Übertrieben es die Humanisten?

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Übertrieben es die Humanisten?

Beitragvon Laptop » So 26. Okt 2008, 03:15

Zur Disputation freigegeben:

Die pedantischen Versuche der Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, die weitschweifige Pomphaftigkeit eines Ciceros an Stelle des vereinfachten Lateins der Klöster wieder aufleben zu lassen, beschleunigten nur seinen Untergang. Indem diese Humanisten Latein wiederbeleben wollten, halfen sie, es vollends verstummen zu machen.
(Frederick Bodmer, Die Sprachen der Welt)
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Beitragvon Domingo » So 26. Okt 2008, 03:52

Nur dass Latein noch ein paar Jahrhunderte "überlebte"...
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Beitragvon Laptop » So 26. Okt 2008, 06:28

Übertrieben es die Humanisten in ihrem Eifer, das Latein auf literarisches Latein zu reduzieren, und somit der Sprache ein Korsett anzulegen, sie einzuengen und abzugrenzen vom Umgangslatein und Kirchenlatein?
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Beitragvon Merkur » So 26. Okt 2008, 10:20

Hierzu eine kleine Anekdote:
Petrarca soll sich einmal um einen Schreiberlingsposten beim papa beworben haben, ist da aber seines unverständlichen und eigenartigen Stiles wegen nicht genommen worden.

Das damals unter Gebildeten gebrauchte "Latein" unterschied sich damals also beträchtlich vom ciceronianischen Ideal.
Was damals produziert wurde, war wohl eher dergestalt, wie wir es heute aus der Saravipontaner Schule kennen: eine im Prinzip wenig lateinische Volkssprache, gekleidet in lateinisches Vokabular, wodurch eine allgemeine Verständlichkeit erzeugt wird.
Ähnliches finden wir heutzutage ja auch in der wissenschaftlichen Literatur. Wir verstehen diese sehr leicht aufgrund der einheitlichen "Fachsprache" mit all ihren Fremdwörtern.

Man möchte meinen, Petrarca habe erkannt, dass das damalige Latein die lateinische Seele ausgehaucht habe, und daraus die Konsequenz gezogen, zum lateinischen Latein zurückzukehren und zugleich dem natürlich erwachsenen sermo vulgaris in seinen Gedichten Selbstvertrauen zu spenden.


Dieses wenige Zerstreute von mir.
Gruß,
M.
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Beitragvon Tiberis » So 26. Okt 2008, 22:31

Was damals produziert wurde, war wohl eher dergestalt, wie wir es heute aus der Saravipontaner Schule kennen: eine im Prinzip wenig lateinische Volkssprache

ich wüsste nicht, was an der "latinitas nova" , um die sich gerade die uni Saarbrücken große verdienste erworben hat (Eichenseer, Albert u.a.) , "wenig lateinisch" sein sollte.
kannst du das näher erläutern ?
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Beitragvon RM » Mo 27. Okt 2008, 09:17

Die Prämisse ist schon einmal grundfalsch: Die Humanisten haben nicht das eine Latein durch das andere ersetzt. Auch zur Zeit Ciceros gab es unterschiedliche Sprachstile und -niveaus. Cicero hat in seinen Briefen ja auch anders formuliert als in seinen Reden. Im Zuge der Erfindung des Buchdrucks - der hat ja die Beschäftigung mit den neu gedruckten alten Schriften ins Rollen gebracht - haben sie einfach die alten Texte, an die man vorher ja nur unter äußersten Schwierigkeiten herankam, ediert, auch selbst Texte verfaßt etc. Insofern haben sie eher einem größeren Teil der Bevölkerung Zugang zu Bildung verschafft (was natürlich nicht alle mit Wohlwollen gesehen haben). Erst dadurch konnte Latein zur allgemein anerkannten Sprache der Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaft, heranreifen und grenzübergreifend verwendet werden. Das Latein z.B. eines Kant oder Kopernikus ist dabei durchaus ernst zu nehmen. 8) RM
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Beitragvon Domingo » Mo 27. Okt 2008, 14:31

Im Mittelalter war die Wiseenschaft und höhere Bildung = Latein. Und auch im Mittelalter konnten sich die Hochgebildeten in perfektem klassischem Latein verständigen, oder völlig korrekte Verse im Stil Vergils oder Ovids dichten.

