Semantisches zu stella

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon consus » Sa 10. Jan 2009, 11:12

Salvete, amici.
Werde am Montag mal lesen, was R. Joy Littlewood in seinem Kommentar schreibt:: A commentary on Ovid: Fasti Book VI, Oxford (OUP) 2006. Vielleicht kann es aber ein anderer von uns schon heute...
:book:
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » Sa 10. Jan 2009, 14:03

Ich würde bei meinem unsprünglichen Textverständnis bleiben: Die "Pole" sind nicht wörtlich zu nehmen, sondern Ovid meint den nördlichen und den südlichen Horizont, wie sie aus dem Gesichtspunkt eines Menschen in Mittelitalien zu sehen sind. Wir dürfen die Sache nicht aus der Perspektive eines Geographen mit seinem Globus betrachten, sondern aus derjenigen von Hinz und Kunz, während sie sich auf einer Anhöhe irgendwo in der Nähe von Rom aufhalten und den Himmel betrachten. Dann kann man sagen, die Sterne umschlössen die beiden Pole = den gesamten Horizont. Damit dies passieren kann, muss das Sonnenlicht vollständig verschwunden sein.

Meint

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Ketelhohn » Sa 10. Jan 2009, 14:32

Domingo hat geschrieben:
Ketelhohn hat geschrieben:Na, daß hat man gewiß angenommen. Man hatte ja keinerlei Veranlassung, an etwas anderes auch nur zu denken.
Das kann doch nicht sein. Bis zur Kaiserzeit hatte die griechisch-römische Zivilisation (naja, eigentlich die griechisch-alexandrinische) bereits mehrere ausgefuchste Astronomen hervorgebracht, die gewiss keinen so primitiven Fehler mehr machen konnten.

Tiberis hat geschrieben:
Na, daß hat man gewiß angenommen. Man hatte ja keinerlei Veranlassung, an etwas anderes auch nur zu denken.
naja. auch damals dürfte es dem aufmerksamen beobachter nicht entgangen sein, dass im juni beispielsweise die tage im norden Italiens deutlich länger sind als im süden, bzw. die tageslänge im norden des reiches gegenüber jener in nordafrika bereits um mehrere stunden differiert, während es im winter genau umgekehrt ist. wie man aufgrund dieser beobachtungen zum schluss kommen hätte sollen, dass dann in richtung südpol (im juni) die tage wieder länger werden, kann ich nicht ganz nachvollziehen. :?
Man hatte keine Kenntnis von der Südhalbkugel. Wie hätte man ahnen können, daß dort Winter herrscht, während im Norden Sommer ist?

Tiberis hat geschrieben:und - wie ich schon sagte : spätestens ab 60° N wird man um diese jahreszeit probleme haben, irgendwelche "polumschließenden" sterne am himmel zu sehen.
Ob es damals im Mittelmeerraum vom Polarsommer schon Nachrichten gab, weiß ich jetzt nicht. Ist prinzipiell nicht auszuschließen. Sicher aber gehörte es nicht zur selbstverständlichen „Allgemeinbildung“. Ovid mußte das nicht wissen.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » Sa 10. Jan 2009, 14:37

Ketelhohn hat geschrieben:[Man hatte keine Kenntnis von der Südhalbkugel.


Wenn man weiß (und seit Aristoteles weiß man es), dass die Erde eine Kugel ist, dann ist es auch klar, dass es eine Südhalbkugel gibt.

Wie hätte man ahnen können, daß dort Winter herrscht, während im Norden Sommer ist?


Indem man merkt, dass in Europa im Sommer der Sonnenkurs höher (=nördlicher) ist als sonst. Dann ist es offensichtlich, dass es auf der Südhalbkugel genaus andersrum ist.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Tiberis » Sa 10. Jan 2009, 14:42

Ich würde bei meinem unsprünglichen Textverständnis bleiben: Die "Pole" sind nicht wörtlich zu nehmen, sondern Ovid meint den nördlichen und den südlichen Horizont, wie sie aus dem Gesichtspunkt eines Menschen in Mittelitalien zu sehen sind. Wir dürfen die Sache nicht aus der Perspektive eines Geographen mit seinem Globus betrachten, sondern aus derjenigen von Hinz und Kunz, während sie sich auf einer Anhöhe irgendwo in der Nähe von Rom aufhalten und den Himmel betrachten. Dann kann man sagen, die Sterne umschlössen die beiden Pole = den gesamten Horizont. Damit dies passieren kann, muss das Sonnenlicht vollständig verschwunden sein.

