Semantisches zu stella

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Mi 14. Jan 2009, 02:20

In meiner Lukan-Übersetzung (Wilhelm Ehlers, Tusculum, Heimeran 1973) steht für Lukan. 7, 421/422 (omnibus annis ... axem): "..., Jahr für Jahr hat Helios dich beiden Polen näherrücken sehen; ...". Gemeint ist, daß das Reich nach Norden, Süden, Westen und Osten erweitert wurde. In den nächsten Zeilen wird dann klar, wo sich Karl V inspirieren ließ, als er sagte: "In meinem Reich geht die Sonne nicht unter". Und: natürlich kannte Lukan den Ovid, der den Ausdruck "geminos polos" sogar zweimal verwendet.

Mal was Neues: Ich habe mir mal (endlich) den Wikipedia-Artikel zum Polarstern durchgelesen und den Satz gefunden: "Polaris ist ein visueller Doppelstern" - ist mir bisher nicht aufgefallen. Könnten die Römer das mit bloßem Auge gesehen haben? Waren die zwei Sterne damals evtl. etwas weiter voneinander entfernt? :? Wenn ja, würde dies dem Wort "geminos" eine neue Wendung geben!

In demselben Artikel steht übrigens auch etwas über den (nicht sehr hellen) "Polaris australis". Ab welchem Breitengrad sieht man den? Könnten antike Seefahrer ihn bereits gekannt haben?

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » Mi 14. Jan 2009, 02:44

RM hat geschrieben:Mal was Neues: Ich habe mir mal (endlich) den Wikipedia-Artikel zum Polarstern durchgelesen und den Satz gefunden: "Polaris ist ein visueller Doppelstern" -ist mir bisher nicht aufgefallen..


Du meinst wohl mit dem Teleskop? :verwirrt: Na gut, es sind ja ganze 18 Bogensekunden zwischen den beiden Sternen :lol:

Könnten die Römer das mit bloßem Auge gesehen haben? Waren die zwei Sterne damals evtl. etwas weiter voneinander entfernt? Wenn ja, würde dies dem Wort "geminos" eine neue Wendung geben!


Das scheint mit aber schon ganz arg spekulativ.

Valete

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Mi 14. Jan 2009, 02:51

Es wird noch viel besser! Lest mal das hier: http://en.wikipedia.org/wiki/Beta_Ursae_Minoris

Da steht, daß es damals tatsächlich eine Art "Doppelpolarstern" gab, und zwar: They [Kochab und Pherkad, Anm.d.Red.] served as twin pole stars, Earth's North pole stars, from 1500 B.C. until 500 A.D.

Was haltet ihr davon?

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Beitragvon consus » Mi 14. Jan 2009, 10:52

Iam timeo ne hoc loco philologiae nostrae fines transituri simus. Veteris reminiscamur proverbii quod in Plin. nat 35, 85 scriptum invenimus!
:roll:
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Mi 14. Jan 2009, 12:23

Ja, manchmal, wenn das Verständnis der Wörter nicht ausreicht, lohnt es, sich mit den Dingen zu beschäftigen. Es erinnert fast an das Höhlengleichnis. Zu demselben Thema habe ich jetzt einen Artikel aus der Zukunft (sic!) entdeckt. Das Internet ist halt noch schneller, als wir alle glauben ... :-o
Lest mal bitte das hier: http://www.earthsky.org/skywatching/kochab-and-pherkab-in-the-little-dipper. Außerdem ist folgendes nicht uninteressant: http://ancientworldblog.blogspot.com/2005/03/astronomical-axe-of-lamao-village.htm

Ich habe immer mehr den Eindruck, der Ausdruck "geminos polos" beziehe sich auf die zwei damals als Polarsterne fungierenden Sterne Kochab und Pherkab.

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Re:

Beitragvon Domingo » Mi 14. Jan 2009, 12:52

consus hat geschrieben:Iam timeo ne hoc loco philologiae nostrae fines transituri simus. Veteris reminiscamur proverbii quod in Plin. nat 35, 85 scriptum invenimus!
:roll:



Könntest Du bitte den Text abtippen, für Leute, die keinen Plinius dabei haben? Im Netz finde ich keinen Abdruck von Buch 35 :(
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Plin. nat. 35, 84s.

Beitragvon consus » Mi 14. Jan 2009, 13:11

Salve, Domingo.
Libentissime morem tibi gero:
Idem [sc. Apelles] perfecta opera proponebat in pergula transeuntibus atque, ipse post tabulam latens, vitia quae notarentur auscultabat, vulgum diligentiorem iudicem quam se praeferens; / feruntque reprehensum a sutore, quod in crepidis una pauciores intus fecisset ansas, eodem posteriore die superbo emendatione pristinae admonitionis cavillante circa crus, indignatum prospexisse denuntiantem, ne supra crepidam sutor iudicaret, quod et ipsum in proverbium abiit.
:lol:
------------------------------------------------------
Cf. A. Otto, Sprichwörter der Römer, Leipzig 1890, p. 97.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Domingo » Mi 14. Jan 2009, 13:20

Ὦ φίλε ἑταῖρε,

Χάριν σοι ποιῶ.
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Mi 14. Jan 2009, 17:04

Schuster und Leisten sind klar - durch was ist aber das Aufgabengebiet eines Philologen begrenzt?
Da ich keiner bin :wink: , hätte ich jetzt aber doch gerne ein paar Meinungen zu Kochab und Pherkab vernommen. Äußert sich dazu irgendjemand in irgendeinem Ovid-Kommentar bereits?

