Akzidentien und ...?

Diskussionen zu den antiken Philosophen, ihren Ideen und ihrer Rezeption

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Akzidentien und ...?

Beitragvon Laptop » Fr 6. Jul 2018, 04:20

Ich hab eine Frage zum aristotélischen Modell von Akzidens und Substanz (lt. accidens & substantia). Wie nennt man nach diesem Schema Eigenschaften die __wesentlich__ sind, sozusagen die Konversen zu Akzidentien? Etwa ‹Subsistentien›? Kann man sagen, daß z. B. ‹Ablagefläche› ein Subsistens von ‹Tisch› ist? Oder subsistiert nur die Substanz als ganzes (der Tisch) den Akzidenzien?

Um es etwas anschaulicher zu machen, nehmen wir bspw. das Argument, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens damit vergleichbar sei, ein Rind zu betrachten und zu fragen ‹ist das ein Gulasch, ein Steak oder Bouletten?›. ‹Sinn› sei ein Akzidens von ‹Leben›, sprich ein unwesentliches Attribut, das man der Substanz beliebig beifügen oder wegnehmen kann, ohne daß die Sache aufhört die Sache zu sein, die sie ist. Der Irrtum sei eben, zu glauben, dass ‹Sinn› eine wesentliche Eigenschaft von ‹Leben› sei. Hier suche ich das Fachwort für ‹wesentliche Eigenschaft›, nach diesem scholastischen Schema.

Eine Zusatzfrage noch. Das Adjektiv ‹inhärent› verwendet man heute glaube ich ganz anders als es gemeint war. Wir verstehen es heute im Sinne von ‹innewohnen›, als Wesensbestandteil. Im scholastischen Sinne waren aber Akzidenzien inhärent, d. h. lediglich anhaftend, richtig? Wie kam es zu dieser 180°-Bedeutungsumkehr, war es ein Mißverständnis?
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Re: Akzidentien und ...?

Beitragvon Prudentius » Fr 6. Jul 2018, 10:52

Ich denke, das ist so: Bei den Akzidentien unterscheidet man zwei Arten: die "notwendigen", necessaria, die Teil der Defintion sind, wie "Ablagefläche" beim Tisch, vllt. auch Bein; aber die Vierzahl der Beine ist kein notwendiges Akzidens; es gibt also zwei Sorten von Akzidentien, auch die zufälligen; dass ein Pferd eine Farbe hat, ist ein notwendiges, dass es rotbraune Farbe hat, ein zufälliges.
Wenn die Substanz aber "Fuchs" ist, dann ist die rotbraune Farbe ein notwendiges Akzidens; du siehst, es kommt auf die Hinsicht an; die Unterscheidung "notwendig/nicht notwendig" macht also das wahrnehmende Subjekt, sie hängt nicht fest am Objekt.

Ein solche "Konverse" sehe ich da nicht, und mit dem "Subsistieren" kann ich nicht viel anfangen; ich erinnere mich aber, dass der Begriff in den theologischen/ökumenischen Dialogen gebraucht wird, in dem Sinn, dass manche Gemeinschaften als Kirchen "subsistieren", aber es nicht unbedingt "sind" :-D .

Wir machen noch weiter, Laptop, frage ruhig dazu, aber ich muss weg ... :)
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Re: Akzidentien und ...?

Beitragvon Prudentius » Fr 6. Jul 2018, 15:52

Farbe "inhäriert" einem Gegenstand, sagte man, haftet, hängt, klebt daran. Ob dieses Inhärieren wesentlich ist oder nicht, hängt von der Wahl des Substanzbegriffes ab: beim Rappen ist die schwarze Farbe ein nötiges Akzidens, beim Pferd ein unnötiges.

