Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

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Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon philistion » Mo 30. Nov 2009, 13:04

Hallo,

ich habe vor kurzem in einer (vielleicht einigen schon bekannten) Philosophie-Sendung mit W.Vossenkuhl und Harald Lesch (auf dem blauen Sofa) eine These gehört, die ich gerne weiter untersuchen würde.
Sie sprachen davon, dass die griechische Philosophie sehr stark von den sprachlichen Besonderheiten der altgriechischen Grammatik beeinflusst und auch begrenzt wurde. Also dass es gewisse sprachliche Merkmale gibt, welche ein Vordringen in eine bestimmte Richtung erschweren.

Um was es sich dabei genau handelte kann ich mich aber leider nicht mehr erinnern.

Kennt Ihr Literatur zum Thema altgriechische Sprache/Grammatik und deren Einfluss auf die griechische Philosophie?

Diesen Zusammenhang Grammatik<->Philosophie finde ich sehr interessant, wenn hierzu jemand weiterführende Informationen/Links/Bücher kennt, wäre ich ihm sehr dankbar.

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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon RM » Mo 30. Nov 2009, 22:38

Wichtig für die griechische Philosophie war sicher die Existenz von bestimmten Artikeln und des Partizip Präsens von "sein". Beides gibt es z.B. im klassischen Latein nicht. Ich glaube aber, daß es eher umgekehrt war: Die Philosophie hat die Sprache geprägt. Beides war natürlich von der griechischen Mentalität und diese wiederum von der Lage Griechenlands beeinflußt.

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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon consus » Mo 30. Nov 2009, 22:50

Man denke nur an das berühmte aristotelische τὸ τί ἦν εἶναι, eine komplexe Begriffsbildung mit Hilfe des Artikels (in der Art allerdings z. T. auch im Deutschen möglich). Oder an einen solchen Begriff wie ἀλήθεια (á¼€-λήθ-εια) = Un-verborg-enheit (d. h. Wahrheit), wie er mit Blick auf die griechische Wortbildung so exzellent von Heidegger interpretiert wird.
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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon philistion » Mo 30. Nov 2009, 23:57

Danke!
Heidegger scheint für diese Fragen einige interessante Antworten parat zu haben.
Bin mir allerdings nicht ganz sicher ob mir das nicht doch noch etwas zu schwierig ist, an Hegel hab ich mir schon mal die Zähne ausgebissen :oops:

Im oben erwähnten TV-Beitrag wurde davon gesprochen, dass ein eigentlich sehr wichtiger Begriff mit der griechischen Grammatik "nicht formulierbar" war und deshalb auch die Philosophie nicht in bestimmte Bereiche vordringen konnte.
Habt Ihr eine Idee welche "fehlende Konstruktion" damit gemeint sein könnte bzw. was man im altgriechischen im Vergleich zu modernen Sprachen nicht (oder nur schwer) ausdrücken konnte?
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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon ille ego qui » Fr 11. Dez 2009, 20:38

Auch ich habe einmal gehört, die aristotelische Philosophie (wohl v.a. die Ontologie) sei in weiten Teilen Sprachphilosophie, Philosophie der griechischen Sprache - das ist noch radikaler formuliert, wenn nicht gedacht.

Falls dir hier keiner wirklich weiterhelfen können sollte (ich kann es nicht), dann schreibe doch eine E-Mail an die zwei Philosophen - ich wette, dir würde dort zumindest ein Hinweis auf Literatur gegegeben ... und danach unterrichte uns ;-)

Gruß
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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon RM » Fr 11. Dez 2009, 21:42

Auch wenn es ein bißchen an die Diskussion um die Henne und das Ei erinnert stehe ich eher auf dem umgekehrten Standpunkt, nämlich daß die griechischen Philosophen erheblichen Einfluß auf die Sprache genommen haben, d.h. sie haben die Sprache nicht nur benutzt, sondern auch bewußt bereichert. Gerade an dieser Stelle manifestiert sich der enorme Unterschied griechischer und römischer Mentalität. Griechische Philosophie war ja zu einem erheblichen Teil Naturwissenschaft, und die Beschäftigung mit derselben begünstigt bestimmte sprachliche Entwicklungen auf dem mathematisch-logischen Sektor. Obwohl die gebildeten Römer gut Griechisch konnten und sich in der griechischen Kultur insgesamt gut auskannten, haben sie sich, bis auf wenige Ausnahmen, mit dem naturwissenschaftlichen Teil der griechischen Philosophie nie wirklich anfreunden können. Wahrscheinlich sind auch deshalb bestimmte Phänomene erst sehr spät ins Lateinische hineingewandert.

