Hat es Homer wirklich gegeben?

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Hat es Homer wirklich gegeben?

Beitragvon Caesar » So 7. Dez 2003, 13:10

Eine Frage die ich immer mit "Ja" beantwortet hätte. Von mehreren Seiten habe ich jedoch schon gehört, dass Homer nur ein Mythos gewesen sein sollte, und somit nicht gegeben hatte. Was meint ihr dazu?
Bitte mit Begründung, oder Verweis auf eine passende Internetseite
Caesar
 

Beitragvon Anachronist » So 7. Dez 2003, 14:21

Wende dich doch an einen Lehrstuhl einer beliebigen Uni, die Altphilologie oder Rhetorik anbietet (z.B. Heidelberg, Thübingen). Meiner Erfahrung nach, reagieren die meisten Personen, die um Hilfe gebeten werden dort relativ freundlich. Zu mindestens, wenn man Ihnen klar macht, dass man keine stundelange Recherchearbeit erwartet, sondern nur ein paar einfache Auskünfte und Hinweise , wie und wo man sich selbst schlau machen kann.

Ana
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Beitragvon Caesar » So 7. Dez 2003, 16:10

Das ist bei vielen das Problem. Man bekommt eine schwierige Arbeit vorgeschlagen, die man selbst nicht versteht
Caesar
 

Beitragvon Ketelhohn » Sa 13. Dez 2003, 18:33

Unfug. Das war die These einiger extremer Übertreibungen der historischen Textkritik als wissenschaftlicher Methode. Solcher Hyperkritizismus ist längst überholt (außer bei einigen merkbefreiten Theologen).
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Beitragvon RM » So 14. Dez 2003, 00:35

Ich habe die Ilias und Odyssee selber schon einmal durchkämmt und bin dabei eigentlich zu dem Schluß gekommen, daß beides vom selben Schriftsteller stammt und einigermaßen "aus einem Guß" ist. Z.B. findet man viele Formulierungen aus der Ilias in der Odyssee wieder usw.
Zu behaupten, daß es Homer nicht gegeben habe, ist also sehr gewagt. Von irgendwem müssen Ilias und Odyssee ja stammen, und zwar mit ziemlicher Sicherheit von ein und demselben Schriftsteller. Ob jetzt Homer blind war oder nicht (wie von einigen behauptet wurde), spielt dafür nur eine untergeordnete Rolle.
:) RM
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Beitragvon Caesar » So 14. Dez 2003, 15:15

@Ketelhohn: Wie Unfug. Das es Homer gegeben hat, oder dass es Homer nicht gegeben hat?
Caesar
 

Beitragvon Chrysostomus » So 14. Dez 2003, 16:22

Zitat RM: "Von irgendwem müssen Ilias und Odyssee ja stammen, und zwar mit ziemlicher Sicherheit von ein und demselben Schriftsteller"

Ich weiß nicht, von wem du die Sicherheit nimmst - in der Forschung wird denn doch wohl heute vielfach angenommen, dass die "Ilias" als das erheblich ältere Werk zu gelten hat und einem Dichter "Homer" zugewiesen wird, während die "Odyssee" einem sog. Odyssee-Dichter zugewiesen wird - bzw. eine frühere Ur-Odyssee und eine u.a. um die Telemachie erweiterte Endfassung anzunehmen sind - dieser zweite Dichter (oder wohl besser diese Dichter) aber wohl nicht mit "Homer" gleichzusetzen ist (sind).

Die Übernahme der Formelverse kann ja z. B. wohl nicht ein Kriterium für die gemeinsame Verfasserschaft durch einen Dichter sein - wir haben hier denn doch mit umfangreichem "Erbgut" der rein-oralen Sängertradition zu rechnen.

In vielerlei Hinsicht zeigen sich zwischen Odyssee und Ilias denn doch deutliche Unterschiede in Inhalt und Gedankenwelt (weniger im Sprachlichen), die m. E. - ich folge da einer breiten Forschungsmeinung - nicht auf denselben Dichter schließen lassen.

