Semantisches zu stella

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » So 11. Jan 2009, 17:21

LSJ ersetzt auf keinen Fall den Blick in eine Ovid-Konkordanz und ein lateinisches Wörterbuch - und außerdem: die Leute, die unsere lateinischen Wörterbücher erstellt haben, und die Übersetzer, auf die sie sich stützten, waren ja nicht so ahnungslos, als daß sie die griechischen Bedeutungen nicht gekannt hätten. "polus" ist aber doch bei Ovid kein Wort mit allen aus dem Griechischen übernommenen Bedeutungen mehr. Das wäre fast so, als würde ich behaupten, das englische Wort "mood" hieße "Mut". Ganz davon abgesehen benutzt Ovid das Wort "polus" oft genug, um dieses Wort in seinen Bedeutungen fassen zu können - und warum LSJ Vorrang vor Ovid selbst haben sollte, ist mir gänzlich unklar. :roll:

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » So 11. Jan 2009, 18:08

1. Das Argument *die waren ja gar nicht ahnungslos* ist im Grunde nur eine Berufung auf Autoritäten, ähnlich dem mittelalterlichen *Aristoteles hat geschrieben*.

2. Der Vergleich mit "mood" vs. "Mut" hinkt gewaltig. Keines von beiden Wörtern ist aus der anderen Sprache entlehnt, polus hingegen ist eindeutig ein Lehnwort und auch dem gebildeten Römern als solches erkennbar.

3. Dass *der LSJ Vorrang vor Ovid haben* sollte, ist ein Strohmann von Dir. Es wäre besser zu sagen: Ovid hat Vorrang vor Ovid ;) Er ist nämlich absolut frei, ein Wort mal anders zu gebrauchen, als er es in seinen übrigen Gedichten gebraucht hat, genauso wie Cäsar keineswegs an die in Stilübungen zugrunde gelegten Grammatikregeln gebunden ist, die aus seinen eigenen Texten gewonnen werden 8)

Valete

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon romane » So 11. Jan 2009, 18:36

meine Vorstellung:

heiterer Stern = schönes Wetter = klare Sicht

und dann kann man den Delphin sehen.
-------------------
Aber das ist wohl zu einfach
Die Freiheit ist ein seltsames Wesen - wenn man es gefangen hat, ist es verschwunden

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Tiberis » So 11. Jan 2009, 19:08

Zythophilus hat geschrieben:Die Stelle Tristia IV 10 108 heißt "zw. dem verborgenen und dem sichtbaren Himmel" also m.E. "zw. Sonnenunter- und -aufgang".

das sehe ich nicht so, mi Zythophile. denn zwischen "dem verborgenen und dem sichtbaren himmel"
haben genau genommen überhaupt keine "stellae" platz. entweder ist der (nacht)himmel "verborgen" oder er ist sichtbar - was wäre dazwischen?
und warum sollte darüber hinaus der "verborgene und sichtbare himmel" mit sonnenauf- und -untergang gleichzusetzen sein? sowohl bei sonnenaufgang als auch bei sonnenuntergang sind die sterne gleichermaßen verborgen.
ich meine, wir sollten uns bei unseren deutungsversuchen in erster linie darauf konzentrieren, nachzuempfinden zu versuchen, wie der - gebildete - römische leser die worte Ovids verstanden haben mag. und es würde mich sehr wundern, wenn dieser leser das wort "polos" mit sonnenaufgang und -untergang in verbindung gebracht haben sollte, zumal mir keine stelle bekannt ist, auf die diese bedeutung in eindeutiger weise zutreffen würde.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » So 11. Jan 2009, 19:12

Ja, so in der Art ist das gemeint. Das Sternbild des Delphins steht relativ niedrig, daher ist eine gute Sicht auf jeden Fall nötig. Und mit den "Polen" sind - wie ich schon ausführte - die Aufhängungen der Weltachse gemeint, verkörpert durch den im Norden gut sichtbaren Polarstern (s. Vitr. 9, 4, 6). Aber es gibt anscheinend Leute, die dieser Vorstellung immer noch ablehnend gegenüberstehen.

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » So 11. Jan 2009, 19:34

Danke an Alle für die rege Debatte :D

Nur um kurz auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Es gibt also keine weiteren Belege für stella als "Sonne" (oder meinetwegen "Mond") außer diesem dubiosen hier. Richtig?

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » So 11. Jan 2009, 19:49

Zu dem Thema hat Hyginus etwas Interessantes beigetragen:

HygAstr, Astr, 4, 14, 4
Nonnulli existimant, cum dicitur sol in Ariete
aut in quolibet signo esse, eum supra ipsas stellas
Arietis iter facere. Qui autem hac ratione utuntur,
longe a uera ratione errant. Nam neque sol neque luna
proxime sidera apparent. Hac etiam de causa non-
nulli septem stellas erraticas finxerunt, adiungentes
eodem solem et lunam, quod cum quinque stellis fe-
runtur. Luna enim proxime terram est; itaque die-
bus triginta totum mundum existimatur transire.


