Ein paar Fragen..

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Ein paar Fragen..

Beitragvon Ioscius » Sa 7. Jun 2014, 15:06

Hallo,

1) Es ist ja bekannt, dass eἶναι als Kopula enklitisch ist (insb. zur Erstellung von Nominalsätzen durch Substantive und Adjektive im Nominativ, aber auch im Genitiv).

Als Vollverb soll εἶναι immer orthotoniert sein. Das gilt in der Verwendung als Verbum existenziale sowie in der verwandten Bedeutung "es ist möglich" (= ἔξεστιν). Wie sieht es mit der Bedeutung "sich befinden" aus? Meiner Meinung nach müsste das Verb dann ebenso orthotoniert werden, weil das Verb in der Bedeutung "sich befinden" auch Vollverb ist.

Beispiel: Ἀθήνησί ἐστιν.

2) Lindemann-Färber spricht reiht Genetivattribute wie "τῆς Χερσονήσου ἐν Ἐλαιοῦντι" oder "ποῦ γῆς" in die Gruppe "Genetiv als Adverbiale" ein. Ich finde diese Zuordnung relativ schwierig: Semantisch vielleicht, aber syntaktisch handelt es sich ja um Attribute, die ein Objekt (oder Adverb) näher bestimmen, aber auf keinesfalls das Prädikat an sich.
In "Die Schiffe der Ahener" wird "die Athener" zumindest als Genitivattribut gesehen.

Nach der Logik müsste man "Landespolitik" als Genitivattribut (die Politik des Landes), Straßensperre als Adverbiale sehen (Die Sperre auf der Straße).
"Die Furcht der Athener" wird ebenso als Genitivattribut gesehen. Da es sich um ein Verbalsubstantiv handelt, könnte man dem Genitiv auch adverbialen Charakter zuschreiben (Gen sub. / obi.).

3) In meines Erachtens übereifrigem Analogiebestreben wird in den Grammatiken "binden an etwas" mit "δέειν έκ τινος" übersetzt. Nach Sichtung des Pape und des LS bin ich jedoch zu der Erkenntnis gekommen, dass nach Xenophon "πρός τινα" die einzig richtige Möglichkeit ist. Was meint ihr?

4) Wir würdet ihr "treten vor" übersetzen? "πρό" drückt ja keine Richtungsangabe aus.

Mein Vorschlag: Das Heer trat vor die Stadt. Ὁ στρατὸς ἔστη πρὸς πόλιν.

Danke für eure Meinungen und Anregungen schon im Voraus. :)
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Re: Ein paar Fragen..

Beitragvon Sokrates » So 8. Jun 2014, 11:38

Χαῖρε,

ich bin in argem Stress, kann hier nur ganz gedrängt antworten:
1) sich befinden, aufhalten= Verbum substantivum=> orthotoniert!

2) schwer, Grammatiken sind sich nicht einig. Zum Teil erfolgt die Klassifikation als Attribut und damit Satzgliedteil, etwa im Sinen einer Zugehörigkeit und eines (Teil-)Bereiches, also gen. pose./pert./partit. (nach Menge "chorographicus", das hat schon seine Berechtigung. Bedenkt man aber, dass es weniger klassisch, als grundsprachlich auch einen Genitivs lock als Adverbiale gibt, muss man sehen, ob sich der Genitiv konkret eher auf das Verb bezieht oder doch mit einem Adverb/Substantiv zu einer Quasijunktur erstarrt ist und dann freilich ein Attribut darstellt. So mag der Genitiv zum Teil lokalen (adverbialen) Ursprungs, zum Teil klar zugehörigkeitsangebend (attributiv) sein.

3) die Kritik kann ich nicht nachvollziehen, du müsstest es belegen, und welche Analogie?

4) ja schon möglich, pro ginge nicht, aber pros könnte je nach Kontext auch heißen "gegen die Stadt" (im feindlichen Sinne), das ist entsprechend zu berücksichtigen.

Noch eine Anmerkungen zum Gebrauch der Präpositionen: Er ist oft kontraintuitiv…. für uns Moderne.

LG
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Re: Ein paar Fragen..

Beitragvon Sokrates » So 8. Jun 2014, 11:39

Χαῖρε,

ich bin in argem Stress, kann hier nur ganz gedrängt antworten:
1) sich befinden, aufhalten= Verbum substantivum=> orthotoniert!

2) schwer, Grammatiken sind sich nicht einig. Zum Teil erfolgt die Klassifikation als Attribut und damit Satzgliedteil, etwa im Sinen einer Zugehörigkeit und eines (Teil-)Bereiches, also gen. pose./pert./partit. (nach Menge "chorographicus", das hat schon seine Berechtigung. Bedenkt man aber, dass es weniger klassisch, als grundsprachlich auch einen Genitivs lock als Adverbiale gibt, muss man sehen, ob sich der Genitiv konkret eher auf das Verb bezieht oder doch mit einem Adverb/Substantiv zu einer Quasijunktur erstarrt ist und dann freilich ein Attribut darstellt. So mag der Genitiv zum Teil lokalen (adverbialen) Ursprungs, zum Teil klar zugehörigkeitsangebend (attributiv) sein.

