Oratio obliqua bei Caesar u.a. Verrücktheiten

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Oratio obliqua bei Caesar u.a. Verrücktheiten

Beitragvon ille ego qui » So 4. Jan 2009, 00:07

salvete sodales,

ich habe vier klitzekleine :lol: fragen zu einer caesar-passage (Bellum Gallicum I,17):

(1) Tum demum Liscus oratione Caesaris adductus, quod antea tacuerat, proponit: esse nonnullos quorum auctoritas apud plebem plurimum valeat, qui privatim plus possint quam ipsi magistratus. (2) hos seditiosa atque improba oratione multitudinem deterrere, ne frumentum conferant, quod debeant: (3) praestare, si iam principatum Galliae obtinere non possent, Gallorum quam Romanorum imperia perferre; (4) neque dubitare debeant, quin si Helvetios superaverint, Romani una cum reliqua Gallia Haeduis libertatem sint erepturi.

mein übersetzungsversuch:

dann erst zeigt liscus, von caesars Rede veranlasst, das, wovon er zuvor geschwiegen hatte, auf: durchaus einige seien es (respektive: es gebe einige), deren Ansehen beim volke am meisten gelte, die im privaten Bereich mehr vermöchten als die beamten selbst. diese hielten mittels aufrührerischer und schädlicher rede die menge davon ab, das getreide zu bringen, das sie schuldeten. es sei besser, wenn sie schon die herrschaft über gallien nicht zu halten im stande seien, die Herrschaft der Gallier zu erdulden als die der römer; und sie dürften nicht daran zweifeln, dass, wenn sie die helvetier besiegt hätten, die römer zusammen mit dem restlichen gallien den haeduern die freiheit nehmen würden.

so, meine fragen wären die folgenden:

1. liegt hier nicht ein verstoß gegen die "regeln" der consecutio temporum vor? es richten sich alle konjunktive nach dem historischen präsens des proponit als einem gegenwartstempus (kleine nebenfrage, soz. 1b: ist das immer so - dass ein historisches präsens grammatisch wie ein echtes präsens behandelt wird?). ausnahme aber: (3) praestare, si iam principatum Galliae obtinere non POSSENT, Gallorum quam Romanorum imperia perferre; - nun habe ich mir überlegt, ob sich hinter dem "praestare, sie possent" ein irrealis verbergen könnte ... aber ist nicht bei einem im deutschen irrealen verhältnis zwischen "besser sein" und "können" im lateinischen ein REalis zu erwarten.
eine von beiden grundsätzen - realis in solchen fällen; regeln der consecutio temporum - sind hier wohl gebrochen ... oder was meint ihr?

2. unschlüssig bin ich auch bei: (4) neque dubitare DEBEANT, quin si Helvetios superaverint, Romani una cum reliqua Gallia Haeduis libertatem sint erepturi.
sind hier vielleicht, so zu sagen, ein dem Müssen entsprechender jussiv und eben eine debere-konstruktion miteinander verschränkt?

3. esse nonnullos quorum auctoritas apud plebem plurimum valeat, qui privatim plus possint quam ipsi magistratus.
zunächst hätte ich hier die beiden relativsätze in jeweils gleicher weise auf nonnullos bezogen.
wäre es aber auch möglich (und für wie wahrscheinlich wäre es anzusehen), nur den ersten relativsatz attributiv auf nonnullos zu beziehen, den zweiten aber für ein prädikatsnomen zu esse zu nehmen; also: "es seien einige, deren ansehen beim volk am schwersten wiege, [leute, die] / [von der art, dass sie] privat mehr vermöchten als beamte selbst.
und selbst wenn der sinn euch komisch erscheint: kann es vorkommen, dass
a) sowohl subjekt wie auch prädikatsnomen jeweils von einem relativsatzgebildet werden und dass dann noch
b) das esse nicht einmal daZWISCHEN zu stehen kommt?

4. und last not least (danke an alle, die bis hier hin gelesen haben ...ähm... werden): (2) hos seditiosa atque improba oratione multitudinem deterrere, ne FRUMENTUM conferant, QUOD debeant
in meinen stilübungen (und da ging's auch noch um einen caesar-text ^^) glaube ich einmal gehört zu haben, dass bei solchen fällen von relativsätzen - wo ein substantiv durch den relativsatz erst bestimmt und verortet wird - etwas wie is, ea, id zum substantiv zu setzen sei. gilt diese regel vielleicht nicht so unumstößlich?
ansonsten wüsste ich mir nicht anders zu helfen, als dass ich den quod-satz als einen adverbial gefärbten relativsatz auffasste: etwa "dass sie es nicht bringen, OBWOHL sie es doch müssen/schulden"


Summas gratias vobis ago!
:klatsch:
curate ut valeatis

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Re: Oratio obliqua bei Caesar u.a. Verrücktheiten

Beitragvon Princeps » So 4. Jan 2009, 02:09

Salve!
Herrliche Fragen, leider bleibt wohl einiges im Dunklen! :cry:

1) Praesens historicum wird teils als Haupttempus (vielfach Caesar / Cicero), teils als Nebentempus (oft bei Historikern) behandelt. IMMER gibt es dabei nicht!
Infinitivus historicus in der Regel wie Nebentempus.