Aber sicherlich lässt sich die Homerische Frage nicht in wenigen Posts beantworten, darüber sind Hunderte von wissenschaftlichen ARbeiten geschrieben worden und man streitet seit über 200 Jahren. So gesehen erscheint mir die Ansicht von RM zu einfach und zu optimistisch. Man sollte in dieser "Glaubensfrage" der Homer-Philologie jedem seine Position zugestehen, freilich nicht nicht den Eindruck stehen lassen, die Sache sei einfach zu beantworten.

Gut geschrieben und überhaupt nicht "schwer" auch für Laien ist übrigens das Homer-Buch von Joachim Latacz. Hier wird man sich einen guten Überblick über die FRage verschaffen können.
Chrysostomus
 

Beitragvon RM » Mo 15. Dez 2003, 01:56

Heus, Chrysostome!

Ich wußte, daß ich mit Deiner Antwort rechnen konnte ... ;-)

Die Übernahme der Formelverse kann ja z. B. wohl nicht ein Kriterium für die gemeinsame Verfasserschaft durch einen Dichter sein - wir haben hier denn doch mit umfangreichem "Erbgut" der rein-oralen Sängertradition zu rechnen.


Sorry, aber was da übernommen wurde, sind nicht nur "Formelverse", sondern z.T. Halbverse und ähnlich klingende Formulierungen mit Wortumstellungen und Ersetzungen, die vom Dichter schon ein gewisses Geschick und ein gutes Gedächtnis voraussetzen. Sollte die Odyssee von einem anderen Dichter stammen, muß er die Ilias sehr gut auswendig gekonnt haben.

Was sicherlich richtig ist, ist, daß zwischen der Entstehung der Ilias und der Odyssee etliche Jahre liegen. Aber auch bei modernen Schriftstellern ändern sich im Laufe der Jahre Ausdrucksweise, Stil, Weltanschauung etc. Daß Inhalt und Gedankenwelt von Ilias und Odyssee nicht übereinstimmen halte ich eher für normal - es geht ja schließlich um vollkommen verschiedene Dinge.

Und überhaupt: warum sollte ich nicht optimistisch sein? Außerdem befinde ich mich mit dieser Meinung in guter Gesellschaft: Heredot war immerhin derselben. ;-) RM
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Beitragvon Rea Silvia » Mi 17. Dez 2003, 18:53

Ob es ihn gegeben hat oder nicht? Selbst wen der Text von vielen Autoren stammte, einer muss auf jeden fall den Bogen darüber gespannt haben. Die Mythen, die er verarbeitet gab es mit großer Sicherheit ja schon vorher, teilweise so ne Art Seemannsgarn, aber irgendjemand hat das aufgegriffen und zu einem großartigen Werk verarbeitet, ich sage nur incommensurabel (sagt mein Deutschlehrer immer über Faust, trifft meines Erachtens aber auf Homer noch sehr viel mehr zu:))
Rea Silvia
 

Beitragvon RM » So 21. Dez 2003, 23:14

Ich versuche mich an einer kurzen Zusammenfassung:
1. Die Ilias gibt es,
2. die Odyssee gibt es,
3. Homer gab es sicherlich auch,
4. Homer war Dichter,
5. Homer hat wahrscheinlich beide Epen unter Zuhilfenahme älterer Erzählungen verfaßt,
6. eine redaktionelle Mitarbeit weiterer Dichter ist nicht mit Sicherheit auszuschließen.
Würdet ihr euch dem anschließen?
:) RM
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Beitragvon Caesar » Fr 2. Jan 2004, 21:08

Anachronist hat geschrieben:Wende dich doch an einen Lehrstuhl einer beliebigen Uni, die Altphilologie oder Rhetorik anbietet (z.B. Heidelberg, Thübingen). Meiner Erfahrung nach, reagieren die meisten Personen, die um Hilfe gebeten werden dort relativ freundlich. Zu mindestens, wenn man Ihnen klar macht, dass man keine stundelange Recherchearbeit erwartet, sondern nur ein paar einfache Auskünfte und Hinweise , wie und wo man sich selbst schlau machen kann.

