Declamatio- Verständnisprobleme

Das Forum für professionelle Latinisten und Studenten der Lateinischen Philologie

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Declamatio- Verständnisprobleme

Beitragvon Didymos » Do 12. Jun 2008, 17:54

Saluete,

ich muß mich an der ersten Declamatio des Calpurnius Flaccus versuchen und habe leider Probleme beim Textverständnis. Hier einmal der (kurze !!) Text :

<<Quinque cum tyranno proximae familiae puniantur. Quae habebat duos filios et tyrannum virum, tyrannicidium fecit. praemio impunitatem liberis postulavit; meruit. ex his alter occupavit arcem. et eum mater occidit. petit alteri impunitatem; contradicitur.
"Occidam", inquit. quanta nobis ante patienda sunt, dum occidere tyrannum femina possit et mater velit! "non possum mortem filii mei videre." hoc est ergo, quare illum velimus occidere.
Pars altera
Petit praemium, non quod accipiat, sed quod accepit.>>

Der knappe Stil verdunkelt für mich oft, wer oder was gemeint ist

Ich versuche eine Übersetzung : Mit einem Tyrannen sollen fünf Familienangehörige bestraft werden (??? ). Eine Frau, die zwei Söhne hatte und einen Tyrannen als Mann, beging Tyrannenmord. Um einen Lohn forderte sie Straflosigkeit für ihre Kinder; sie erreichte es. Von diesen besetzte einer die Burg. Auch ihn tötete die Mutter. Sie forderte Straflosigkeit für den Zweiten; Widerspruch erhebt sich.
" Ich werde ihn töten", sagt sie. Wie viel müssen wir erdulden, bis eine Frau einen Tyrannen töten kann und eine Mutter will! "Ich kann den Tod meines Sohnes nicht sehen ". Das ist es also, weswegen wir ihn töten wollen. (wer ist wir ??)
Andere Seite
Sie fordert einen Lohn, nicht einen, den sie erhalten kann, sondern einen, den sie erhalten hat ( ?? ).


PROBLEM :
Der Inhalt des Textes erschließt sich mir nicht... Ich glaube daß arcem occupavit die Machtergreifung bedeutet. Viel mehr kann ich nicht erklären : Warum sollten die Söhne eine Strafe erhalten wenn ihre Mutter ihren Ehegatten tötet? wie kann der Tyrann bestraft werden wenn er von der Frau schon ermordet wurde ? Und auf welches " praemium " wird im letzten Satz angespielt ? Die Frau behauptet zwar, daß sie den Tod ihres Sohnes nicht sehen kann, hat zuvor aber den anderen selbst getötet...:?
Ich stehe sicher sehr auf der Leitung, aber ich verstehe das nicht...:oops:
Ich bitte Euch um einen oder zwei klärende Sätze zum Inhalt dieser Declamatio...

Weil ich vor allem eine Erklärung, keine Übersetzung brauche ( wenn Ihr aber an meiner Übersetzung etwas zu verbessern habt, bin ich Euch trotzdem sehr dankbar ;)), habe ich das in das Lateinforum geschrieben, ich hoffe das ist richtig...

Grüße,
Didymos
Didymos
Consul
 
Beiträge: 266
Registriert: Do 27. Dez 2007, 12:23

Beitragvon consus » Fr 13. Jun 2008, 11:00

Salve, Didyme.
Hast du Zugang zu
Sussman, Lewis A.: The Declamations of Calpurnius Flaccus, text, translation, and commentary, Leiden 1994; Mnemosyne: Supplementum; 133 ?
In "meiner" UB steht dieses opus, komme allerdings erst nächste Woche daran. Ferner: Unterschiedliche Lesarten, z. B. proximae / proximi.
Sit tibi bene!
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Beitragvon consus » Fr 13. Jun 2008, 17:54

Salve, Didyme.

Vorbehaltlich weiterer Überlegungen jetzt nur so viel in Form einer freien, etwas ausführlicheren Wiedergabe der causa, wie ich sie sehe. Die Sache ist sehr reizvoll..., deshalb mehr als zwei Sätze.

Uxor tyrannicida] Überschrift nennt die Hauptperson, eine Ehefrau, die ihren Ehemann, einen Tyrannen, tötete.

Es wird zunächst eine Strafrechtsnorm genannt: Mitsamt einem Tyrannen sollen fünf engste Familienangehörige bestraft werden. (Der Gesetzgeber bezweckte damit wohl die Ausschaltung von Nachahmungstätern aus dem engsten Familienkreis.)

Im Lichte dieser Norm ist der folgende Sachverhalt zu sehen.
Eine Ehefrau, Mutter von zwei Söhnen, hat selbst die Initiative ergriffen und einen Tyrannen, ihren Ehemann, getötet, ihn also gleichsam mit dem Tode bestraft. Gemäß der Strafrechtsbestimmung müssten jetzt weitere Personen aus dem engsten Familienkreis in gleicher Weise bestraft werden. Nun sieht die Frau eine Möglichkeit, wenigstens ihre beiden Söhne zu retten, indem sie als Lohn für ihre Tat deren Straflosigkeit fordert. Ihrem Antrag wird seitens der Strafverfolgungsinstanz entsprochen.

Da passiert aber Folgendes: Einer der Söhne nimmt die Burg in Besitz, d.h. er tritt selbst als Tyrann in die Fußstapfen seines Vaters. Wiederum wird die Frau als tyrannicida tätig, diesmal gegenüber diesem Sohn, und wieder kommt sie auf den Gedanken, als Lohn Straffreiheit, jetzt für ihren verbliebenen Sohn, zu verlangen. Denn auch nach diesem zweiten Tyrannenmord hätte man nach der eingangs erwähnten gesetzlichen Bestimmung vorgehen müssen.

Doch wird diesmal ihrem Antrag seitens der Strafverfolger widersprochen, und zwar mit folgender Begründung:
Ist nicht auch bei diesem zweiten Sohn damit zu rechnen, dass er ein Tyrann wird? Die Mutter sagt zwar „Ich werde ihn, wenn dies der Fall sein sollte, wie den Vater und den ersten Sohn töten“; aber was alles müssen wir von einem Tyrannen erleiden, bevor eine Frau (!) und eine Mutter (!) es wirklich übers Herz bringt, einen Tyrannen, der ja zugleich ihr Sohn ist, zu töten? Das kann uns doch nicht zugemutet werden. Der zweite Sohn muss also gemäß der Norm als einer der engsten Familienangehörigen mit dem Tode bestraft werden. Wenn die Frau sagt „Ich kann den Tod meines Sohnes nicht ansehen“, dann ist das ein weiteres Argument dafür, dass wir, die Strafverfolger, es als unsere Aufgabe betrachten müssen, ihn zu töten.

Die Gegenseite (vgl. audiatur et altera pars), vermutlich der Prozessbevollmächtigte der Frau, argumentiert wie folgt:
Die Frau verlangt ja gar nicht eine Belohnung, die sie bekommen könnte, sondern eine, die sie ja schon erhalten hat, die ihr also zusteht, nämlich die Straffreiheit für die beiden Söhne, die immerhin noch für den zweiten Sohn wirksam sei.

So in etwa denke ich mir den Fall.
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Beitragvon Didymos » Di 17. Jun 2008, 23:52

(Etwas verspätet ) vielen Dank für diese ausführliche und hilfreiche Erklärung! :smile:

Grüße,
Didymos
Didymos
Consul
 
Beiträge: 266
Registriert: Do 27. Dez 2007, 12:23


Zurück zu Lateinische Philologie



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 10 Gäste