Lucr. 6, 1072

Das Forum für professionelle Latinisten und Studenten der Lateinischen Philologie

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Lucr. 6, 1072

Beitragvon consus » Sa 5. Mai 2007, 13:35

Servus, RM!
Bei Lucr. 6, 1072 (und 6, 552) an it. acqua wegen mögl. Positionslänge zu denken, ist interessant. Der große Lukrez-Kommentator C. Bailey (Oxford 1950) sieht jedenfalls in aquai eine Diärese.
Was sagen wir dann zu Lucr. 1, 60: "appellare suemus et haec eadem usurpare"? Diärese "s-ŭ-ē-mus"? Oder sollte man auch hier durch die Aussprache "swemus" das kurze End-e von appellare als Positionslänge ansehen?
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Re: Lucr. 6, 1072

Beitragvon Stentor » Sa 5. Mai 2007, 16:51

consus hat geschrieben:Servus, RM!
Bei Lucr. 6, 1072 (und 6, 552) an it. acqua wegen mögl. Positionslänge zu denken, ist interessant. Der große Lukrez-Kommentator C. Bailey (Oxford 1950) sieht jedenfalls in aquai eine Diärese.
Was sagen wir dann zu Lucr. 1, 60: "appellare suemus et haec eadem usurpare"? Diärese "s-ŭ-ē-mus"? Oder sollte man auch hier durch die Aussprache "swemus" das kurze End-e von appellare als Positionslänge ansehen?

Die Positionslänge des auslautenden -e scheint mir nicht plausibel, da das -e ja nach wie vor nicht in einer geschlossenen Silbe stünde, was doch idR Voraussetzung für Positionslängung ist.
Nos patriam fugimus: tu, Tityre, lentus in umbra
formosam resonare doces Amaryllida silvas.
Benutzeravatar
Stentor
Quaestor
 
Beiträge: 68
Registriert: Mo 23. Okt 2006, 22:22
Wohnort: Wien

Beitragvon consus » Sa 5. Mai 2007, 17:32

Salve, Stentor!
da das -e ja nach wie vor nicht in einer geschlossenen Silbe stünde, was doch idR Voraussetzung für Positionslängung ist.

Eben: „in der Regel“! Aber z. B. Catull 29, 4: „ultimā Britannia“ (nom.sg., allerdings in der metrischen Hebung, sogar vor mut. c. liq.).
Grundsätzlich ist es ohne Belang, ob die Konsonanten, welche die Positionslänge bewirken, zur selben Silbe gehören oder nur zum Teil oder ganz, was in der Tat selten ist, am Anfang des folgenden Wortes stehen. Auf Detailfragen sei hier jetzt nicht eingegangen. Im Lukrezvers 1, 60 kommt für mich eine Positionslänge des e am Ende von appellare nicht in Frage, daher ist in s-u-emus (mit C. Bailey) eine Diärese zu sehen.
Sit tibi semper bene!
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Beitragvon RM » Sa 5. Mai 2007, 17:45

Salvete!

Es ehrt mich natürlich, Bailey einmal verbessern zu dürfen ... :D
Als Engländer hatte er wahrscheinlich kein besonders ausgebildetes Ohr für solche Phänomene - allerdings halte ich es für noch verwegener zu postulieren, daß das qu eine eigene Silbe bildet.

Was suemus betrifft, verstehe ich das Problem nicht ganz. Warum sollen das nicht einfach zwei Kürzen sein, also "s-ŭ-ē-mus"?

8) RM
RM
Augustus
 
Beiträge: 4522
Registriert: So 22. Sep 2002, 22:08
Wohnort: Bayern

Beitragvon romane » Sa 5. Mai 2007, 18:25

Code: Alles auswählen
appellare suemus et haec eadem_usurpare
-  =  - v  v- v  v    -  vv   -   = - x


aus meinen alten Uni-Unterlagen :?
Die Freiheit ist ein seltsames Wesen - wenn man es gefangen hat, ist es verschwunden