3) die Kritik kann ich nicht nachvollziehen, du müsstest es belegen, und welche Analogie?

4) ja schon möglich, pro ginge nicht, aber pros könnte je nach Kontext auch heißen "gegen die Stadt" (im feindlichen Sinne), das ist entsprechend zu berücksichtigen.

Noch eine Anmerkungen zum Gebrauch der Präpositionen: Er ist oft kontraintuitiv…. für uns Moderne.

LG
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Re: Ein paar Fragen..

Beitragvon Ioscius » So 8. Jun 2014, 16:47

Vielen Dank, Sokrates!

3) Nun ja, im Repetitorium, Bornemann-Risch und Lindemann-Färber steht eben, dass diese δέω mit mit im Genitiv stehenden Präositionalobjekt konstruiert wird.

Meiner Meinung ist das aber für die Stilübung ungeeignet, weil das nicht bei den Attikern so formuliert wird.

Ganz unten steht meiner Meinung nach die "richtige" Konstruktion:

πρός τι, an etwas, Thuc. 3, 103

Ähnlich hier.. http://www.perseus.tufts.edu/hopper/mor ... ek#lexicon

Interessant wäre es wirklich zu wissen, ob man sich nun auf beispielsweise Herodot beziehen könnte..

Mir ist noch eine weitere, eine sechste Frage gekommen:

In den Grammatiken finden sich bei den Verba iudicila die Angaben wozu bzw. weswegen getrennt, die zumeist im Genitiv stehen (bei der ersten Angabe häufig mit der Präposition "περί" erweitert.

Wie würdet ihr "Ich veurteile ihn wegen Mordes zum Tod" ausdrücken?:

Κρίνω αὐτὸν φόνου περὶ θανάτου.

Ich würde mich das so nicht zu formulieren trauen. Mir kam in den Sinn, die Angabe des Grundes stattdessen ganz "regulär" mit "διά" zu konstruieren (konsequenterweise müsste dann auch eine kausale Partizipialkonstruktion erlaubt ein:

Ἅτε ἀποκτείνοντα ( διὰ τὸ φόνον/ ἀποκτείνειν) κρίνω αὐτὸν θανάτου.

Meinem Gefühl nach ist dann das Präpositionalgefüge nicht so stark an das Verb angekoppelt. Was meint ihr, wäre derartiges möglich? - ich hoffe sehr: Wenn nicht, wäre das Erlernen der alten Sprachen ein bloßes Phrasenlernen nach dem Bausteinprinzip, in der jedwede Ergänzung nachgeprüft werden müsste, ob sie sich mit dem jeweiligen Verb verträgt..
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Re: Ein paar Fragen..

Beitragvon Sokrates » So 8. Jun 2014, 20:37

also wenn die Attiker das wirklich nicht so schreiben sollten, ist das in Zweifel zu ziehen. Aber wenn das diverse Grammatiken anführen, würde ich das zunächst so annehmen.
Umgekehrt kann man gegen pros dann auch nichts einwenden.
Der Grund für die Anklage steht im Genitiv, bei kata Komposita im Akkusativ und im Passiv dann im Nominativ.
Gen. criminis also, φόνου ist mehr Ergänzung denn Adverbiale, eben bei den "Gerichtsverben", muss also im präpositionslosen Genitiv stehen.
Die Crux in deinem Satz ist, dass du neben der Schuld auch die Strafe unterbringen willst, und das wird schwierig mit zwei Genitiven. Ich glaube, es findet sich in der Realität auch kaum eine Stelle, an der beides in einem Satz vorkommt. Wenn du es unbedingt wissen willst, dann scheint mir die Lösung mit der Präposition für die Strafe am besten, wegen Mordes muss unbedingt aber im bloßen Genitiv stehen (auch wenn es da auch wieder Ausnahmen gibt, aber als Faustregel ist das so.)
Problematischer wird es da mit einem Präpositionalgefüge oder gar einem Partizip, was φόνου substituieren soll, aber genau das nicht leisten kann, weil es syntaktisch nicht gleichwertig ist.
Ein kausale Adverbiale ist eine fakultative Umstandsangabe, das Verb verlangt aber weitaus mehr, nämlich eine (kausale) Ergänzung. Semantisch kongruent, nicht aber valenztheoretisch.
Verurteilen mit Genitiv: wessen= wofür, für welche Tat verurteile ich dich? wegen Mordes
Verurteilen mit adverbialem Partizip: warum tue ich das? weil du mich einst denunziert hast.
Der Genitiv muss stehen, der Part könnte stehen, gibt dann aber eben nicht den Inhalt bzw Gegenstand des Verurteilens, sondern die Hintergründe an.


So, wer weiß noch was zu sagen?
LG
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Re: Ein paar Fragen..

Beitragvon Prudentius » So 8. Jun 2014, 20:50

Hallo Iosci,

1.
Den Stilübungen bin ich ja schon entwachsen :-D , aber ich würde sagen, wenn Nachdruck auf ἐστιν liegt, bekommt es den Akzent, ansonsten ist es enkklitisch.