Hier wird ein enormer Unterschied der Sichtweise zwischen Antike und Moderne erkennbar: bei der Farbe von Gegenständen stellen wir uns vor, dass Gegenstände eine Farbvariable haben, die verschiedene Werte durchlaufen kann. Ganz anders die Antike: es gibt die Idee des "Schwarzen", die ein einheitliches Gedankenbild ist, und die Idee kann "aus sich heraustreten" (habe neulich schon mal davon gesprochen), ausgestreut sein, eben "inhärieren" im ganz wörtlichen Sinne.

Ich weiß jetzt nicht, ob ich mit meinen Worten "ankomme", oder wie ich ankomme, würde um eine Rückmeldung bitten, sonst geht mir die Luft aus :) .
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Re: Akzidentien und ...?

Beitragvon Laptop » Fr 6. Jul 2018, 23:51

Deine Unterteilung in notwendiges und zufälliges Akzidens verstehe ich wohl, doch bin ich mir nicht ganz sicher, ob das noch dem urspr. gedachten Modell entspricht, denn dort heisst es ja ziemlich ausdruecklich, dass Akzidenzien unwesentliche Eigenschaften der Substanz sind, demnach kann es -- nach dieser Begriffsdefinition -- keine wesentlichen Akzidenzien geben. Daher meine Frage wie diese genannt wurden, aber vielleicht hat man sie auch gar nicht vorgesehen? Dann waere das Modell etwas unvollstaendig! Aha, ich sehe gerade Eisler beantwortet meine erste Frage (Gegensatz von Akzidentien), hiermit:
Bild
Accidentia (zufaellige Merkmale) stehen also den Essentialia (wesentliche Merkmale) gegenüber. Hoffe das stimmt so. :book:

Auch ist die scholastische Definition von Inhärenz ziemlich eindeutig: es inhärieren nur Akzidentien, demnach können nur unwesentliche Eigenschaften inhärieren. Die Substanz hingegen subsistiert den Akzidentien. Inhärenz wird heute -- zumindest meinem Kenntnisstand nach -- gebraucht als ein "Innewohnen", von wesentlichen Eigenschaften. Das ist konvers zu dem aristotelischen Modell, nicht wahr? :?

Dieser Widerspruch wird noch besser deutlich, wenn man diese beiden sich widersprechenden Einträge miteinander vergleicht:

Eisler schreibt: Inhärenz (inhaerere, anhaften) heißt das Verhältnis der Accidentien (s. d.) zur Substanz (s. d.), der Eigenschaften zum Dinge. Die Accidentien (Anm. von mir: Eisler definiert Accidentien als unwesentliche Merkmale) »inhärieren« der Substanz, »haften« ihr an, sind von ihr »getragen«. Quelle: http://www.zeno.org/Eisler-1904/A/Inh%C ... l=inharenz

Eisler sagt, dass nicht-notwendiges inhäriert, Meyers hingegen, dass notwendiges inhäriert:

Meyers Gegenteil: Inhärénz (lat., »Anhaftung«), die notwendige Verbindung von etwas mit etwas anderm, das ohne ersteres nicht sein würde, was es ist, z. B. die Verbindung des Runden mit dem Kreis, ... ... ... Quelle: http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Inh%C ... l=inharenz

Wie kann man das auf einen Nenner bringen? :cry:
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Re: Akzidentien und ...?

Beitragvon Prudentius » Sa 7. Jul 2018, 16:51

Der Begriff des Akzidens kann im engeren oder weiteren Sinn gebraucht werden, es ist nicht immer leicht zu entscheiden, was wesentlich und was akzidentell ist; das ist relativ, d.h. es kommt darauf an, was man für einen Substanzbegriff wählt, und je nachdem ist etwas akzidentell oder essentiell: Bsp.: Wenn der Gaul ein Pferd ist, dann "inhäriert" ihm die schwarze Farbe; wenn er aber ein Rappe ist, dann inhäriert sie nicht. Die Diskussion führt zu einem Etikettengeschiebe, ist frustrierend, man verdurstet dabei geistig :-D .
Die aristotelischen Hauptschriften sind als unredigierte Vorlesungsskripten überliefert, ziemlich chaotisch.

