Lucr. 6, 1072

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Beitragvon RM » Mo 7. Mai 2007, 20:37

Salve Tiberis,

hier ging es um das (nicht richtig) sprudelnde Wasser, nicht darum, wie oft es bei Lukrez die Form aquai gibt ;-) Wenn jedoch die Positionslänge vor qu eine sinnvolle Lösung ist, sollte man sie mal überprüfen. Wie schon gesagt: Nicht umsonst hat sich im Italienischen ein c vor das q geschlichen. Derartige "Scheinpositionslängen" sind im Italienischen auch bei anderen Wörtern zu finden, wenn der Vokal vor dem Doppelkonsonanten zur betonten Silbe gehört und kurz ist (z.B. cucchiaio = coc[h]lear). Da sich solche Dinge meist früher entwickeln, als sie durch literarische Zeugnisse manifestiert werden, wäre es durchaus möglich, daß es bereits damals ein bißchen zu hören war.

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Beitragvon Apollodorus » Mi 9. Mai 2007, 20:38

Obwohl schon Wesentliches zu Lucr. 6,1072 gesagt ist, erlaube ich mir noch ein paar ergänzende Bemerkungen und eine kurze Besprechung ausgewählter Sekundärliteratur.

Hören wir Karl Lachmann in seinem Lukrezkommentar (Berlin 1850, 4. Aufl. 1882), zu v. 6,552 (auch mit Bezug auf 1072):
"[...] illud autem Bedae credendum non est, quod vocalem brevem, quae q et u et vocali qualibet exciperetur, veteres communem esse voluisse scribit: neque credibile est tam anticum poetam eo usum esse quod grammaticus Eichenfeldii p. 444 tanquam barbarum reicit, cum dicit ‚aqua, non acqua’. est igitur scribendum aqüae et aqüai. similiter Horatius, isque unus inter omnes, siluae tribus syllabis dixit, idemque e contrario larvam, quae Plauto et Priapei 33 poetae larua est, [...], item miluum antiquiores, milvum Persius Martialis Iuvenalis [...], et Plautus, nisi fallor, acuam aliquotiens, ut in Truculento II,7,13 'Nísi derivetúr tamen, omnis éa aqüa abeat ín mare', in Milite II,6,71 'Nam ex uno puteo similior numquam potis Aqua áqüae sumi, quam haec est atque ista hospita.' denique qui est a Cicerone in Tusculanarum I,10 positus de Tantalo versiculus, eum omnes auctores ita scriptum fuisse consentiunt, ‚Mento summam aqüam attingens, enectus siti.’ neque aliter Titinius apud Nonium p. 245,31 ‚Térra haec est, non aqüa, ubi es (hoc addidi) tu solitus argutarier Pedibus, cretam dum compercis (libri compescis), vestimenta qui laves (libri que laves).’"

(a) Zur Positionslängung (z.B. vertreten von Ernout, unschlüssig W.S. Allen, vgl. auch Soubiran [unten] und Bailey zu v. 552 ['weniger wahrscheinlich']):
Das m.W. erste Zeugnis, das eine Aussprache "acqua" klar belegt, ist die Appendix Probi [Entstehungszeit sehr unsicher, zwischen 2. und 7., am ehesten aber zwischen dem 4. und 6. Jh. anzusetzen]: Hier wurde "acqua" ob der Bemühungen des unbekannten Verfassers um Orthoepie getadelt. Durchaus könnte diese Aussprache bereits im 1. Jh. v. denkbar sein, (sichere) Belege wären freilich wünschenswert.
Der bereits erwähnte auffällige Gebrauch von liquidus scheint mir als (wenn auch eher schwaches) Indiz für Positionslängung dienen zu können (‚liquidus’ mit ‚aqua’ sinngemäß in Verbindung zu bringen, wie man vermuten könnte, wäre wohl dem Gras zugehört).
Kurz zur Statistik: Das i wird an folgenden Stellen positione gelängt:
I,349; II,452; III,427.
Dem stehen folgende Stellen mit kurzem i gegenüber:
I,373; II,146; III,40; IV,168, 546, 981,1241; V,212, 272, 281, 499ff. (3-mal), 1379; VI, 205, 230, 349, 405, 638, 966. (Zitate nach Martin, J., Leipzig 1957)
Bemerkenswert ist IV, 1257: "crassaque conveniant lĭquidis et līquida crassis.“
[Man denkt an vergleichbare Spiele mit der Quantität bei Verg. Aen. 2,663, Hor. carm. 1,32,11, Ov. met. 13,607.]
Zu Allen (s. Consus’ Zitat): Allen erwähnt den Grammatiker Audax (7,328f.K[eil]), der in Lucr. 6,868 das qu als 'Konsonantengruppe' sehen möchte. Ich denke, dass an der Stelle nicht aquae, sondern (mit Bailey und anderen) laticis zu lesen ist, das wäre ein typischer Fall für eine Glosse, die den Lesern ein seltenes/ungebräuchliches Wort näher bringen soll, aber im Laufe der Tradition in den eigentlichen Text ‚gerutscht’ ist. Andere (darunter auch Lachmann) ziehen die lectio "aquae" vor.
Zur Möglichkeit einer Positionslängung durch "qu":
Zirin, R., The phonological basis of Latin Prosody, Den Haag-Paris 1970, 29ff.