Es ist also fraglich, ob da wirklich DER Umbrauch stattgefunden hat. Die Humanisten selbst sahen es natürlich anders 8)
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Beitragvon RM » Mo 27. Okt 2008, 22:32

Im Mittelalter mag das Latein noch eher als Verständigungssprache - auch der nicht ganz so hoch Gebildeten - gedient haben als zur Zeit der Humanisten. Ab dem Hochmittelalter erlangen die Nationalsprachen ja ein immer höheres Gewicht, man denke an Walther von der Vogelweide, Dante, Leonardo da Vinci etc. Zur Zeit der Humanisten war es wohl schon so, daß wirklich nur die Gebildeten Latein konnten und Galilei wurde u.a. vorgeworfen, daß er auf Italienisch schrieb, so daß ihn auch das normale Volk verstehen konnte, was mit Latein nicht der Fall gewesen wäre. Die Humanisten hatten mit der Erfindung des Buchdruckes echtes Glück, sonst hätte es sie wahrscheinlich nicht gegeben. Das war wohl auch - neben der Entdeckung Amerikas und der Zerstörung des letzten Überbleibsels des alten römischen Reiches - der eigentliche Umbruch, der zu dieser Zeit stattfand.
8) RM
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Beitragvon Pyrrha » Di 28. Okt 2008, 11:49

Pyrrha Mercurio sal.
ähnlich wie Tiberis gefällt auch mir kein so pauschales Urteil über die Saravipontaner Schule. Es ist zwar insofern nachvollziehbar, als dass auch ich mich an einige Übersetzungen erinnere, die doch sehr an den deutschen Begriff angelehnt sind, aber dennoch sollte man ihre Vorschläge m.E. immer im Einzelfall bedenken, sie sind nicht alle schlecht. Ein bisschen scheint es mir auch, bitte nimm es mir nicht übel, dass diese Urteile von der Montellenser Schule ausgehen, die allerdings auch selber hin und wieder diskussionswürdige Ausdrücke benutzt - mir wurde etwa ein "trahemesursum" angeboten. :shock: Andererseits weißt du gut, dass auch ich den Montellensern deutlich näher stehe als den Saarbrückenern.
Und dass der dieses Jahr verstorbene Pater Caelestis Eichenseer wirklich große Beiträge geleistet hat, dass Latein heute lebendiger ist als zuvor, daran besteht kein Zweifel, auch wenn es uns Jüngeren nicht mehr so bewusst ist; mir selber ist es klar geworden, als ich den Nachruf von Guy Licoppe las, in dem er seine persönliche neulateinische Biographie darstellt, in der Eichenseer eine zentrale Rolle gespielt hat. Auch L.V.P.A. ist letztlich aus der Saravipontaner Schule hervorgegangen.
Beste Grüße
Pyrrha
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Beitragvon Merkur » Di 28. Okt 2008, 14:25

Tiberi Pyrrhaeque salutem:

Der Bitte Tiberis' leiste ich gerne Folge und präsentiere eine kleine, relativ willkürliche Auswahl aus einem neueren Vox-Latina-Faszikel:

Primo scimus, cum sit methodus polyalphabetica, textum tot alphabetis in textum arcanum redigi, quot litteras verbum claviculare habeat. Cum verbum claviculare exempli gratia est OVIS, tunc "e" littera quattuor litteris diversis in textu arcano repraesentatur ...

Itquae verbum, quod est "hoc", quattuor possibilitatibus transformatur, ...

Sed punctum saliens est in deliberatione, quod est "hoc", transformari potest, et cum in nuntio originali verbum ...

Cum textum ... transformetur ... , tunc effectum habemus hunc.

(S. Albert)

Antequam quaedam huiusmodi verba specialiter inspiciemus, conexus quosdam theoreticos in mentem revocemus.
...

Sub aspectu autem sociologico statim in mentem venit ...
...

Illum textum Iohanna Rowling specialiter pro hac venditione conscripsit ...

...

In intitio auctor (W. Stroh) integram personam atque indolem Ciceronis et scopum fundamentalem eius vitae breviter explicare conatur ....



