Aeolus kommt zu neuen Ehren

[Zythophilus]

Die Windräder, die die Landschaft oft großflächig verunstalten, tragen in vielen Sprachen sehr prosaische Namen. In Frankreich haben sie einen originellen, dessen Bezug zur Antike vermutlich den meisten gar nicht bewusst ist: "éolienne".

[RM]

Auf Italienisch (und wohl auch auf Spanisch) heißt das "energia eolica".

RM

[Zythophilus]

Die Energie heißt tatsächlich so auf Spanisch und Italienisch, aber das konkrete Gerät heißt wenig spektakulär "aerogenerador" bei den Iberern. Die Italiener nennen es wenigstens "turbina eolica".

[ille ego qui]

éolienne, das ist wahrlich zauberhaft

[Zythophilus]

Ventorum dominus rapidas mouet Aeolus auras:

Ecce fit Aeolia lux generante rota.

[consus]

Aeolii pali corrumpunt turpiter arva,

Sed nocuas atomos extenuare valent.

[Laptop]

Ist atomos eine Ellipse für AKWs, bzw. wie lautet die volle Form davon?

[consus]

Servus, Laptop.
Für die Sprache der Dichtung ist es typisch, das eigentlich Gemeinte durch die Wortwahl zu verhüllen, um den Leser zu einem „intellektuellen Dekodierungsspiel“* anzuregen. So bietet sich, wenn man den gänzlich unpoetischen und sperrigen Begriff Atomkraftwerk** in einem Vers unterbringen will, zur Wiedergabe eine Metonymie an. Konkret heißt das hier: Der aus der Gesamtvorstellung der Energiegewinnung in Kernkraftwerken herausgelöste elementare Begriff atomus steht als Ersatz für das Ganze dieses komplexen technischen Vorgangs. Ich bin in meinem Pentameter wohl an die äußerste Grenze dessen gegangen, was sich als Metonymie rechtfertigen lässt.
Nun bitte ich nur noch um milde Nachsicht, wenn dies alles hier zu sehr an ein pedantisches collegium poeticum erinnert.
Beste Grüße
C.
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* Vgl. Gregor Maurach, Enchiridion Poeticum, Darmstadt 1983, S. 10.
** Z. B. officina (generatoria) atomica (Chr. Helfer, Lex. auxiliare, 1982, s.v. Atomkraftwerk).

[Laptop]

Salve conse! Ich hatte es nicht als Kritik gemeint, denn die Stelle ist im Kontext mit den Windkrafträdern sogar mir auf Anhieb klar geworden. Erst als meine ratio es mit Logik fassen wollte, war ich mir nicht mehr sicher, ob es i. S. v. AKW gemeint war

[consus]

... Ich hatte es nicht als Kritik gemeint ...

So habe ich es auch keineswegs verstanden, aber solche Nachfragen geben Anlass, noch einmal über das eigene Tun nachzudenken.

[Zythophilus]

Conferte, sodales, quendam uersum huius poematis, quod inueni:
"Angst vor Atomen? Angst vor dem Krieg?"
Non refert, utrum auctor res bene an male describat, sed tamen similiter id facit atque Consus.
https://books.google.at/books?id=WtnPYI ... 22&f=false S. 44

[Prudentius]

Ventorum dominus rapidas mouet Aeolus auras:

Da geht mir so durch den Kopf: der Gegensatz des antiken und des modernen Denktypus: der Antike lässt sich vom Satzschema leiten: "S -P - O", die actio braucht einen actor; wenn der Wind weht, dann muss einer blasen, und er bekommt einen Namen; auch erscheint der Wind als Substantiv, also als eine Substanz, ein Begriff mit fest umrissenem Inhalt. Man erkennt das Substanzdenken, das ja seit der Antike bis weit in die Neuzeit herrschend war.
In unserem Weltbild erkennen wir ein Kraftfeld von verschiedenen Faktoren, die in der Luftschicht wirksam sind, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, die sich in einem chaotischen Ungleichgewicht befinden und unterschiedliche Bewegungszustände der Luft auslösen. "Wind" ist also für uns gar keine Substanz mehr, sondern eine Funktion der auf Ausgleich hin tendierenden Kräfte der Lufthülle.