(b) Zur Diärese (vertreten z.B. von Lachmann, Ritschl, Bailey, Niedermann, Leumann, Munro, Giussani, Prinz):
Munro zu Lachmanns Parallele "siluae" bei Horaz: "[...] there is a difference there in quantity, and silüae more resembles the solüo dissolüo which so often in Lucr. alternate with solvo dissolvo."
Die von Lachmann herangezogenen Stellen sind näher anzusehen: Sie alle sind nämlich textkritisch nicht unproblematisch. Es ist hier nicht der Raum, diese Stellen im Einzelnen zu besprechen, das hat Ritschl im 2. Band seiner Opuscula philologica, 604ff. getan, wo es der Interessierte nachlesen möge. Sein Monitum, dass es "[...] misslich ist, abnormes, das nicht durch den Gebrauch der vollständig erhaltenen Dichter feststeht, in Fragmente einzuführen oder durch Fragmente zu beweisen", ist natürlich im Hinterkopf zu behalten.
Nur kurz zusammengefasst:
- für Cic. Tusc. 1,5,10 schlägt Ritschl in der Annahme einer Lücke vor: "Ménto summam aquám nitenti attíngens, enectús siti." Der Vorschlag scheint sich nicht durchgesetzt zu haben (s. die kommentierte Ausgabe von Dougan, Th. W., New York 1979: "Ménto summam aquám attingens énectus siti Tántalus").
- das Titiniusfragment liest er (im zweiten Vers gegen Lachmann): "Térra haec est, non áqua, ubi tute sólitu’s argutárier / Pedibus, cretam dúm compercis, véstimenta qui laves."
Trotz der vorgebrachten Kritik an Lachmanns Vergleichsstellen konstatiert Ritschl: "Bei Lucrez ist VI,552 und 1072 gegen aqüae und aqüai nichts einzuwenden."
Zumal Ritschl hier eigtl. von Plautus ausgeht, bespricht er auch die beiden von Lachmann genannten Stellen. Kurz zu der Miles-Stelle, die im Hinblick auf unseren Lukrezvers kommentiert wurde: Ritschl: "Zuvörderst aus Miles glor. 552 ist ein Beweis für aquae doch gewiss nicht zu entnehmen, da aus dem ATQUAM-AQUAE, was der Archetypus der Pfälzer Handschriften gehabt zu haben scheint, und dem AQUAAEQ des Ambrosianus aqua aquai nicht schwerer hervorgeht als die Endung ai überall wo sie die Bücher zu ae verwischt haben."
Der Vers ist in der Tat schwierig zu heilen.
Lindsay (Oxford 1905, Ndr. 2004) liest: "aqua aquai sumi quam haec est atque ista hospita."
Jean Soubiran, einer der erfahrensten Metriker (seine Theorien zur Synaloiphe und Elision waren epochemachend, s. L’élision dans la poésie latine, Paris 1966), hat vor wenigen Jahren eine metrische Untersuchung des gesamten Miles vorgelegt. Lindsays Lesung (die derjenigen Leos entspricht) "a le seul inconvénient de présenter un premier demi-pied dont la première brève est un mot important à sens plein." (Prosodie et métrique du Miles gloriosus de Plaute. Introduction et commentaire, Paris 1995). Lachmanns Lesung zieht Soubiran ebenfalls in Betracht, mit der Bemerkung: "mais un tribraque u + uu – au pied I est rare dans le sénaire de Plaute [...] – à moins de scander, chez Lucrèce et ici, āquae (sic Ernout, comm. ad Lucr. VI 552)."
Im Dictionnaire étymologique de la langue latine von Ernout und Meillet (4. Aufl. Paris 1959) findet sich s.v. aqua: "acqua blâmé par l’App. Probi; cf. Lucr. 6,552 et 1072, qui en fait un trisyllabe)."
Noch kurz zu dem Argument der mimesis: freilich schwer beweisbar (in der "Gedichtinterpretation" ist eben nicht alles beweisbar und gut so!), aber jedenfalls eine interessante Möglichkeit. Mir kommt dazu etwa Hor. epod. 16,48 "levis crepante lympha desilit pede" in den Sinn, wozu schon der spätantike Kommentator Porphyrio bemerkte: "sonus versus imitatur et velocitatem et strepitum aquae currentis." Zu diskutieren, ob dieser Gedanke dem Lukrez nun vorschwebte, bedeutete wohl, die Sache ad vivum resecare (ut ait Tullius noster; wenn es in Richtung 'sinnstützende Metrik' geht, sollte man jedenfalls vorsichtig werden).

