Horaz und Kallimachos

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Horaz und Kallimachos

Beitragvon madeia perimadeia » Do 5. Jun 2008, 10:02

Salvete!

Könnte mir jemand sagen, ob Horaz teilweise dem Kunstideal des Kallimachos folgt, oder ob das nur auf die Neoteriker zutrifft?

Ich habe nämlich einmal gelesen, dass das der Fall ist, finde allerdings keine direkte Bestätigung im Internet. Vor allem in Zusammenhang mit den Sermones. Kann man in diesem Zusammenhang vielleicht das Wörtchen "nugae" (Satire I/9) hier als ein Hinweis auf dieses Kunstideal sehen? Horaz denkt an "Verslein" statt an ein großes dicherisches Werk?
Das würde mich wirklich mal interessieren!

Vielen Dank im Voraus!
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Beitragvon consus » Do 5. Jun 2008, 12:28

Servus.
Es gibt auch Bücher!
U.a. Walter Wimmel, Kallimachos in Rom, Wiesbaden 1960 (Hermes: Einzelschriften; 16); ders., Zur Form der horazischen Diatribensatire, Ffm 1962.
Vollkommenheit in Aussage, Wortwahl, Metrik u.dgl. war wesentliches Merkmal hellenistischer Dichtkunst, wie sie sich bei Kallimachos zeigt. Diesem Ideal war auch Horaz verpflichtet. In diesem Sinne schreibt er in sat. 1, 10, 67-71, dass der Satiriker Lucilius (gest. 102 v. Chr.), wäre er nur in ein anderes, d. h. Horazens Zeitalter geraten, doch manches an seinen Werken, um größere Perfektion zu erreichen, abgefeilt (deterere) und abgeschnitten (recidere) hätte:
Sed ille, / si foret hoc nostrum fato dilatus in aevum, / detereret sibi multa, recideret omne, quod ultra / perfectum traheretur, et in versu faciendo / saepe caput scaberet, vivos et roderet unguis.

:book:
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Beitragvon Princeps » Do 5. Jun 2008, 17:54

Wenn man sich nicht durch die umfassende Materialsammlung und die nicht immer leicht verständlichen Darlegungen WIMMELs durchkämpfen möchte - vieles handelt von der Weigerung, ein Epos zu schreiben (recusatio) -, mag man in Ergänzung zu Consus' Hinweis zurückgreifen auf:
E.R. SCHWINGE, Zur Kunsttheorie des Horaz, Philologus 107, 1963, 75-96.
U.W. SCHOLZ, Der frühe Lucilius und Horaz, Hermes 114, 1986, 335-365.
C.J. CLASSEN, Die Kritik des Horaz an Lucilius in den Satiren 1,4 und 1,5, Hermes 109, 1981, 339-360.
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Beitragvon madeia perimadeia » Do 5. Jun 2008, 19:21

Vielen Dank für die detaillierten Antworten!! :)

Kann man dann folglich in der Satire I 9 "nugae" als Anspielung an dieses Kunstideal deuten? Manche Autoren übersetzen dieses Wörtchen nämlich mit "Verslein" (ich glaube, es war die Tusculum-Ausgabe)


Vielleicht kann ich gleich noch eine Frage einflechten: 8)
Ich habe einmal in einem Abitrainer gelesen, dass Tacitus den griechischen Historiker Thukydides als Vorbild nahm. Mein Lateinlehrer hat das allerdings verneint und gemeint, dass das nur auf Sallust zutreffen würde. Ich persönlich finde aber auch, dass Tacitus Ähnlichkeiten mit Thukydides hat ( fiktive Reden der historischen Figuren, z.B.). Was stimmt denn nun? :?

lg
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Beitragvon Princeps » Do 5. Jun 2008, 20:13