www.mbradtke.de
Benutzeravatar
romane
Pater patriae
 
Beiträge: 11669
Registriert: Fr 31. Mai 2002, 10:33
Wohnort: Niedersachsen

Beitragvon consus » Sa 5. Mai 2007, 19:42

Salvete, amici!
Lese Lucr. 1, 1072 so wie romane.
Zu „s-ŭ-ēmus“: normalerweise „svemus“ gelesen, bei Lukrez hier „auseinandergenommen“ (Diärese). Ich folge hier Niedermann, Hist. Lautlehre des Lateinischen, 3. Aufl. Heidelberg 1953, S. 96. Dort zitiert er den Lukrezvers 4, 1157, in dem s-ŭ-ā-dent statt des üblichen svādent gemessen wird. Ähnlich zu lesen lingua / lingva, Suebi / Svebi (vgl. Rubenbauer-Hofmann, Lat. Gram. § 1).
Zum Schluss noch etwas zu qu: Nach Niedermann (a.a.O.) war qu „nicht etwa eine Verbindung des stimmlosen velaren Verschlusslautes q mit dem Halbvokal v“, deshalb habe es auch nicht Positionslänge bewirkt (cf. Vergil, Aen. 1, 5: „multa quŏqu(e) et bello ..“). Somit sei auch in Lucr. 1, 1072 aquai viersilbig zu lesen.
Quam felicissimum vobis exopto diem Solis.
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Beitragvon RM » So 6. Mai 2007, 01:13

consus hat geschrieben:... Somit sei auch in Lucr. 1, 1072 aquai viersilbig zu lesen.
Das ist natürlich Unsinn! Ein Römer hätte an dieser Stelle aus aquai beim Lesen sicher keine vier Silben gemacht. Ich glaube, daß das eigentliche Problem an dieser Stelle eher psychologischer Natur ist. Man versuchte damals (einige versuchen es immer noch), das Lateinische in ein Korsett starrer Normen zu pressen. Im Bereich der Dichtung stellt man dazu implizit zwei Postulate in den Raum, die an sich nicht beweisbar sind, nämlich:
1) Es existieren normative Regeln für lateinische Versmaße
2) Vergil, Lukrez etc. haben diese Gesetzmäßigkeiten immer befolgt.
Der Haken an der Sache ist, daß die normativen Regeln aus den Dichtungen abgeleitet wurden und somit keine universelle Gültigkeit aufweisen sondern nur für das herangezogene Material gelten. Mir kommt das ein wenig vor, wie die Bestrebungen innerhalb der Physik am Ende des 19. Jahrhunderts, als einige Leute der Meinung waren, man hätte einen vollständigen Satz von Naturgesetzen gefunden, mit Hilfe derer man alles erklären und berechnen konnte. Dieser Ansatz wurde in der Physik nach der Entwicklung der Quantentheorie zum Glück ad acta gelegt.

8) RM
RM
Augustus
 
Beiträge: 4522
Registriert: So 22. Sep 2002, 22:08
Wohnort: Bayern

Beitragvon consus » So 6. Mai 2007, 11:24

Salve, RM, vir rerum metricarum peritissime!
Weniger apodiktisch klingende Worte benutzend, räume ich ein, dass die metrische Deutung des aquai (bei Niedermann, a.a.O., acuai geschrieben) strittig ist; denn anders als Niedermann und Bailey schreibt W. Sidney Allen: „In Lucretius, for example, some occurrences of the forms ăquae and ăquai are probably to be read with heavy first syllable; this is certainly true of lĭquidus in some cases“ (Vox Latina, A Guide to the Pronunciation of Classical Latin, 2nd ed., Cambridge 1978, S. 18; Hervorhebung von mir; zu lĭquidus: Lucr. 1, 349; 3, 427; 4, 1259). Wir sind uns vermutlich einig in der Feststellung, dass zu der Zeit, als Lukrez schrieb, noch viele Unsicherheiten in Bezug auf Silbenquantitäten vorhanden waren. Trotz allem werde ich die Phalanx jenes aquai viersilbig lesender Philologen nicht verlassen und ein weiteres Argument für diese Messung nachliefern: Wenn nach einem grundlegenden antiken Gesetz Wörter Abbilder der Dinge sein sollen (μίμησις-Lehre), dann muss m. E. der Vers Lucr. 6, 1072 wie folgt gelesen werden:
vitigeni latices acuai fontibus audent
- u u / - u u / - u u / - - / - u u / - -