wahrscheinlich hast du recht. jedenfalls macht diese sichtweise (die poli = himmel über dem nördl. u. südl. horizont) durchaus sinn. stella serena wäre dann etwa der klare, deutlich sichtbare sternenhimmel (als voraussetzung für das erkennen der im folgenden genannten sternbilder).
Ob es damals im Mittelmeerraum vom Polarsommer schon Nachrichten gab, weiß ich jetzt nicht. Ist prinzipiell nicht auszuschließen. Sicher aber gehörte es nicht zur selbstverständlichen „Allgemeinbildung“. Ovid mußte das nicht wissen.

allein das römische reich erstreckte sich damals über 20 breitengrade. unterschiedliche, von der geographischen breite und der jahreszeit abhängige tageslängen waren also mit sicherheit jedem gebildeten römer geläufig. und man darf wohl annehmen, dass reisende oder händler entsprechende informationen oder kenntnisse über weiter nördlich bzw. weiter südlich gelegene gegenden mitgebracht haben.
Zuletzt geändert von Tiberis am Sa 10. Jan 2009, 15:45, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Ketelhohn » Sa 10. Jan 2009, 15:01

Domingo hat geschrieben:
Ketelhohn hat geschrieben:Man hatte keine Kenntnis von der Südhalbkugel.
Wenn man weiß (und seit Aristoteles weiß man es), dass die Erde eine Kugel ist, dann ist es auch klar, dass es eine Südhalbkugel gibt.
Du hast mich mißverstanden. Selbstverständlich ging man von einer Kugelgestalt der Erde aus (bei unterschiedlicher Verteilung der Ökumene: nach manchen auf die nördliche Hemisphäre beschränkt, bei andern auf beide verteilt). Ich meinte: Man hatte keine Kenntnis davon, wie’s auf der Südhalbkugel so zugeht. Man war nicht dort und hatte keine Nachrichten daher.

Oder wer etwa bekannte Länder (von der südlichen Mittelmeerküste südwärts) auf der Südhalbkugel ansiedelte, der glaubte Kenntnis zu haben, lag aber falsch.

(P.S.: Was das „Wissen“ betrifft, würde ich kaum Aristoteles nennen. Der hat das nicht erfunden, noch hat er’s nachgewiesen. Er war für viele Spätere die Autorität. „Wissenschaftlich“ in unserm Sinne sehr viel wichtiger war z. B. Eratosthenes.)
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » Sa 10. Jan 2009, 16:29

Ketelhohn hat geschrieben:P.S.: Was das „Wissen“ betrifft, würde ich kaum Aristoteles nennen. Der hat das nicht erfunden, noch hat er’s nachgewiesen. Er war für viele Spätere die Autorität. „Wissenschaftlich“ in unserm Sinne sehr viel wichtiger war z. B. Eratosthenes.


Doch dass die Erde eine Kugel sein muss, weil ihr Schatten auf dem Mond immer rund ist, liest man m.W. zunächst bei Aristoteles. Ich gebe aber zu, das dürfte nicht auf seinem Mist gewachsen sein.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Sa 10. Jan 2009, 16:33

Bei Vitruv findet man im 9. Buch etwas über die Planeten, Sonne, Mond und Erde. Interessant ist dort besonders das Kaspitel über die Mondphasen. Plinius schreibt in Nat.Hist, 2, 160 (LXIV) ff. über die kugelförmige Gestalt der Erde - dort übrigens ein interessanter Diskurs über die Antipoden. Ich würde daraus allerdings schließen, daß die Leute damals noch sehr unterschiedlicher Meinungen waren, zumal da es für Sterne, Planeten, Mond, Sonne und Erde noch keine vernünftigen Theorien gab, die ihr Verhalten wirklich erklärten. In Nat.Hist. findet man ab 167 (LXVII) ein paar Bemerkungen zum Nordpolarmeer, war also zumindest bei Seefahrern und der Marine bekannt. Ab Kap. 171 (LXVIII) findet man dort auch einige Bemerkungen zu Nord- und Südpol und dazu, daß an beiden angeblich weitgehend Finsternis herrscht. Nach dem was in Kap. 169/170 steht, sind ein paar Leute auch schon um Afrika herumgesegelt und anscheinend ist es sogar einmal vorgekommen, daß sich ein indisches Schiff in die Nordsee verirrte.