Nach Catull ist in der Dichtung, insbesondere bei den Augusteeern, fast alles, was die Kleinheit gegenüber Größe (Büchlein / viele Bücher, kleines Werk / großes Werk, kleiner Mund / großer Mund des Dichters etc.) herausstellt (s. WIMMEL), in der Nachfolge des Kallimachos eine Absage an die literarische Großform mit all ihrer Schlampigkeit, die man ihr pauschal unterstellt. Dabei finden die Schriftsteller (meist Dichter) vor der Zeit Catulls dennoch Anerkennung ihres ingenium, mögen sie auch verstechnisch miserabel gearbeitet haben. Selbst Cicero macht als Dichter in verstechnischer Hinsicht große Fortschritte verglichen mit den Dichtern der archaischen Epoche, im Epos Livius Andronicus, Naevius, Ennius. Ovid bringt es später auf den Punkt: Ennius ingenio maximus, arte rudis - ein Urteil, das aus Sicht der Augusteer auf alle ihre latein. Vorläufer übertragbar ist. Der Neoterikerkreis um Catull in der Nachfolge kallimacheischer Kunstprinzipien bildet die eine Seite, die andere ist die Weigerung der Augusteer ein Epos zu Ehren des Augustus zu schreiben - mit Berufung auf Kallimachos (Traum). Man kann nicht, ist zu schwach, das Werk zu groß etc. Einzige Ausnahme bleibt - unvollendet - die Aeneis als Kompromisslösung eines mythistorischen Epos (s. R. Häußler, Das histor. Epos d. Griech. u. Röm., Studien z. histor. Epos d. Ant., I: Von Homer zu Vergil, Heidelberg 1976 - bei der Lektüre nicht verzweifeln: nach einem Jahrzehnt Arbeit an der Habilítationsschrift redet der Verf. von einem Torso!).
Zu Tacitus: "Für Tacitus sind die Gattungsgesetze der Historiographie vor allem durch die Vorgänger Sallust und Livius geprägt. Den ersteren ahmt er vielfach nach ... und auch auf Livius nimmt er des öfteren Bezug, nicht ohne ihn um seinen bedeutenden republikanischen Stoff zu beneiden" (M. von Albrecht, Gesch. d. röm. Lit. II, 880).
Einfluss dichterischer Sprache: Augusteer, bes. Vergil (vgl. schon den Einfluss auf Livius).
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Beitragvon madeia perimadeia » Do 5. Jun 2008, 20:38

Wow! Vielen Dank für diese Mühe, die ihr euch macht!! :-D

Ich verstehe nun 8) : wenn also Horaz z.B. in Carmen IV/15 eine "Absage" an die Lyra erteilt (V.2) und stattdessen am Ende des Carmen von den lydischen Flöten spricht ("Lydis remixto carmine tibiis" V.30) dann kann man das als eine Abkehr von dem früheren "Mega biblion" deuten: denn die großen Epen wurden ja von der Lyra begleitet und er sricht jetzt von dem kleinen carmen, das von den Flöten begleitet wird. Oder irre ich mich?

Noch eine Frage: Princeps, ist also sogar Vergil ein Anhänger des Kallimachos, obwohl er ein so umfangreiches Epos geschrieben hat?

Zu Tacitus:

Also wäre es somit zu "schwammig", wenn man sagen würde, dass Thukydides das Vorbild für Tacitus sei? Könnte man nicht sagen, dass es hier "über einen Umweg" der Fall sei, nämlich über Sallust, der sich ja an Thukydides orientiert?

lg
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Beitragvon Princeps » Do 5. Jun 2008, 21:06