Eine andere Messung von aquai widerspräche dem lebendig sprudelnden Charakter des Quellwassers. Utcumque autem se habet res: „Und wieder sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen."
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Beitragvon romane » So 6. Mai 2007, 11:26

mein PC macht daraus:

vítigenílaticésacuáifóntibusaúdent
-uu | -uu | -uu | - - | -uu | -u/- |

Glückwunsch an meinen PC :-D
Die Freiheit ist ein seltsames Wesen - wenn man es gefangen hat, ist es verschwunden

www.mbradtke.de
Benutzeravatar
romane
Pater patriae
 
Beiträge: 11669
Registriert: Fr 31. Mai 2002, 10:33
Wohnort: Niedersachsen

Beitragvon Latein-Fan » So 6. Mai 2007, 11:30

Wie kann dein PC solch metrische Analysen erstellen? :?
Multo maxumum bonum patriae, civibus, tibi, liberis, postremo humanae genti pepereris, si studium pecuniae aut sustuleris aut, quoad res feret, minueris. (Sallust in seinem 2. Brief)
Benutzeravatar
Latein-Fan
e-latein Team
 
Beiträge: 708
Registriert: Mi 6. Nov 2002, 16:35
Wohnort:

Beitragvon romane » So 6. Mai 2007, 11:36

per Programm natürlich
z.B.
Vokale zählen - Doppelvokale analysieren (ae = Diphtong / ai = kein D...)
= Anzahl der Silben
Nur Spondeen = 12 Silben / alles Daktylus = 17 Silben
in diesem Spektrum muss alles möglich sein, wobei das 5. Metrum zunächst als Dakt. angenommen wird (13 Silben)
mögl. Elis. suchen und probieren...

Stimmt meistens, bzw. es kommen mehrere mögl. Lösungen heraus.
Die Freiheit ist ein seltsames Wesen - wenn man es gefangen hat, ist es verschwunden

www.mbradtke.de
Benutzeravatar
romane
Pater patriae
 
Beiträge: 11669
Registriert: Fr 31. Mai 2002, 10:33
Wohnort: Niedersachsen

Beitragvon romane » So 6. Mai 2007, 11:38

Zum Eingangsvers (1. Beitrag)

áppelláresuémusethaéceadúsurpáre
- - | -uu | -uu | -uu | - - | -u/- |

zweite Möglichkeit:
áppellarésuémusethaéceádusurpáre
-uu | - - | -uu | - - | -uu | -u/- |

dritte Möglichkeit:
áppellarésuemúsethaéceádusurpáre
-uu | -uu | - - | - - | -uu | -u/- |
Die Freiheit ist ein seltsames Wesen - wenn man es gefangen hat, ist es verschwunden

www.mbradtke.de
Benutzeravatar
romane
Pater patriae
 
Beiträge: 11669
Registriert: Fr 31. Mai 2002, 10:33
Wohnort: Niedersachsen

Beitragvon RM » So 6. Mai 2007, 15:44

consus hat geschrieben:Wenn nach einem grundlegenden antiken Gesetz Wörter Abbilder der Dinge sein sollen (μίμησις-Lehre), dann muss m. E. der Vers Lucr. 6, 1072 wie folgt gelesen werden:
vitigeni latices acuai fontibus audent
- u u / - u u / - u u / - - / - u u / - -

Eine andere Messung von aquai widerspräche dem lebendig sprudelnden Charakter des Quellwassers. Utcumque autem se habet res: „Und wieder sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen."

Nein, dagegen sprechen schon die ungewöhnlichen zwei Längen am Ende von aquai - alleine dadurch wird das stete Sprudeln bereits durchbrochen. Warum also nicht fünf Längen hintereinander, um die Doppelnatur des Wassers zu gegenwärtigen - einmal sprudelnd, dann wieder als stille Fläche ... :-D

8) RM
RM
Augustus
 
Beiträge: 4522
Registriert: So 22. Sep 2002, 22:08
Wohnort: Bayern

Beitragvon consus » So 6. Mai 2007, 16:07

Salve iterum, RM!
Lassen wir die Sache auf sich beruhen, ne ‚nimium altercando veritas amittatur’, und uns nicht weiter in philologische Grabenkämpfe verwickeln! Wenn es nach mir geht, soll, wie ich schon schrieb, der große Sohn Augsburgs wirklich das letzte Wort haben: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/ Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Beitragvon Tiberis » So 6. Mai 2007, 20:57

Nein, dagegen sprechen schon die ungewöhnlichen zwei Längen am Ende von aquai - alleine dadurch wird das stete Sprudeln bereits durchbrochen.

naja, so ungewöhnlich sind diese längen nicht. aquai kommt bei Lukrez mehrmals vor (neben formen wie materiai, animai etc), nie jedoch m.w.mit positionslänge vor dem qu.
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11876
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Nächste

Zurück zu Lateinische Philologie



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 19 Gäste