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Zythophilus » Sa 10. Jan 2009, 17:16

SALVETE
Die Diskussion über Südhalbkugel, Pole etc. geht an der Intention des Autors vorbei.
Vers 717 macht ganz klar, dass Ovid uns hier ein mythologisches Weltbild präsentiert: "Die Erde ist eine Scheibe, die auf dem Okeanos schwimmt. Darüber erhebt sich der Himmel als halbkugelförmiges Gewölbe mit den Sternen. Die Sonne kommt am Morgen aus dem Ringstrom, wandert über den Himmel ..."
Eine Südhalbkugel, Pole im modernen Sinn etc. passen nicht in dieses Weltbild, existieren darin nicht; daher hat Ketelhohn schon recht.
Das bedeutet freilich nicht, dass Ovid und seine Leserschaft das alles für Realität halten. Das wissenschaftliche Weltbild ist sicher geläufig, es passt einfach nicht zum Thema des Werks, das ja Sagen vorstellt. Ein mythologisches Thema verlangt nach diesem Weltbild; man vergleiche Aeneis IV 129
Oceanum interea surgens Aurora reliquit.

Die Vorstellung, was es auf einer allfälligen Südhalbkugel gibt, hat mit den Fasti nichts zu tun.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Sa 10. Jan 2009, 18:54

Es schadet jedoch nicht, den Stand des wissenschaftlichen Weltbildes zur Zeit Ovids zu kennen, um zu wissen, wie weit das verwendete mythologische Weltbild davon abweicht.

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » Sa 10. Jan 2009, 18:54

RM hat geschrieben:zumal da es für Sterne, Planeten, Mond, Sonne und Erde noch keine vernünftigen Theorien gab, die ihr Verhalten wirklich erklärten.


:? Es gab schon ausgefeilte Theorien, die sehr vieles erklärten. Auch ein geozentrisches System kann in sich schlüssig sein und den bislang gemachten Beobachtungen Rechnung tragen. Ganz davon abgesehen, dass das heliozentrische damals schon bekannt war...
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Sa 10. Jan 2009, 19:01

Ohne eine konkrete Vorstellung von der Gravitation und einem Verständnis der Grundbegriffe der Mechanik hat das heliozentrische System keinen tieferen Sinn. Das ist auch der Grund, warum sich diese Idee so lange nicht durchsetzen konnte.

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Zythophilus » Sa 10. Jan 2009, 19:20

RM hat geschrieben:Es schadet jedoch nicht ...

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Natürlich schadet es nicht, doch man darf nicht davon ausgehen, dass ein wissenschaftliches Weltbild (egal ob geo- oder heliozentrisch) in ein Gedicht wie die Fasti aufgenommen wird, da dies der Tradition völlig widerspräche. Aus den Versen Ovids, konkret aus der Formulierung geminos ... polos darf man nicht Nord- und Südhalbkugel (bzw. -pol) herauslesen. Für die Interpretation des Werkes ist Ovids tatsächliche Kenntnis unerheblich.
Fragt jemand bei Äsop-Fabeln, ob Tiere tatsächlich sprechen können? Vermutlich wusste dies der Autor ebenfalls ...
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » Sa 10. Jan 2009, 19:28

RM hat geschrieben:Ohne eine konkrete Vorstellung von der Gravitation und einem Verständnis der Grundbegriffe der Mechanik hat das heliozentrische System keinen tieferen Sinn.


Was soll bitteschön ein *tieferer Sinn* in der Wissenschaft sein?
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Sa 10. Jan 2009, 20:14

Warum entwickelt man überhaupt eine Vorstellung, was Sterne sind und wie sich Planeten bewegen? Das hat verschiedene Gründe. Zum einen versuchten Astronomen, eine genaue Zeitmessung zu erreichen. Das ist zunächst hauptsächlich für die Landwirtschaft wichtig. Ein tieferer Sinn des heliozentrischen Ansatzes ist z.B., daß sich dadurch die Planetenbahnen viel leichter vorausberechnen lassen. Über Kepler und Newton haben wir daraus die Kenntnis der Wechselwirkungsgesetze gewonnen, Bohr hat daraus sein Atommodell entwickeln können usw.

Wenn ich jedoch etwas in Ovid blättere, z.B. Fast. 3, 105 und Met. 2, 130, überkommt mich schon das Gefühl, als wären Ovid astronomische Kenntnisse - die er sicher auch bei seinen Lesern voraussetzt - wichtig gewesen:

Fast. 3, 105:
quis tunc aut Hyadas aut Pliadas Atlanteas
senserat, aut geminos esse sub axe polos,
esse duas Arctos, quarum Cynosura petatur
Sidoniis, Helicen Graia carina notet,
signaque quae longo frater percenseat anno,
ire per haec uno mense sororis equos?


Met. 2, 130:
sectus in obliquum est lato curvamine limes,
zonarumque trium contentus fine polumque
effugit australem iunctamque aquilonibus arcton:
hac sit iter - manifesta rotae vestigia cernes -
utque ferant aequos et caelum et terra calores,
nec preme nec summum molire per aethera currum!


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