Hat es Homer wirklich gegeben?

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Beitragvon RM » Mi 7. Jan 2004, 23:45

O.k., in der Antike gab es unsere Form von Originalitätswahn - die uns z.B. dazu führt, Bach mit Originalinstrumenten aufzuführen - sicher nicht.

Trotzdem müssen Ilias und Odyssee schon recht früh (sagen wir um 700) vorgelegen haben. Hesiod kannte wohl beide und verwendet viele Halbverse, die auch in Ilias und Odyssee vorkommen.
Man kann natürlich sagen, daß es eine Art "Public Domain Halbverse" gab, die von vielen Dichtern benutzt wurden. Das nachzuweisen, würde aber eine halbe Ewigkeit dauern, und es würde sich wieder die Frage stellen, wer der ursprüngliche Autor nun war, da ja vor Homer nichts aufgeschrieben wurde.

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Beitragvon Chrysostomus » Do 8. Jan 2004, 18:01

Als wahrscheinlich gilt hier:

- Ansatz der "Ilias" um 740/730 v. Chr.; dabei ist das Werk im wesentlichen auch Produkt Homers - d. h. größte Teile des heute vorliegenden Werkes stammen auch von Homer - , spätere Zusätze (z. B. die Dolonie) sind anzunehmen und in ihrem Umfang schwer abzuschätzen

- Ansatz der "Odyssee" eine Generation später um 710 v. Chr.
Ob die "Odyssee" als ursprüngliche Einheit zu sehen ist, ist unklar, es ist nicht unwahrscheinlich, hier eine "Ur-Odyssee" und spätere Erweiterungen und somit mehrere Dichter anzunehmen. Auch die Zuweisung beider Werke an Homer (den Ilias-Dichter) ist möglich, wird aber vielfach abgelehnt - wenn, dann wäre die "Odyssee" auf jeden Fall als "Alterswerk" Homers zu betrachten.

Ob man bzgl. der typischen Szenen, Formelverse und Formelhalbverse einen "ursprünglichen" Autor annehmen sollte? Sie gehörten denn doch wohl eher zum mündlich überlieferten Allgemeingut einer viele Generationen alten "Sängerzunft", aus der auch Homer stammte (er beschreibt ihre Vertreter ja in seinen Epen, die Sängergestalten aus Ilias und Odyssee sind in vielerlei Hinsicht eine bessere Quelle für eine Homer-Biographie als es die überlieferten Homerviten sind) und der man eine - trotz oder gerade wegen der Schriftlosigkeit - eine ungemein hohe Mnemotechnik wird zubilligen müssen. Als nun im 8. Jh. die Schrift entwickelt wurde und sich ihr Gebrauch durchzusetzen begann, hat Homer sich dann eventuell dieser neuen Technik bedient (es wird wie oben gesagt nicht von allen eine schriftliche Abfassung der Epen durch Homer angenommen) und in mündlicher Form bestehendes Sängergut schriftlich formuliert, eventuell auch eigenständig erweitert bzw. eine neue Gesamtkomposition aus vorliegenden Teilen geschaffen.

Die Bemerkung bzgl. des Originalitätswahns kann ich jetzt nicht so ganz einordnen. Es ist natürlich philologisch nicht ohne Belang, ob ein Werk spätere Zusätze aufweist, vielleicht sogar ganz der Analyse zum Opfer fällt und man diese eventuell auch nachweisen bzw. wahrscheinlich machen kann. (Natürlich tut es dem Genuss der Homer-Lektüre keinen Abbruch, ob die Epen von einem, zwei oder noch mehr Dichtern verfasst wurden, ob der Dichter wirklich Homer hieß und wann die endgültige Fassung entstanden ist.)