Ich denke, die Auffassung als Positionslänge sollte man in der Tat berücksichtigen. Wie man sich aber anmaßen kann, die viersilbige Messung als "Unsinn" oder als Einfall eines für derartige Phänomene nicht empfänglichen Engländers abzuqualifizieren, eine Meinung, die nicht nur eine Größe wie Lachmann vertreten hat, sondern die auch in Bailey und (in jüngerer Zeit) in dem Autor des Artikels im Thesaurus linguae Latinae (Prinz: "aqua<i> quattuor syllabarum: Lucr. 6,1072.") Vertreter hat, ist mir schleierhaft. Hier ist über ein vorsichtiges Abwägen zweier Möglichkeiten und eine persönliche Tendenz (für mich ist es die Diärese) nicht hinauszugelangen, nicht jedenfalls zu einer apodiktischen Aussage. Den treffenden Schluss hat Consus längst mit den Worten Bert Brechts gesetzt.
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Beitragvon consus » Do 10. Mai 2007, 12:19

Salve, Apollodore! Salvete, amici!
Ut repentino summi montis aspectu homines, qui planitiem incolunt, vehementer obstupescunt, ita verba tua, optime Apollodore, tam erudite elaborata, ut doctrina omnibus, qui haec fora frequentant, praestare videaris, summam nobis admirationem movent. Maximas ergo tibi gratias ago, quod tantum operae in illam controversiam sedandam contulisti.
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Beitragvon Latein-Fan » Fr 11. Mai 2007, 13:47

Wahre Worte!


Allerdings bekomme ich ein schlechtes Gewissen in zweierlei Hinsicht:

a) es nicht zu können (und nicht zu wissen, wie das zu bewerkstelligen ist - Informationsbeschaffung, know-how, etc.) - mal abgesehen davon, das Problem als solches überhaupt zu erkennen! :)
b) dies für einen erfolgreichen Studienabschluss (auch für's LA) unbedingte Voraussetzung ist (an Weiteres denke ich gar nicht...)


es grüßt,
ein "eingeschüchteter" Latein-Fan
Multo maxumum bonum patriae, civibus, tibi, liberis, postremo humanae genti pepereris, si studium pecuniae aut sustuleris aut, quoad res feret, minueris. (Sallust in seinem 2. Brief)
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Beitragvon barbara » Fr 11. Mai 2007, 17:38

*g* tröste dich, ich verstehe seine beiträge oft nicht einmal (was allerdings auch daran liegen mag, dass ich oft schon von der ausgangsthematik keine ahnung habe...:huh:) und bin meist schon nach den ersten fünf zeilen vollkommen überfordert....
:sad:

aber ich schließe mich consus' aussage vollkommen an!
du brillierst immer wieder mit hervorragenden erläuterungen, die außnahmsolos jedes mal perfekt belegt sind und meist die endgültige lösung für diverse probleme und diskussionen darstellen!
alle achtung auch von meiner seite!

optime valete!
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