[Zythophilus]

Mythen erklären die Welt, wo andere Erklärungen nicht möglich sind. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass mythologische Sprache verschwindet, wenn andere Erklärungen wie Naturkräfte vorhanden sind. Ich denke nicht, dass ein gebildeter Römer vor 2000 Jahren noch die Vorstellung hatte, dass da ein Aeolus sitze und über die Winde wache. Das gehört zum dichter. Repertoire. Ebenso falsch ist es, dass man damals noch an die Erde als Scheibe glaubte und noch zu Kolumbus' Zeiten die Angst bestand, man würde herabfallen, wenn man zu weit hinausführe. Die Kugelgestalt war längst bekannt. Das hinderte freilich Ovid nicht, diese Scheibenform (mit dem Ringstrom) in den Metamorphosen im Rahmen seines Werks als gegeben zu präsentieren (Met. II 5-7 ... nam Mulciber illic / aequora caelarat medias cingentia terras / terrarumque orbem ...). Dass er das glaubte, kann man ausschließen.

[Prudentius]

Mythen erklären die Welt, wo andere Erklärungen nicht möglich sind.

Das ist zu sehr aus der Sicht der aufgeklärten Moderne gesagt, es gab ja noch keine Wissenschaft.

Dass er das glaubte, kann man ausschließen.

Aber fiktiv hat er das geglaubt !

Das Wort "glauben" passt nicht richtig, das ist zu sehr an unser Credo angelehnt; Religion hatte in der Antike einen ganz anderen Charakter (war "heidnisch", hat man früher gesagt). Es kam nicht auf ein Glauben, sondern auf ein Sehen an; man hat die Welt mit anderen Augen angesehen als wir; die Mythen waren formbar, jeder Dichter konnte die Götter nach seiner Art auftreten lassen.
Ich habe ja von dem mythischen Denktypos gesprochen, also von der Grundidee dieser Sichtweise; man kann sie so umreißen: die erfahrbare Welt wird von übernatürlichen Mächten bestimmt, ganz pauschal ausgedrückt; man hat es auch das "zwei-Etagen-Modell" genannt.
Das Modell bleibt auch nach der Ablösung des Mythos durch den Logos bestehen; denkt an das "Erste Bewegende" des Aristoteles, das ja als "Erster Beweger" von Thomas ins Maskulin gesetzt und getauft wurde.
Der Grundgedanke ist also: Alle Bewegung braucht einen Beweger; ganz knapp von Vergil formuliert und viel zitiert: "Mens agitat molem", der Geist bewegt die träge Materie; also gibt es eine Zweiteilung: toter Stoff und bewegender Geist.
Das war die vorherrschende Ansicht bis zur Neuzeit, bis Newton mit der "Trägheitsbewegung" herauskam und eine neuartige Kausalitätsauffassung begründete; aber wo komme ich jetzt hin?

lgr. P.

[Zythophilus]

Vor 2000 Jahren gab es durchaus schon Wissenschaft, auch wenn sie natürlich nicht an die heutige heranreichte. Die Vorstellung der Erde als einer Scheibe war längst passé, es ging eher darum, ob die Erde als Kugel oder die Sonne im Zentrum stehe. Das Mittelalter übernahm das geozentrische Weltbild.
Man vermutete nicht überall das Wirken von Göttern, und was Isidor z.B. - die Erkenntnis muss schon älter sein - über Blitze sagt, ist die wissenschaftliche Sprache der Antike, nicht Mythologie:

Fulmen autem conlisa nubila faciunt. Nam omnium rerum conlisio ignem creat, ut in lapidibus cernimus, vel attritu rotarum, vel in silvis arborum: simili modo in nubibus ignis, unde et prius nubila sunt, deinde ignes.

Ein Dichter hätte das wohl anders beschrieben.