Diese Unterteilung Substanz - Eigenschaft ist ja schicksalhaft für die ganze westliche Geistesgeschichte geworden, das Substanzdenken war lange beherrschend, man ist aber in der Moderne davon abgekommen, man hat erkannt, dass es unvollständig ist, es fehlt das Funktionale, also Begriffe, die weder Substanzen noch Akzidentien sind; bildlich gesprochen, man hat erkannt, dass es außer geöffneten und geschlossenen Dateien auch "Befehle" gibt, Anwendungen, Funktionen, Verarbeitungen. Aber Laptop, ich glaube, das führt jetzt ins Unermessliche, passt nicht mehr in einen Forumsfaden hinein :-D .
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Re: Akzidentien und ...?

Beitragvon Prudentius » So 8. Jul 2018, 09:53

Der Irrtum sei eben, zu glauben, dass ‹Sinn› eine wesentliche Eigenschaft von ‹Leben› sei.


Lieber Laptop, ich halte nicht allzuviel von solcher Diskussion, schon allein deshalb, weil beide Begriffe, "Sinn" und "Leben" sehr vage sind; soll der Sinn etwas Vorgegebenes sein, oder etwas, das jeder selbst für sich allein (er)finden muss?
Einige Antworten liegen bereit: Sinn des Lebens ist ein "erfülltes Leben", oder "Glück", aber es sind selbst wieder sehr vage Begriffe.
Man könnte ja die Frage auf sich beruhen lassen, aber das geht auch nicht, die Psychologie lehrt uns, man muss irgendeine Sinnvorstellung vor sich haben, wenn man ein normales Leben führen will; ohne ein Sinnziel vor Augen gerät der Mensch in die Hölle von Depression, Drogenabhängigkeit, Extremismus ...

In unserer antiken Literatur gibt es ja dazu klassische Antworten; etwa bei Herodot, da besucht der athenische Weise Solon den reichen Lyderkönig Krösus und gibt einige Antworten auf die Frage nach dem glücklichsten Leben.

Jetzt würde mich interessieren, was du darüber denkst,
LG :)
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Re: Akzidentien und ...?

Beitragvon Laptop » So 8. Jul 2018, 17:56

Das mit dem Sinn sollte eigentlich nur als Beispiel herhalten. Aber es ist eine schöne Anwendung dieser aristotelischen Logik, die zeigt was ein accidens ist. Du fragst was ich darüber denke? Worüber? Über den Sinn des Lebens? Ein Theor.Physiker hat mal gesagt - so geht die Mär - dass der Sinn ist CO² zu hydrieren. So als Reaktor um die Sabatier-Reaktion (CO² + 4 H² => CH4 + 2 H²0) zu automatisieren. :klatsch:

Nochmal zu den aristotelischen Logik-Begriffen: wenn man Logikbegriffe nicht genau definiert, sondern "ooch, Inhärenz kann mal dies, kann mal das bedeuten", dann sind sie nutzlos. Solch ein Logik-Gebäude ist dann auf Sand aufgebaut und verfehlt seinen Zweck. Insofern irritiert mich das schon etwas. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass ich Aristoteles nicht im Original gelesen habe, dafür ist mein Altgr. zu schwach.
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Re: Akzidentien und ...?

Beitragvon Prudentius » Do 12. Jul 2018, 15:48

Laptop hat geschrieben: ... wenn man Logikbegriffe nicht genau definiert, ...


Lieber Laptop, du musst dich noch in Sachen Desillusionierung weiterentwickeln, auch bei genau definierten Begriffen ist das Logikgebäude letztlich auf Sand gebaut. :-D

Übrigens, wenn ein Begriff in engerem und weiterem Sinn gebraucht wird, heißt das nicht, dass er ungenau definiert ist; man muss nur jeweils angeben, an welchen Begriff man sich hält.
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