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Poetischer Text

Beitragvon consus » So 11. Jan 2009, 20:25

Salvete, amici.
Nicht schlecht, diese Debatte zu Beginn des Internationalen Jahres der Astronomie, nur gilt es, wie schon Zythophilus m. E. richtig sagte, nicht den poetischen Charakter des vorliegenden Textes aus den Augen zu verlieren. Wir sollten dabei folgende grundsätzliche Äußerung Gadamers bedenken:
... das Poetische behält immer eine eigentümliche Unfixiertheit, indem es in der geistigen Allgemeinheit etwas zur Darstellung bringt, was sich beliebiger Phantasieausfüllung offenhält*.
Der Dichter weicht bewusst bei der sprachlichen Gestaltung seines Kunstwerks von der Normalerwartung** des Lesers ab, um durch Verständniserschwerung oder Deautomatisierung des Wahrnehmungsprozesses*** poetischen Reiz auszuüben. Dieser Reiz aber, so schreibt Maurach****, meint das intellektuelle und zugleich ästhetische Entzücken beim Aufsuchen des verborgenen Sinnes und beim Finden des Gemeinten im Gewande der Verfremdung. Qui habet aures audiendi audiat.

----------------------------------
* H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975, S. 136 (zitiert nach Gregor Maurach, Encheiridion poeticum, Darmstadt 1983, S. 9).
** Maurach, a.a.O. S. 9.
*** R. Jakobson, in: Literaturwissenschaft und Linguistik 2, 1; 1971, 170 (zitiert nach Maurach a.a.O. S. 5)..
**** Maurach a.a.O. S. 9.
Zuletzt geändert von consus am So 11. Jan 2009, 21:52, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » So 11. Jan 2009, 20:46

Ich traue Ovid durchaus zu, poetisch zu sein, ohne das aktuelle Wissen seiner Zeit zu ignorieren. Außerdem stimme ich Gadamer bezüglich seiner zitierten Meinung nicht zu, genauso, wie ich seinem in "Wahrheit und Methode" vertretenen Ansatz skeptisch gegenüberstehe, daß sich die Methoden von Geistes- und Naturwissenschaften grundsätzlich unterscheiden. Was das Poetische betrifft, hat Gadamer zu weit verallgemeinert - oder eben einigen Dichtern das Poetische abgesprochen.

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Re: Poetischer Text

Beitragvon Domingo » So 11. Jan 2009, 21:02

consus hat geschrieben:...


Ui, ein Altphilologe mit Anklänge an den Russischen Formalismus :D

Ganz neu ist das natürlich nicht, nachdem Th. Schmitz ein entsprechendes Buch ("Moderne Literatrutheorie und antike Texte") geschrieben hat...

Selbstverständlich sehe ich es auch so. Nur meine ich, dass die Bilder, die man einem Gedicht entnimmt, sprachlich und logisch konsequent sein müssen, weswegen es dennoch Diskussionsbedarf gibt.

Andereseits ging es mir (zumal zu Beginn des Internationalen Jahres der Astronomie) nicht oder nicht nur um die Interpretation besagter Ovid-Stelle, sondern darum, ob es in der Antike bereits eine Gleichstellung sol = stella gab oder geben konnte.
Die Hygin-Stelle ist sehr interessant, ich schaue sie mir jetzt genauer an.
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Re: Poetischer Text

Beitragvon Domingo » So 11. Jan 2009, 21:07

consus hat geschrieben:*** R. Jakobsen, in: Literaturwissenschaft und Linguistik 2, 1; 1971, 170


Ist das Roman JakobsOn?
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Beitragvon consus » So 11. Jan 2009, 21:24

Servus, Domingo.
Jakobson natürlich! Vielen Dank für die Korrektur meines Schreibfehlers. Morgen werde ich den Littlewood zur Hand nehmen, bin gespannt, was er sagt (hoffentlich kein "fortlaufender" Kommentar). [Im Passow lesen wir s. v. άστρον „bei Dichtern auch die Sonne“, aber ohne Fundstelle.]
Schönen Abend!
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Zythophilus » So 11. Jan 2009, 22:18

Die Gleichsetzung sol = sidus gibt es in Met. Vi 341:
Code: Alles auswählen
sidereo siccata sitim collegit ab aestu
.
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Re: JakobsOn

Beitragvon Domingo » So 11. Jan 2009, 22:28

consus hat geschrieben:Im Passow lesen wir s. v. άστρον „bei Dichtern auch die Sonne“, aber ohne Fundstelle.


Liegt nahe bei Pind. Ol. 1 5ff.:

μηκέτ' ἀελίου σκόπει / ἄλλο θαλπνότερον ἐν ἁμέραι φαεννὸν ἄστρον ἐρήμας δι' αἰθέρος

ἀστήρ heißt hingegen, wenn ich mich nicht irre, nur "Stern". Im Latein übernimmt "sidus" die Bedeutung "Himmelslicht", also auch auf
Sonne und Mond bezogen.

Gruß

Domingo
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon consus » Di 13. Jan 2009, 11:13

Salvete, amici.
Ov. fast. 6, 717sq.: Littlewood in commentario suo (p. 211) nihil aliud scribit nisi hoc:
717-18. at pater Heliadum ... │... cinget geminos stella serena polos: Ovid describes sunset with a particulary prolix periphrasis: ‚Now when the father of the daughters of the Sun...’
Reliqua verba silentio praeterit, id quod esse suspicabar :sad: .
Forsitan operae pretium sit inspicere TLL s. v. geminus (IV 1743):
Lucan. 7, 422: [gemin]-um ... procedere ... in axem (COMMENT. et orientem et occidentem. sim. SCHOL. CLAVD. 24, 139.)
Lucan. 7, 421f.: omnibus annis / te geminum Titan procedere vidit in axem. Donatus Gagliardi in commentario suo (M. Annaei Lucani Belli civilis liber septimus, Florentiae 1975): cioè in Oriente ed in Occidente. Sunt autem qui pro certo habeant hoc quoque loco significari axem, qui a polo boreo protendatur in australem. Res ergo in controversia relinqui videtur - - -
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