3) Zu kompliziert gedacht. Zwei Nebensätze, unverbunden gereiht. Der erste RS hat dann oft eine engere Bindung / Beziehung zum Vorangehenden als der zweite.
Dein Vorschlag 'von der Art, dass' steckt bereits im ersten NS nach esse nonnullos (unabhängig hätte man wohl den konsekutiven Konjunktiv im Prädikat gesehen, jetzt duch den von der oratio obliqua geforderten Konjunktiv nicht erkennbar).
Was irgendwo vorkommen kann - kein konkretes Beispiel -, lasse ich unberücksichtigt.

4) Die Sache mit dem Demonstrativpronomen siehst du wohl zu eng.
ne frumentum conferant, quod (conferre) debeant > das Getreide zusammenzuschaffen, zu dessen Lieferung sie moralisch verpflichtet seien.

Zu den eigentlichen Problemen empfiehlt sich ein Blick in verschiedene Textausgaben: :book:
praestare, si ... non possent: so die Oxford-Edition (R. du Pontet) nach den besten Codices
... possint: so korrigiert in der Teubneriana (Hering)
neque dubitare debeant: Teubneriana
neque dubitare [debeant]: Oxford-Edition
neque dubitari debere: F. Maier (in verschiedenen Schulausgaben)

Wie hättest du es denn gern? :? :)

Gruß zur Nacht :sleep: Princeps
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Re: Oratio obliqua bei Caesar u.a. Verrücktheiten

Beitragvon ille ego qui » Mo 5. Jan 2009, 14:15

gratiam tibi habeo, carissime princeps, iam multo exactius res intellego :-)

welche funktion, glaubst du / glaubt ihr dann, hat in "ne frumentum conferant, quod (conferre) debeant" der relativsatz:
- kann er auch ohne is, ea, id definierende funktion haben ("dasjenige getreide, das ..." / "welches getreide?" - "das geforderte") - in germanistik nennen wir das "notwendigen relativsatz", glaub ich
- oder steht der relativsatz dann hier - ohne is, ea, id - zu seinem bezugswort in freierem bezug - sei er nun konzessiv, wie oben überlegt, oder bloß explikativ ("sie hielten die menge davon ab, getreide zusammenzuschaffen ... (erklärung/zusatzinformation:) das sie (ja) bringen mussten" - fast als relativer satzanschluss)
((!! kommt ein relativisch angeschlossener "hauptsatz" in der oratio obliqua eigentlich auch in den aci oder erscheint er als nebensatz? - find' dazu nix! :help: ))

übrigens hab ich wirrkopf inzwischen, ihr werdet's noch glauben, noch zwei kleine neue fragen zu dem absatz :oops:

1. (4) neque dubitare debeant, quin si Helvetios superaverint, Romani una cum reliqua Gallia Haeduis libertatem sint erepturi.
- ich hätte zunächst geglaubt, subjekt des si-satzes seien die Romani - aber sollten die nach klassischer grammatik dann nicht vor davor stehen?

2. (6) Quin etiam, quod necessariam rem coactus Caesari enuntiarit, intellegere sese quanto id cum periculo fecerit, et ob eam causam quam diu potuerit tacuisse. - necessariam rem ist wohl eine art accusativus graecus (korrigiert mich bitte, wenn ich irre), soweit komme ich klar, aber mein - im wesentlichen auf der lateinischen consecutio temporum beruhendes ^^ - weltbild kommt mal wieder ins wanken durch das potuerit - müsste sich das nicht nach dem infinitiv perfekt tacuisse richten?)

ihr seid die besten! danke schon mal! ^^
valete
Christian
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Re: Oratio obliqua bei Caesar u.a. Verrücktheiten

Beitragvon Tiberis » Mo 5. Jan 2009, 15:13

salve, Christiane !

hmm, vielleicht hatte Caesar, als er das schrieb, gerade keine grammatik bei sich ? :D
aber im ernst:
ad 1) dass das gemeinsame subjekt von HS und NS an der spitze steht, ist zwar häufig, aber nicht zwingend.
ad 2) necessariam rem ist m.e. kein accusativus graecus, sondern objekt zu enuntiarit!

zu potuerit: dazu heißt es bei Menge (§464,2) : " steht das hauptverb in einem haupttempus, so kann nach einem infinitiv perfekt (...) die hauptzeiten- , aber auch die nebenzeitenfolge eintreten, und zwar nach folgender regel: der von dem infinitiv perfekt abhängige gliedsatz steht in dem tempus, das bei unabhängiger formulierung des satzes im indikativ stehen würde."
auf das konkrete beispiel bezogen:
Liscus proponit (se ...) tacuisse, quamdiu potuerit.
(unabh.: tacuit, quamdiu potuit)
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Re: Oratio obliqua bei Caesar u.a. Verrücktheiten

Beitragvon ille ego qui » Mo 5. Jan 2009, 15:20

Vielen dank!
darüber muss ich noch n bisschen grübeln ... ^^
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