Mit diesem Beitrag möchte ich meine Bemerkungen ohne jeglichen Anspruch auf absolute Wahrheit zu dem Thread abschließen - ich führe ungern philologischen Kleinkriege auf letztlich doch zu unsicherem Schlachtfeld - und verweise die Interessierten noch einmal auf das sehr instruktive Homer-Buch von Joachim LATACZ
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Beitragvon RM » Fr 9. Jan 2004, 00:07

Gut, dann werde ich hier auch zu meinem Schlußplaydoyer ansetzen:

Mir persönlich gefällt es nicht, keinen richtigen Standpunkt zu haben. Meiner ist jedenfalls, daß es den Dichter Homer gab und dieser die Ilias und die Odyssee zum größten Teil geschaffen hat. Es gibt eine Menge Argumente dafür, dies anzunehmen - und diese Argumente sind nicht leicht zu widerlegen.
Das, was wir z.Zt. an "gängiger Lehrmeinung" haben, ist evtl. geeignet, Zweifel an diesem oder jenem aufkommen zu lassen - wir wissen ja, daß eine Wiederherstellung des Originaltextes mehrmals in Angriff genommen wurde - es ist aber kaum als Beweis für die These zu akzeptieren, daß die Odyssee nicht von Homer stammt. Insbesondere bin ich mit Argumenten nicht einverstanden, die sich auf Unstimmigkeiten in der stilistischen - oder auch kulturellen - Einheitlichkeit berufen. Werke wie die Ilias und Odyssee müssen nicht aus einem Guß sein - ein junger Autor denkt und schreibt anders als ein alter, auch wenn es sich um dieselbe Person handelt.

Natürlich hat Homer aus alten Überlieferungen geschöpft, hat sich hier und dort bedient - sicherlich hatte er Vorbilder, Vortragsreisende, Märchenerzähler. Natürlich gab es eine Redaktion, haben die einen versucht, das Epos um Eigenes zu erweitern, die anderen, es wieder auf das Original zurechtzustutzen. Das ändert aber doch nichts daran, daß im Grunde in der Ilias und der Odyssee eine einzige große Geschichte erzählt wird. Die Ilias alleine wäre ohne die Odyssee irgendwie unvollendet geblieben.

In meinen Augen ist es abwegig anzunehmen, daß ein oder mehrere Dichter als Homer getarnt die Odyssee veröffentlicht haben. Welchen Sinn sollte das haben? Warum auf den Ruhm eines großen Dichters verzichten?
Daß der Name des Dichters, falls es nun nicht Homer war, in Vergessenheit geraten ist, ist ebenso unglaubwürdig.
Ein Schüler Homers? Ein unbekannter Rhapsode? Wie viele namenlosen kongenialen Zeitgenossen Homers mag es gegeben haben? Ich persönlich glaube mehr an die Einzelleistung - und daran daß der Schlüssel zum publizistischen Erfolg der beiden Epen eben die neu entdeckte Schriftlichkeit war.

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Re: Hat es Homer wirklich gegeben?

Beitragvon Gast » Mo 19. Jan 2004, 23:17

Caesar hat geschrieben:Eine Frage die ich immer mit "Ja" beantwortet hätte. Von mehreren Seiten habe ich jedoch schon gehört, dass Homer nur ein Mythos gewesen sein sollte, und somit nicht gegeben hatte. Was meint ihr dazu?
Bitte mit Begründung, oder Verweis auf eine passende Internetseite


Ilias und Odyssee sind gar nicht von Homer, sondern von einem unbekannten Dichter gleichen Namens. :-o

MfG
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Beitragvon RM » Di 20. Jan 2004, 02:53

Thoma! Revera hanc opinionem non attribuissem tibi ... ;-) RM
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Re:

Beitragvon ThomasVulpius » So 30. Mai 2010, 23:54

Übrigens wurden Ilias und Odysse nicht von Homer, sondern von einem unbekannten Dichter gleichen Namens geschrieben. :lol:
(Altphilologen-Witz)
खड्गिनी शूलिनी घोरा गदिनी चक्रिणी तथा ॥ ८० ॥

Armed with sword, spear, club, discus conch, bow, arrows, slings and mace You are terrible. ॥ 80 ॥

शङ्खिनी चापिनी बाणभुशुण्डीपरिघायुधा ।

सौम्या सौम्यतराशेषसौम्येभ्यस्त्वतिसुन्दरी ॥ ८१ ॥

And at the same time pleasing, You are more pleasing than all the pleasing things and exceedingly beautiful. ॥ 81 ॥

देवीमाहात्म्यम् (Devī Māhātmyam, Glory of the Goddess), Chapter 1
("Gloria deae", caput I)
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Re: Hat es Homer wirklich gegeben?

