorglos bzw. rücksichtslos man mit der Zeit anderer umgeht. Für uns Erwachsene ist eine Stunde viel Zeit, doch die Kleinen können ruhig über ein Jahrzehnt schmoren, man möchte ihnen ja nur einen Überblick geben? Da kommen mir die grauen Männer aus “Momo” in den Sinn, sie stehlen die Zeit und ist das nicht in gewisser Hinsicht die Verkehrung des Begriffs “Überblick”?

Man verzeihe mir, daß ich zwecks Anschaulichkeit ein gesellschaftskritisches Bildchen beifüge:
Bild
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon RM » Mi 27. Okt 2010, 08:05

Auch das Erlernen der Muttersprache dauert ca. 10-15 Jahre und ist ein Vollzeitjob, wenn man ein gewisses Niveau erreichen will. Das hat mit Leichtigkeit nur wenig zu tun. Latein kann man ebenso lernen, wenn man es nicht künstlich auf passive Beherrschung zu beschränken versucht. Das Problem beim Lateinunterricht in der Schule ist der Spracherwerb selbst, der wegen einer weitgehend verfehlten Methodik nicht richtig funktioniert. Leider haben wir dies einer Fachdidaktik zu verdanken, die jahrzehntelang versuchte, das Besondere des Lateinischen herauszuarbeiten, indem sie es von einer Sprache zu einer linguistisch-logischen Schulung des Intellekt umzugestalten versuchte. Es hat sich inzwischen zwar oberflächlich etwas geändert, aber die Kernaussage, nämlich daß Latein nicht aktiv beherrscht werden solle, ist geblieben. Nähme man die aktive Beherrschung des Lateinischen als Sprache wieder hinzu, würde man sich wundern, wie viel Erfolg man damit hat. Viele Dinge gingen dann später in der Lektürephase viel leichter und schneller, was dazu führen würde, daß man auch quantitativ wesentlich weiter käme als mit den Standardmethoden. Ich glaube jedenfalls nicht, daß Schüler besonders begabt sein müssen, um Latein zu lernen. In Deutschland muß man auch nicht unbedingt auf ein humanistisches Gymnasium gehen, um Latein zu lernen - das gilt höchstens für Altgriechisch.

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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon Laptop » Mi 27. Okt 2010, 08:44

Hallo RM. Im Groben sehe ich das ähnlich. Aber gerade für die linguistisch-logische Schulung des Intellekts, wie du es so schön sagst, ist doch eine gewisse Begabung erforderlich, um in dem sehr dicht gepacktem didaktischem Programm Schritt halten zu können. Die Ausblendung des aktiven Sprachgebrauchs ist in der Tat der eine wesentliche Punkt, der zu den bescheidenen “bleibenden Kentnissen” in diesem Fach beiträgt. Viele Schüler wursteln sich durch, bekommen vielleicht sogar gute Noten, aber es bleibt nicht viel hängen. Der Notenerfolg ist vielleicht da, aber der “Realerfolg” bleibt bescheiden. Der zweite Punkt aber, und damit komme ich zurück zum “dicht-gepacktem” didaktischen Programm, ist der, daß dem Lernenden mit der Auswahl der Lektüre zugleich Aspekte aus Geschichte, Philosophie, Moral, Linguistik und Sprachästhetik nahegebracht werden sollen. Das klingt zunächst löblich, doch erweist sich letztendlich als zusätzliche Hürde beim Spracherwerb. Es werden Formen bestimmt, Bedeutungen nachgeschlagen, dazu interpretiert und skandiert, geschichtliche Hintergründe beleuchtet, u.a. Wählte man hingegen eine Lektüre mit modernen “selbst-verständlichen” Inhalten, die einem nahe sind, wären einige dieser – ich sage mal “gedanklichen Baustellen” in Luft aufgelöst, und man könnte Texte in größerem Umfange zügiger und flüssiger durchnehmen. Das Sprachverständnis würde sich allmählich einstellen, ohne daß Sätze einzelnd seziert werden müssen. Gleichsam grobe die Wiese zu mähen, statt einzelne Grashalme mit einer Pinzette zu zupfen. Doch zum Pinzetten-Verfahren trägt der Umstand bei, daß die Lektüre ihrem Diktus und ihrer Sprachform nach altertümlich gewählt. Das fordert den Intellekt desjenigen, der sich noch nicht einmal die Grundzüge der Sprache angeeignet hat, auf einer weiteren gedanklichen Ebene (Schiene) heraus, um nicht zu sagen: blockiert den Intellekt. Diese Beanspruchung geht bis zur Resignation, und wie viele resignieren in diesem Fach, da zu wenig einprägsame Grundlagen und zuviel Kontext geboten wird? Wir haben bis zum großen Latinum im Grunde keine “fortgeschrittenen Lateiner”, sondern solche, die im Anfängerstadium stecken geblieben sind. Ich denke in diesem Punkt gehen wir d’accord.
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Re: Latein im Bundestag

Beitragvon RM » Mi 27. Okt 2010, 19:00

Stimmt alles natürlich. Was mir persönlich an der aktuellen Fachdidaktik, die sich ja immer wieder in den entsprechenden Lehrwerken manifestiert, mißfällt, ist dieses fast kramphafte Fixiertsein auf antike Themen, das antike Ambiente und antike Gedankengänge, die in so phantastischen Satzkombinationen wie z.B. "Servus semper paret. - Servus domin-o semper paret" als Beispiel für den Gebrauch des Dativs gipfeln. Was für ein Latein! Welch Genie! Und damit erziehe ich unsere Jugend. Toll! Ich habe mich hier etwas drastisch ausgedrückt, ich weiß. Was ich sagen will, ist, daß ich einem Buch, das solche Beispielsätze enthält, ohne sie historisch zu werten, weder moralische Vorbildfunktion noch philosophischen Tiefgang zutraue. Warum formuliert man Dativ-Sätze nicht mit dem Verb, aus dem sich der Begriff "Dativ" herleitet, sondern mit "parere"? Auch, was man aus den Lehrbüchern an Geschichtswissen oder auch nur über die Lebenssituation der Römer erfährt, ist i.d.R. dürftig und bruchstückhaft. Daher bin ich persönlich der Meinung, daß der Ansatz, Latein eher wie eine echte Sprache zu unterrichten, in den ersten Jahren der sinnvollere ist.

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