von Chrysostomus » Mi 7. Jan 2004, 19:40
Zitat: "Man muss aber beruecksichtigen, dass wohl nur die allerwenigsten zu Homers Zeiten die Moeglichkeit hatten, geschriebene Texte in die Hand zu bekommen, die normalerweise die Voraussetzung fuer diese Art des Auswenig-Koennens sind. usw."
Man wird denn doch wohl eher davon auszugehen haben, dass zur Zeit Homers (also des "Ilias"-Dichters) noch gar keine umfangreichen schriftlichen "Texte" - zumindest keine literarischen in der Form der homerischen Epen - existiert haben, also auch keine schriftlichen Gesamt-Vorlagen für Homer, wohl eventuell Listen u.ä. Man wird mit LATACZ u.a. Homer als den Begründer der abendländischen Textualität ansehen dürfen.
Schriftlichkeit ist für die Abfassung der homerischen Epen selbst wohl anzunehmen, aber auch nicht zwingend notwendig (wie mir vor Jahren ein Prof. der Alten Geschichte als Monitum an den Rand einer zu optimistisch formulierten Aussage in einer meiner Hauptseminar-Arbeiten, die sich mit dem Sänger in den homerischen Epen beschäftigte, schrieb) . Wie wir aus den homerischen Epen selbst erfahren, gab es in den "Dark Ages" der nachmykenischen Epoche (also einer schriftlosen Zeit nach Linear B und vor der Umarbeitung der phoenizischen Schrift in die griechischen Alphabete), die den gesellschaftlichen Kontext für die homer. Epen darstellen, eine offenbar auf reiner Mündlichkeit basierende Sänger-Tradition. Solche wandernden und an den Adelshöfen auftretende Sänger waren problemlos in der Lage, ihr Publikum stundenlang und abendfüllend mit den Heldengesängen aus alter Zeit zu unterhalten - wohlgemerkt ohne jegliche schriftlichen Vorlagen.
Die oral-poetry-Forschung (MILMAN PARRY) hat noch in den Dreißiger Jahren im ehemal. Jugoslawien "Sänger" finden können, die epische Heldengesänge (aus der eigenen Vergangenheit - also ähnlich wie die "Ilias") mit vielen tausend Versen rezitieren konnten - und zwar ohne jegliche schriftliche Vorlage. Ist also nicht so unwahrscheinlich, auch lange Epen ohne vorausgehende Schriftlichkeit anzunehmen. Die vielen Formelverse - dazu gehören auch Halbverse - die dem Sänger in reichem Maße zur Verfügung standen sowie das regelmäßige hexametrische Maß boten hier wichtige Hilfen.
Dass Homer NICHT mit dem Verfasser - oder besser den Verfassern, die "Odyssee" weist in der auf uns gekommenen Form mehrere Schichten auf - der "Odyssee" in der überlieferten Form identisch ist (allenfalls mit dem Verfasser einer "Ur-Odyssee", aber auch das ist umstritten), wird in der heutigen Homer-Forschung wohl weitgehend - m. E. auch zu Recht - akzeptiert.
Übrigens gibt es auch in der "Ilias" in der überlieferten Form Partien, die sicher nicht von Homer, sondern erst in späterer Zeit - v. a. durch die athen. Redaktion zur Zeit des Peisistratos - in den Text geraten sind. Vielleicht ist auch in größerem Ausmaße erst diese peisistr. Redaktion für den endgültigen "Homer"-Text verantwortlich. Damit würde auch "Homer" als Schöpfer der Ilias mehr oder weniger "schrumpfen".