Löbliche (jedoch nicht zu Saarbrücken gehörige) Ausnahme stellt Giancarlo Rossi dar; man lese seinen Nachruf in besagtem Heft pp. 456-459.

@ Pyrrha:

Man darf bei solchen Diskussionen nicht nur auf die Wortbildung schauen.
Vergleiche bitte das languide "Latein" einer S. Albert mit dem kraftvollen Latein jenes G. Rossi.

lg,
M.
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Beitragvon Pyrrha » Di 28. Okt 2008, 15:16

Pyrrha Mercurio s.p.d.
Certe non solum verborum effigies refert, et latinitas illius Ioannis Caroli Rossi minime ignota mihi est, quam iure laudas, tamen et in ea respiciendum est varios homines pro sua quisqua indole varia lingua uti, quo facto ex parte saltem excusari potest et Sigrides Albert. Tamen tecum assentior eius Latinitatem non raro minus pulchram mihi videre quam aliorum haud paucorum Latinistarum, at non sola quidem eo vitio laborat - foeda mea quidem sententia etiam lingua Gai Licoppe, quippe quae non raro structura simplicior appareat. Hoc iudicium meum non quidem in grammatica nititur, solum in animo, quo legentem me induit, et omnino enodationes grammaticales grammaticis linquam.
Valete!
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Beitragvon RM » Mi 29. Okt 2008, 21:11

Robertus Omnibus Sal.
Quid quidem de "schola Amoeneburgensi" deque "schola Frisingensi"? Si iam de "schola Montellensi" loquimini (quam ego amicitia Aloysii attamen veram scholam sui generis haud opinor) aequo iure de vetustioribus Frisingensi et Amoeneburgensi loquendum fuisse duco.

Aber jetzt mal wieder auf Deutsch, damit es wirklich alle verstehen: Man kann hier doch gar nicht wirklich von eigenen Entwicklungslinien der "Latinitas Viva" reden. Im Grunde sind sowohl die Amöneburger Lateinwochen, die LVPA, die Mailänder als auch die Gruppe um Licoppe aus der "schola Saravipontana" entstanden. Die andere starke "Schule", die eine gewisse Wirkung erzielt hat, war die von Suitbert Siedl. Die meisten Anhänger der Latinitas Viva haben mal zur einen oder anderen Gruppierung - manche sogar zu beiden - gehört. Keine dieser Gruppierungen hat aber einen eigenen Stil entwickelt, auch wenn es bzgl. Aussprache und Bildung moderner Wörter immer wieder heftigen Streit gab. Am schönsten waren die regelmäßigen Diskussionen über die richtige Aussprache, aber leider kam es sehr selten vor, daß sich die Gurus der einzelnen Gruppen bei irgendeiner Veranstaltung trafen. Vielleicht ist der ALF-Kongreß nächstes Jahr in Regensburg ja wieder eine solche Gelegenheit - aber die meisten der jetzigen Vertreter sind viel pragmatischer geworden und nicht mehr so ideologisch wie früher.

Die Saarbrückener haben sich besonders durch die Veröffentlichung von Helfers "Lexicon Auxiliare" große Lorbeeren verdient, weil man dort endlich einmal (fast) alles fand, was der moderne Lateiner braucht, und das zu einer Zeit, als es fast nichts anderes gab.

Tja, jetzt müssen wir nur noch eine Brücke zu den Humanisten schlagen ... ;-)

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Beitragvon consus » Do 30. Okt 2008, 11:07

RM hat geschrieben:... jetzt müssen wir nur noch eine Brücke zu den Humanisten schlagen ...

... quod fieri non potest nisi ipsi lingua Latina quam elegantissime utimur. Foro Latine loquendi feliciter aperto numquid est causae quin disputationibus de scholis variis sectisque paullulum postpositis hanc arripiamus facultatem? Agedum!
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Beitragvon RM » Do 30. Okt 2008, 20:29

Mihi quidem iam titulus ipsius fori Latine loquendi obscurior videtur ... sed ut cum Catone loquar: rem tene, verba sequentur - idcirco res maioris momenti est elegantia verborum :-D

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