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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon Merkur » Fr 11. Dez 2009, 21:43

bei der Gelegenheit:

http://www.deutsches-museum.de/informat ... tstheater/

Lesch und Vossenkuhl spielen "Theater"
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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon philistion » Fr 11. Dez 2009, 22:46

@Merkur: Danke für den Tipp, Schade dass ich nicht in München wohne :(

Hab eben ein Email an Prof. Vossenkuhl geschrieben, ich halte euch auf dem Laufenden!
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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon Apollonios » Fr 11. Dez 2009, 23:29

Bruno Snell schreibt dazu: Die Entdeckung des Geistes.
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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon RM » Sa 12. Dez 2009, 00:34

Nun ja, es ist ja nun nicht so, daß der "Geist" allein von den Griechen entdeckt wurde ...

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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon Domingo » Mi 23. Dez 2009, 16:29

Die Philosophie wurde auch in Indien entdeckt. Da gibt es (gab es zumindest damals) keinen bestimmten Artikel... Das widerlegt zumindest Snells Ansicht. Es ist ja keineswegs so, dass to on unbedingt das "tò" braucht, um sich auf das Sein im abstrakten Sinne beziehen zu können. Freilich hilft der Artikel, den Satz eindeutig zu machen, also klarzustellen, dass das Partizip substantiviert ist. Doch der Satz

sad asato bhavati

"das Seiende entsteht aus dem Nichtseienden" (*snt-, Wurzel bhû- wie in phynai, pephyke)

ist genauso abstrakt wie alles, was man in der gr. Philosophie lesen kann.

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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon RM » Do 24. Dez 2009, 14:11

Auch in China gab es sehr früh bedeutende Philosophen.
Aber ich meine, das typisch Griechische bzw. Europäische drückt sich besonders in dem Streben nach Einfachheit bzw. Vereinfachung aus, da das Monokausalitätsprinzip sich wie ein roter Faden durch die europäische Naturwissenschaft und Philosophie zieht. Das sieht man an der Wirkstoffdiskussion in der modernen Medizin ("Generika" etc.) im Gegensatz zu den Wirkstoffkombinationen der fernöstlichen Medizin, in der Physik (z.B. Vernachlässigung des Luftwiderstandes beim freien Fall, um das Bewegungsgesetz auf eine einzige Ursache zurückführen zu können) und natürlich auch beim Monotheismus.
Für diese Monokausalitätsdiskussion und die dafür verantwortlichen Denkschemata sind bestimmte Artikel jedoch sehr hilfreich, da man damit besser einzelne Dinge definieren und beschreiben kann.

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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon Domingo » Do 24. Dez 2009, 14:23

Einwand: Gerade in Indien stand der philosophische Monismus immer hoch in Kurs. Beispiel ist eben der o.g. Satz: Es geht um die Debatte darüber, ob alles aus dem Seienden oder aus dem Nichtseienden kommt.(*) Monokausaler als dies geht es wohl nicht - oder?

Valete



(*) in der Chandogya-Upanishad. Den Text habe ich jetzt nicht zur Hand, aber ich finde ihn sicher im Internet, falls Bedarf besteht.
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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon RM » Do 24. Dez 2009, 19:03

In Europa hat man dieses Ansatz jedoch anders weiterentwickelt und - zwar nicht früh, dafür aber sehr konsequent - eine quantitative naturwissenschaftliche Methodik entwickelt, die sich als ausgesprochen erfolgreich erwies. Natürlich ist dafür nicht alleine die Existenz eines bestimmten Artikels verantwortlich (in der späteren lateinischen Literatur fehlte dieser ja eigentlich), sondern viele andere Faktoren. Vielleicht war es tatsächlich so, daß das griechische Talent für Theoriebildung mit dem römisch geprägten Pragmatismus eine ideale Mischung ergab.

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Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Beitragvon Domingo » Fr 25. Dez 2009, 11:45

RM hat geschrieben:In Europa hat man dieses Ansatz jedoch anders weiterentwickelt und - zwar nicht früh, dafür aber sehr konsequent - eine quantitative naturwissenschaftliche Methodik entwickelt, die sich als ausgesprochen erfolgreich erwies.


Das wird jetzt schwierig. Es wäre nämlich zu klären, ob sich die moderne europäische Naturwiss. ein ganz neues Phänomen ist oder ob sie einfach nur Antikes und Mittelalterliches weiterentwickelt, das die Europäer um 1500 von den Arabern und anderen außereuropäischen Zivilisationen übernahmen...
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