Ana


Kannst du mir vielleicht die Adressen beider Unis sagen?
Dan würde ich mal schaune ob man mir zurückschreibt
Caesar
 

Beitragvon Anachronist » Sa 3. Jan 2004, 19:12

Caesar hat geschrieben:
Anachronist hat geschrieben:Wende dich doch an einen Lehrstuhl einer beliebigen Uni, die Altphilologie oder Rhetorik anbietet (z.B. Heidelberg, Thübingen). Meiner Erfahrung nach, reagieren die meisten Personen, die um Hilfe gebeten werden dort relativ freundlich. Zu mindestens, wenn man Ihnen klar macht, dass man keine stundelange Recherchearbeit erwartet, sondern nur ein paar einfache Auskünfte und Hinweise , wie und wo man sich selbst schlau machen kann.

Ana


Kannst du mir vielleicht die Adressen beider Unis sagen?
Dan würde ich mal schaune ob man mir zurückschreibt


Normalerweise fiondet man die meißten unis unter:

www.uni-Stadtname.de

Ansonsten googlen ;)

Ana
Anachronist
 

Beitragvon Anachronist » Sa 3. Jan 2004, 19:33

Zu dem Punkt mit dem immensen Gedächtnis, dass benötigt würde, um eine größere Menge gleichlautender Stilmittel in verschiedenen epen zu verwenden:

Die Kraft des Gedächtnisses war durchaus gegeben. Ich kenne mich nicht mit den Griechen aus aber so weit ich weiß, ist z.B. das Niebelungenlied über lange Zeit nur mündlich weitergegeben worden. Außerdem finden sich immer wieder Menschen, die wirklich und wahrhaftig die ganze Bibel auswendig kennen und in der Lage sind Textpassagen nach Buch, Kapitel und Abschnitt zu bestimmen. Gerade in Zeiten, in denen der Herr Guthenberg (mit th?) seine Druckmaschine noch nicht angeworfen hatte, war das auch die einizge Chance zur Tradierung vieler alter Mythen und Legenden. Gerade feste Redewendungen und formulierungen dürften da eine wichtige heuristische Stütze gewesen sein. Ich bin da allerdings kein Fachmann, sondern hab da nur mal was in einer Diachronievorlesung aufgeschnappt. Aber wenn ich da richtig aufgepasst habe, war das Auswendiglernen riesiger Geschichten Vorraussetzung eines jeden Spielmannes oder wie immer man die Leute auch im Verlauf der Geschichte sonst noch bezeichnet hat. Ob es Homer jetzt gegeben hat oder nicht, bzw. wie wahrscheinlich die eine oder andere These ist, wage ich jedoch nicht zu sagen. Aber gleiche Stilmittel und Figuren in verschiedenen Werken, sind wohl alleine noch nicht aussagekräftig.

Ana
Anachronist
 

Beitragvon RM » Sa 3. Jan 2004, 23:40

Wie gesagt: es geht hier nicht einfach um "feste Redewendungen". Das Nibelungenlied ist da wahrscheinlich kein geeignetes Beispiel, da man ueber dessen Entstehung trotz der wieder aufgetauchten Fragmente nicht so sehr viel weiss - ausser dass es die Geschichten an sich wohl schon eine ganze Weile lang gegeben haben muss.
Generell kann man sich natuerlich Gedichtetes - evtl. sogar mit musikalischer Begleitung - besser woertlich merken als Prosa. Man muss aber beruecksichtigen, dass wohl nur die allerwenigsten zu Homers Zeiten die Moeglichkeit hatten, geschriebene Texte in die Hand zu bekommen, die normalerweise die Voraussetzung fuer diese Art des Auswenig-Koennens sind. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit dafuer, dass es mehrere "homerische" Dichter gab, ziemlich gering.
8) RM
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Beitragvon Chrysostomus » Mi 7. Jan 2004, 19:40

