Gebrauch von ἄν

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Gebrauch von ἄν

Beitragvon Procopius » Do 15. Apr 2010, 09:28

ὡς οὖν εἶδεν ἡμᾶς ἡ Ξανθίππη, ἀνηυφήμησέ τε καὶ τοιαῦτ' ἄττα εἶπεν, οἷα δὴ εἰώθασιν αἱ γυναῖκες, ὅτι "Ὦ Σώκρατες, ὕστατον δή σε προσεροῦσι νῦν οἱ ἐπιτήδειοι καὶ σὺ τούτους."

Dieser Satz aus Platons Phaidon (p.60a) ist, von kleineren Änderungen abgesehen, auch im Hellas-Lehrbuch verwendet worden (Lektion 92, V.3).

Den Relativsatz haben die Bearbeiter allerdings so formuliert:
οἷα δὴ λέγειν εἰώθασιν ἂν αἱ γυναῖκες, ...

Kann mir jemand den Gebrauch von ἄν in diesem Satz erklären? Im Text von Burnet findet sich kein ἄν. Die Partikel fehlt offenbar auch in allen Hss., die B. kollationiert hat.

Vielen Dank
P.
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Re: Gebrauch von ἄν

Beitragvon Medicus domesticus » Do 15. Apr 2010, 21:11

Hallo Procopius,

Mir ist dieses ἄν auch nicht ganz klar. Meinst du, dass die Autoren das vielleicht iterativ gemeint haben? Also praktisch jedesmal (oder als unbestimmte Wiederholung: wohl, gelegentlich, dann und wann?) in diesem Fall "die Frauen zu sagen pflegten"?

Aber da bist du viel mehr Profi als ich, um zu entscheiden, ob das sein kann.

Gruß, Medicus :)
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Re: Gebrauch von ἄν

Beitragvon Platon » Fr 16. Apr 2010, 08:06

ἄν mit Indikativ(!) Perfekt gibt es eigentlich nicht bzw. wird schon von den antiken Grammatikern verworfen, die Stellen an denen es vorkommt, sind überlieferungsgeschichtlich sehr fragwürdig.
Als Erklärung könnte hier dienen, dass sich ἄν auf das ebenfalls ergänzte λέγειν bezieht (die für den Deutschen ungewohnte Wortstellung erklärt LSJ "ἄν is freq. separated from its inf. by such Verbs as οἴομαι, δοκέω, φημί, οἶδα") und dem Infinitiv potentiale Färbung gibt. Wenn man die Verschränkung auflösen würde, käme dann heraus: οἷα δὴ λέγοιεν ἂν αἱ γυναῖκες, ὡς εἰώθασιν o.ä.
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Re: Gebrauch von ἄν

Beitragvon Procopius » Fr 16. Apr 2010, 09:18

Vielen Dank an Platon für seine erhellenden Überlegungen. Da die Partikel - jedenfalls im Grundsatz - beim Indikativ Präsens oder Perfekt nicht vorkommt, hatte ich auch in diese Richtung gedacht. Und weil die irreale Einfärbung im Textzusammenhang ausscheidet, kann es nur ein Potentialis sein. Mit Hilfe von KÜHNER/BLASS wäre die Formulierung übrigens nicht zu erklären. Da auch ein Lapsus der Autoren unwahrscheinlich ist, weil sie den Platon-Text (vermutlich Burnet) vor Augen hatten, bleibt mir doch eine gewisse Verwunderung zurück. Der Anfänger allerdings kann aus dem Fall lernen, vorausgesetzt er hat viel Zeit.
:-o :-o :-o
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Re: Gebrauch von ἄν

Beitragvon Quintus » Fr 16. Apr 2010, 13:07

Hallo amici,

ich habe auch dieselbe Überlegung wie Platon angestellt, nachdem ich die mir zugänglichen Grammatiken nach diesem Problem 'durchsucht' habe ;-).

Ich habe dann gestern Abend im 'Bornemann-Risch' eine Erklärung für dieses ἄν gefunden, die mir als einzig sinnvoll erscheint, und die sich mit Platons Ausführungen als Experten decken:
§248:

Infinitiv und Partizip mit ἄν:

Verbindet sich die Modalpartikel ἄν mit einem Infinitiv oder Partizip, so bekommen diese damit einen potentialen oder irrealen Sinn. Bei ihrer Auflösung in einen Satz mit finitem Verb müßte also
entweder der Optativ mit ἄν
oder der Indikativ eines Nebentempus mit ἄν stehen.

Ich denke, dass ist auch das, was Platon gemeint hat.

Viele Grüße,
Quintus
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Re: Gebrauch von ἄν

Beitragvon Medicus domesticus » Fr 16. Apr 2010, 14:37

Danke für die ausführlichen Erklärungen an Platon und Quintus!
Mir war das so nicht klar. Habe jetzt im §170 Menge Repititorium das auch gefunden mit mehreren Satzbeispielen.
:book:
Gruß, Medicus
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Re: Gebrauch von ἄν

Beitragvon Procopius » Mi 28. Apr 2010, 12:29

"Die Frauen pflegen etwas vielleicht zu tun."
oder
"Gewöhnlich mache ich vielleicht etwas."

Ich meine, Platon hätte einen sehr schlechten Tag gehabt, wenn er im Textzusammenhang (siehe ganz oben) so etwas tatsächlich geschrieben hätte.
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