Beitragvon Laptop » Mo 31. Mai 2010, 15:27

Es gibt eine Menge Argumente dafür, dies anzunehmen - und diese Argumente sind nicht leicht zu widerlegen.


Schade, daß du die Argumente nicht erwähnst, denn gerade darum geht es doch hier. Argumente.
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Re: Hat es Homer wirklich gegeben?

Beitragvon Euklidion » Fr 11. Jun 2010, 18:24

Auch ich beschäftige mich gerade mit der homerischen Frage und möchte auch noch das Buch von Heubeck: Die homerische Frage als lesenswert erwähnen, auch wenn es schon etwas älter ist, weil ich meine, dass es einen schönen Einblick in den Gang der Forschung gibt und viele Hinweise, wo man sich umfassender mit dem Thema auseinandersetzen kann.

Der Vollständigkeit halber möchte ich auch erwähnen, dass keineswegs nur die Frage ist/war, ob es Homer gab und ob er beide Epen geschrieben hat, sondern auch, ob diese Epen in der uns heute vorliegenden Form eine Einheit bilden und nicht etwa nach und nach von Dichtern erweitert wurden.
Wie z.B. gegen die Einheit argumentiert wird, möchte ich anhand eines - alten - Beispiels aus dem Gedächtnis erläutern, aber ich weiß nicht mehr, auf welchem Wissenschaftler diese Gedanken beruhen:
Es geht um die Fußwaschung im 19ten Gesang der Odyssee. Es wird beschrieben wie Odysseus als Bettler Penelope von ihrem Gatten berichtet. Zur Probe fragt sie ihn, welches Gewand er denn vor 20 Jahren bei der Abfahrt ins Unglücksilion trug, was der Bettler bis zur Spange richtig beantwortet. Dann berichtet er, dass Odysseus bald nach Hause zurückkehren werde und nur noch in Dodona anfrägt, ob er es offen oder verkleidet einrichten solle. Diese Aussage müßte Penelope wenigstens aufmerken lassen.
Aufgrund der Tatsache, dass Odysseus selber vorschlägt, daß ihm keine junge Magd, sondern seine alte Amme die Füße wäscht, kann man davon ausgehen, daß Odysseus an seiner Narbe erkannt werden wollte. Doch überraschend überlegt er es sich anders und hält Eurykleia zurück, damit niemand etwas erfahre. Für einen listigen Denker ein ziemlicher Patzer.
Obwohl Penelope nun Nachricht von Odysseus' Nahen hat, entscheidet sie sich plötzlich am nächsten Tag denjenigen zu heiraten, der aus dem bekannten Bogenwettbewerb als Sieger hervorgeht. Das Wettschießen führt dann bekanntermaßen zur Tötung der Freier und Odysseus' Wiedergewinnung seines Hauses.
Odysseus hat diesen Wettbewerb also nicht als Falle geplant und einfach die Gunst des Augenblicks ergriffen, weil Penelope zufällig sich gerade jetzt für das Bogenschiessen entschieden hat. Wieder eine unverständliche Wendung der Ereignisse, sowohl in Hinblick auf das planvolle Vorgehen Odysseus' als auch mit Hinblick auf Penelope, die nun nicht mehr einen Tag länger auf Odysseus warten möchte und lieber einen neuen Mann nehmen möchte.
Im letzten Buch berichtet Amphimedons Seele, daß es Odysseus war, der listig seiner Frau den Bogenwettbewerb vorschlug, damit er sie töte, was im Widerspruch zu der vorhergehenden Geschichte steht.

Manche argumentieren nun so, daß diese Teile besseren Sinn ergeben unter der Annahme, daß zwei Wiedererkennungsszenen in dem Gedicht zusammengefügt wurden, und weil dies nicht sonderlich gut gemacht wurde, vermutlich von zwei verschiedenen Dichtern. Denn alles füge sich besser, wenn Odysseus tatsächlich schon am Abend der Fußwaschung erkannt worden wäre und er mit Penelope den Plan zur Freierstötung beim Bogenschießen verabredet hätte, stattdessen dies alles rein zufällig geschieht. Um die berühmte Wiedererkennungsszene im 23ten Gesang aber einbringen zu können, wurde der Lauf der Ereignisse und die Wiedererkennung bei der Fußwaschung dann abgeändert.