Natürlich ist Vergil von den kallimacheischen Kunstprinzipien genauso geprägt wie ein Horaz, Catull, Properz oder Tibull. Das ist genau genommen schon ein Lukrez mit seinem Lehrgedicht (siehe Alexandriner/ Hellenisten). Nur Lukrez bedient sich noch stärker der älteren Dichtersprache, bes. Ennius (beim Hexameter unumgänglich). Für Vergil ein Beipiel, 10. Ekloge: Extremum hunc, Arethusa, mihi concede laborem, pauca meo Gallo ... Als letzte Mühe / Arbeit, Arethusa, gewähre mir dies, wenig für meinen Gallus ...
Dichtung - auch / gerade zu Ehren eines Freundes (Dichter Gallus - Vorbild für Ovid u.a.) ist Arbeit, man unterzieht sich der Mühe des Feilens, dem horazischen limae labor; die Eklogen in ihrer Kleinform sowie die Georgica als Lehrgedicht (Kleines Epos, nicht Epyllion Catulls) in der Nachfolge Hesiods (Patron der Kallimacheer in Absetzung von Homer: unerreichbare Spitze >>> also neue Wege gehen zur Kleinform) sind noch stark in der Nachfolge des Kallimachos, künstlerisch gesehen, aber Vergil lässt (in der Forschung manchmal umstritten) schon an der einen oder anderen Stelle durchblicken, dass sein Ziel höher geht: das Epos, das große Werk, das kallimacheischen Anforderungen genügt. Darum schreibt Vergil nur wenig und überarbeitet seine Verse ständig. Er entwirft einen detaillierten Aeneisplan, bevor er sich ans Werk macht. Er wird der römische Homer, er schafft die Großform mit ausgearbeiteten Details, mit Beachtung der künstlerischen Ansprüche. Es wäre leichter gewesen, die Taten des Augustus einfach zu verherrlichen, aber er erweist ihm nur in der Vorausschau die Ehre (eine Handvoll Verse). Die Instanz Kallimachos ist in Rom nicht mehr wegzudenken, aber man findet dennoch den Weg zu römischer Darstellung und das ist zu einem nicht geringen Teil politische Dichtung, so Horaz (Staatsschiff, carmen saeculare), so Properz (bes. 4. Buch), so Vergil. Tibull ist eher Kallimacheer mit ländlicher Sehnsucht (Berührungen mit den Eklogen), Ovid ist einfach später und Kind einer anderen Zeit, aber auch die Metamorphosen sind eine Rückkehr zur Großform mit Ausblick auf Augustus.

Tacitus: Wer sich an Sallust anlehnt - beachte aber das annalistische Prinzip in den Großschriften - hat natürlich in der Gattung Historiographie die eine oder andere Affinität zu Thukydides, ohne dass man dies überstrapazieren sollte. Vor allem - viele Quellen / Vorgänger des Tacitus kennen wir fast nur namentlich, da die Überlieferung nicht mitgespielt hat. Wie sehr ist er ihrem Stil / ihrer schriftstellerischen Art verpflichtet?

Man sehe mir die Länge nach!

Gruß Princeps
Zuletzt geändert von Princeps am Do 5. Jun 2008, 21:20, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon madeia perimadeia » Do 5. Jun 2008, 22:44

Wow!
Ich wußte nicht, dass tatsächlich so eine breite Palette von Dichtern und Schriftstellern dem Kunstideal des Kallimachos folgt. Meist fällt doch der Name im Zusammenhang mit den Neoterikern.
Aber dass das auch auf Vergil zutrifft, finde ich sehr interessant. Leider ist er bei mir im Unterricht kaum behandelt worden, daher war mir das gar nicht bekannt. Aber ich danke dir für deine Ausführungen! :)

Folgt eigentlich dann auch jeder Schriftsteller, der dem Ideal des "poeta doctus" folgt, auch dem Kallimachischen Kunstideal? Die hängen doch direkt zusammen, oder?

Leider haben wir in der Schule sehr wenig Dichtung durchgenommen. :oops:
Von der Aeneis wurden bei uns auch nur die einschlägigen Stellen durchgenommen (Imperium sine fine dedi...). eigentlich schade.. :sad:
Entschuldigt mein Unwissen.
lg
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Beitragvon Princeps » Fr 6. Jun 2008, 00:43

Ich sehe keinen Grund, warum du dich für dein 'Unwissen' entschuldigen solltest. Die Details gehen hinaus über das Maß, das Schule vermitteln soll / kann / will.
Der Begriff des poeta doctus ist bei den Alexandrinern Kallimachos und Apollonios Rhodios (Argonauten-Epos!) von besonderer Bedeutung, weil beide Dichter als Gelehrte an die große Bibliothek von Alexandria berufen wurden. Kallimachos selbst soll ungemein fleißig geschrieben haben, die Leitung der Bibliothek hatte er aber wohl nicht inne, dafür sein Schüler Apollonios Rhodios.
Römische Dichter genossen zwar auch eine vorzügliche Ausbildung, griffen aber vielfach auf 'Handbücher' zurück: Vergil war Schüler des griech. Dichters Parthenios, der für seinen Gönner, den Dichter Cornelius Gallus, Geschichten von Liebesleid zusammenstellte, die er in Form von Prosa-Auszügen als Rohstoff für elegische Dichtungen aus älteren Quellen exzerpiert hatte. Parthenios Einfluss dürfte recht groß gewesen sein.
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