Zitat: "Man muss aber beruecksichtigen, dass wohl nur die allerwenigsten zu Homers Zeiten die Moeglichkeit hatten, geschriebene Texte in die Hand zu bekommen, die normalerweise die Voraussetzung fuer diese Art des Auswenig-Koennens sind. usw."

Man wird denn doch wohl eher davon auszugehen haben, dass zur Zeit Homers (also des "Ilias"-Dichters) noch gar keine umfangreichen schriftlichen "Texte" - zumindest keine literarischen in der Form der homerischen Epen - existiert haben, also auch keine schriftlichen Gesamt-Vorlagen für Homer, wohl eventuell Listen u.ä. Man wird mit LATACZ u.a. Homer als den Begründer der abendländischen Textualität ansehen dürfen.

Schriftlichkeit ist für die Abfassung der homerischen Epen selbst wohl anzunehmen, aber auch nicht zwingend notwendig (wie mir vor Jahren ein Prof. der Alten Geschichte als Monitum an den Rand einer zu optimistisch formulierten Aussage in einer meiner Hauptseminar-Arbeiten, die sich mit dem Sänger in den homerischen Epen beschäftigte, schrieb) . Wie wir aus den homerischen Epen selbst erfahren, gab es in den "Dark Ages" der nachmykenischen Epoche (also einer schriftlosen Zeit nach Linear B und vor der Umarbeitung der phoenizischen Schrift in die griechischen Alphabete), die den gesellschaftlichen Kontext für die homer. Epen darstellen, eine offenbar auf reiner Mündlichkeit basierende Sänger-Tradition. Solche wandernden und an den Adelshöfen auftretende Sänger waren problemlos in der Lage, ihr Publikum stundenlang und abendfüllend mit den Heldengesängen aus alter Zeit zu unterhalten - wohlgemerkt ohne jegliche schriftlichen Vorlagen.

Die oral-poetry-Forschung (MILMAN PARRY) hat noch in den Dreißiger Jahren im ehemal. Jugoslawien "Sänger" finden können, die epische Heldengesänge (aus der eigenen Vergangenheit - also ähnlich wie die "Ilias") mit vielen tausend Versen rezitieren konnten - und zwar ohne jegliche schriftliche Vorlage. Ist also nicht so unwahrscheinlich, auch lange Epen ohne vorausgehende Schriftlichkeit anzunehmen. Die vielen Formelverse - dazu gehören auch Halbverse - die dem Sänger in reichem Maße zur Verfügung standen sowie das regelmäßige hexametrische Maß boten hier wichtige Hilfen.

Dass Homer NICHT mit dem Verfasser - oder besser den Verfassern, die "Odyssee" weist in der auf uns gekommenen Form mehrere Schichten auf - der "Odyssee" in der überlieferten Form identisch ist (allenfalls mit dem Verfasser einer "Ur-Odyssee", aber auch das ist umstritten), wird in der heutigen Homer-Forschung wohl weitgehend - m. E. auch zu Recht - akzeptiert.

Übrigens gibt es auch in der "Ilias" in der überlieferten Form Partien, die sicher nicht von Homer, sondern erst in späterer Zeit - v. a. durch die athen. Redaktion zur Zeit des Peisistratos - in den Text geraten sind. Vielleicht ist auch in größerem Ausmaße erst diese peisistr. Redaktion für den endgültigen "Homer"-Text verantwortlich. Damit würde auch "Homer" als Schöpfer der Ilias mehr oder weniger "schrumpfen".
Chrysostomus
 

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