2.
"Genitivattribute" finde ich nicht richtig, es gibt adj. und subst. Attribute, und bei den letzteren die im Gen.
"ποῦ γῆς" ist ein partitiver Genitiv, die Grammatiker haben aber Schwierigkeiten, einen passenden Namen zu finden, es heißt auch "Gen. des geteilten Ganzen", schon fast eine Stilblüte; von der Logik her würde ich sagen, der "Begriffsname" wird angegeben, γῆ, oder die Bereichsangabe, worauf sich das ποῦ bezieht. Die Bezeichnung Adverbiale ist verkehrt; das wäre etwas wie nyktos nachts.

Straßensperre als Adverbiale


Nein, Sperre, Sperrung der Str., Attribut.

"Hilfe zur Selbsthilfe", das ist eine d. Besonderheit, das ist ein als Attrbut gebrauchtes Adverbiale.

"Da es sich um ein Verbalsubstantiv handelt, könnte man dem Genitiv auch adverbialen Charakter zuschreiben (Gen sub. / obi.)."

Nein, beim Verbalsubstantiv ist das verbale Element suspendiert, es sind also Attribute.

lgr. P. :)
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Re: Ein paar Fragen..

Beitragvon Prudentius » Mo 9. Jun 2014, 09:41

3.
Wenn eine Handlung von Punkt A nach Punkt B verläuft, dann gibt es nun einmal zwei Standpunkte, von denen aus man die Handlung sehen kann.

4.
"πρό" drückt ja keine Richtungsangabe aus"; ich würde sagen, doch! Aus der Versenkung, aus dem Dunkeln hervor an das Tageslicht;
"vor die Stadt treten" ist verschieden je nachdem ob mit dem Gesicht oder mit dem Rücken zur Stadt; oder auch übertragen, wie "zum Schutz der Stadt"; mit den entsprechenden Präpositionen.

"πρὸς πόλιν", nach dem Gefühl gesagt, eher von größerer Distanz in Richtung der Stadt.

lgr. P. :)
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Re: Ein paar Fragen..

Beitragvon Ioscius » Do 12. Jun 2014, 20:03

Sokrates hat geschrieben:also wenn die Attiker das wirklich nicht so schreiben sollten, ist das in Zweifel zu ziehen. Aber wenn das diverse Grammatiken anführen, würde ich das zunächst so annehmen.
Umgekehrt kann man gegen pros dann auch nichts einwenden.
Der Grund für die Anklage steht im Genitiv, bei kata Komposita im Akkusativ und im Passiv dann im Nominativ.
Gen. criminis also, φόνου ist mehr Ergänzung denn Adverbiale, eben bei den "Gerichtsverben", muss also im präpositionslosen Genitiv stehen.
Die Crux in deinem Satz ist, dass du neben der Schuld auch die Strafe unterbringen willst, und das wird schwierig mit zwei Genitiven. Ich glaube, es findet sich in der Realität auch kaum eine Stelle, an der beides in einem Satz vorkommt. Wenn du es unbedingt wissen willst, dann scheint mir die Lösung mit der Präposition für die Strafe am besten, wegen Mordes muss unbedingt aber im bloßen Genitiv stehen (auch wenn es da auch wieder Ausnahmen gibt, aber als Faustregel ist das so.)
Problematischer wird es da mit einem Präpositionalgefüge oder gar einem Partizip, was φόνου substituieren soll, aber genau das nicht leisten kann, weil es syntaktisch nicht gleichwertig ist.
Ein kausale Adverbiale ist eine fakultative Umstandsangabe, das Verb verlangt aber weitaus mehr, nämlich eine (kausale) Ergänzung. Semantisch kongruent, nicht aber valenztheoretisch.
Verurteilen mit Genitiv: wessen= wofür, für welche Tat verurteile ich dich? wegen Mordes
Verurteilen mit adverbialem Partizip: warum tue ich das? weil du mich einst denunziert hast.
Der Genitiv muss stehen, der Part könnte stehen, gibt dann aber eben nicht den Inhalt bzw Gegenstand des Verurteilens, sondern die Hintergründe an.


So, wer weiß noch was zu sagen?
LG
Sokrates


Vgl. dazu:
ἀδικεῖ Σωκράτης οὓς μὲν ἡ πόλις νομίζει θεοὺς οὐ νομίζων, ἕτερα δὲ καινὰ δαιμόνια εἰσφέρων: ἀδικεῖ δὲ καὶ τοὺς νέους διαφθείρων. (Xenophon, Mem.) :D
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Re: Ein paar Fragen..

Beitragvon Sokrates » Fr 13. Jun 2014, 16:21

es heißt natürlich das Partizip, o Sokrates, wo warst du nur im Kopf…

und wo ist da der Zusammenhang zwischen meinem Kommentar und deinem Zitat? Das prädikative Partizip gibt natürlich den Gehalt der Verfehlung bzw das, was man falsch gemacht hat an, es ist eben die obligatorische Inhaltsergänzung. Das hat nichts mit dem gen. criminis zu tun.
Oder sollte das etwa eine Allusion auf meinen Namen sein?


LG
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