Es gab/gibt eine Vielzahl ähnlicher Überlegungen zu anderen Teilen der Gedichte. Soweit ich weiß, herrscht heute eine recht breite Übereinstimmung darüber, daß die Dolonie nicht von dem Iliasdichter stammt, sondern späterer Zusatz ist. Eine neuere (1988) Untersuchung dazu ist Danek: Studien zur Dolonie. Auch Knut Usener: Verhältnis von Ilias und Odyssee ist interessant. Bemerkenswert scheint mir, dass Schadewaldt die Ilias für ganz hielt, die Odyssee jedoch für zusammengesetzt.

Ich persöhnlich finde das alles sehr anregend.
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Re: Hat es Homer wirklich gegeben?

Beitragvon spiphany » Sa 12. Jun 2010, 07:01

Es gibt eine andere mögliche Interpretation von Penelopes Verhalten am Ende der Odyssee. Nämlich: Der Erzähler sagt zwar, dass Penelope ihn erst nach der Lösung des Betträtsels erkennt, aber der Leser mag schon lange vorher den Verdacht hegen, dass Penelope etwas ahnt. Sie scheint immer wieder kurz davor, ihn zu erkennen, aber die Begegnung wird immer verzögert. Das passt zum generellen Verhalten des Erzählers, die Erwartungen erweckt, die aber später nicht erfüllt werden.

Man kann natürlich sagen, das lässt sich dadurch erklären, dass der Text aus mehrere Erzählungen "zusammengebastelt" wurde, aber interessanter finde ich die Möglichkeit, dass es -- wenigstens zum Teil -- eine gewollte Strategie ist. Die Odyssee spielt ja mit Identitäten, mit Wahrheit und Lüge, warum sollte es unmöglich sein, dass der Erzähler auch seinem Publikum gerne mal ein Bisschen verleitet, um es dann mit einer unerwarteten Wendung zu überraschen?

Ich empfehle hier: Richardson, Scott. „The Devious Narrator of the Odyssey“. The Classical Journal. 101.4 (2006): 337-359.

(Ich verfechte hier übrigens keine Position im Hinsicht auf die Einheit des Gedichts. Ich sehe keinen großen Unterschied darin, ob es ein "Homer" gab oder mehrere -- wenn das Ganze von einem Dichter gedichtet wurde, so hat er innerhalb eines Traditions gearbeitet, er hat also schon vorhandenen Stoff modifiziert, zusammengefügt, oder ergänzt. Wenn es mehrere "Texte" gegeben hat, gab es wohl irgendwann einen Herausgeber, die sie zusammengebündelt hat. Klar: Unstimmigkeiten im Text müssen anerkannt werden, aber ich finde es reduktiv, das Problem einfach von der Hand zu weisen, indem man sagt, da ist eine Interpolation. Das ist der Vielfältigkeit des Textes, den wir haben, nicht immer gerecht.)
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Re: Hat es Homer wirklich gegeben?

Beitragvon Brakbekl » Di 19. Okt 2010, 08:24

Es ist auch verständlich, daß so eine fahrender Sänger blind war. Die oral Poetry war eine gute Möglichkeit für einen Sehversehrten, sein Leben zu unterhalten. Aufgeschrieben wird die Geschichte ein anderer haben. Denn Blinde schreiben schlecht.
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Re: Hat es Homer wirklich gegeben?

Beitragvon ThomasVulpius » So 29. Jul 2012, 15:04

Hier ein Altphilologenwitz:
Ilias und Odyssee sind nicht von Homer, sondern von einem unbekannten Dichter gleichen Namens.

Dazu noch eine Schülerübersetzung:
Homerus caecus fuisse dicitur.
"Homer soll unsichtbar gewesen sein."
खड्गिनी शूलिनी घोरा गदिनी चक्रिणी तथा ॥ ८० ॥

Armed with sword, spear, club, discus conch, bow, arrows, slings and mace You are terrible. ॥ 80 ॥

शङ्खिनी चापिनी बाणभुशुण्डीपरिघायुधा ।

सौम्या सौम्यतराशेषसौम्येभ्यस्त्वतिसुन्दरी ॥ ८१ ॥

And at the same time pleasing, You are more pleasing than all the pleasing things and exceedingly beautiful. ॥ 81 ॥

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("Gloria deae", caput I)
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