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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Pyrrha » Mi 14. Jan 2009, 22:29

Optime Conse, ignosce quaeso sed argumentum tuum parum intellego. Si quod argumentum philologicum rationibus physicis expositis intellegi potest, aliter autem obscurum manet, cur sit nefas ita facere? Si philologi propter rerum inscitiam non audent quicuqid dicere, sane licitum est physicum sicut RM nostrum consulere. Constat quidem astra non omnia in tempora fixa manere, ergo quidni videamus, qualem aspectum Ovidii temporibus praebuerunt, si modo ipse Ovidius astronomica tangit? Idem quidem facimus, si Sirium sidus interpretamur aestum aestivum indicare, nam:
"Das Römische Reich ist verantwortlich für die Zeitansetzung (23. Juli bis 23. August) der Hundstage (lat. dies caniculares). Am Anfang der Römischen Königszeit erfolgte der sichtbare heliakische Aufgang von Sirius in Rom am 26. Juli;[1] zu Zeiten von Julius Cäsar im Jahr 46 v. Chr. am 1. August.[2]" - "Die Eigenbewegung des Sternbildes Canis Major und die Präzession der Erde sind dafür verantwortlich, dass sich die Zeit der Hundstage um etwa 4 Wochen verlagert hat. In Deutschland kann der heliakische Aufgang des Sirius erst frühestens ab dem 30. August beobachtet werden und ist damit jetzt ein Zeichen für den nahenden Herbstanfang. " (Wikipedia, Hundstage)
Si quidem argumentum quoddam methodis scientificis (scientiam naturalem significo) decerni potest, magis equidem rationibus scientificis me fido quam ratiocinationibus quamvis elaboratis philologicis, si scientiam naturalem praetereunt. Quod quatenus hic valeat, nescio, imprimis cum adhuc dubia mihi sint de "stella" illa, tamen cum interpretatio a RM allata physice pulcherrime conveniat, philologos, si aliter sentiant, oportet valida argumenta afferre cur Ovidius non de stellis polaribus geminis loquatur.
Omnibus rebus perpensis mihi quidem solutio a RM proposita elegantissima videtur.
Valete!
Zuletzt geändert von Pyrrha am Do 15. Jan 2009, 00:22, insgesamt 1-mal geändert.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Do 15. Jan 2009, 00:12

Und jetzt die entscheidenden Verse:

Cetera quae toto fulgent uaga sidera mundo
indefessa trahit proprio cum pondere caelum.
axis at immotus semper uestigia seruat
libratasque tenet terras et cardine firmo
orbem agit. extremum geminus determinat axem
quem Grai dixere polon: pars mersa sub undas
Oceani, pars celsa sub horrifero Aquilone.
Axem Cretaeae dextra laeuaque tuentur
siue Arctoe seu Romani cognominis Vrsae
Plaustraue, quae facies stellarum proxima uerae:
tres temone rotisque micant, sublime quaternae.


(auf der Suche nach gemin* + pol* gefunden mit LECTOR 2007 auf der PHI CD-ROM)

Ich könnte euch raten lassen, wer das geschrieben hat ... :? Kommt ihr drauf?

Und hier die Auflösung:

Es war Claudius Caesar Germanicus in Aratea, 17-27

Nett, nicht wahr?

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P.S.: @Pyrrha: Danke für die positive Beurteilung :)
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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Do 15. Jan 2009, 00:29

Ich glaube, ich habe jetzt verstanden, woher das alles stammt, nämlich von Aratos! Einen Link zu diesem Thema findet ihr hier: http://www.kzu.ch/fach/as/material/Realien/aratea/text03.htm.

Sogar ein Fragment von Cicero spricht von dem doppelten Polstern, nämlich aus den "Carmina Aratea" (habt ihr sicher alle schon gelesen :wink: ), und zwar:

Cic, AratPhaen, 26, 4-7:
Extremusque adeo duplici de cardine uertex
dicitur esse polus.
Hic [est qui] terra tegitur.
Quas nostri Septem soliti uocitare Triones.
Ex is altera apud Graios Cynosura uocatur,
altera dicitur esse Helice.
Hac fidunt duce nocturna Phoenices in alto;
sed prior illa magis stellis distincta refulget,
et late prima confestim a nocte uidetur.
Haec uero parua est, sed nautis usus in hac est:
nam cursu interiore breui conuertitur orbe.


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Re: Semantisches zu stella

Beitragvon Platon » Do 15. Jan 2009, 08:39

Ich glaube, ich habe jetzt verstanden, woher das alles stammt, nämlich von Aratos!


Von wem auch sonst :D, vgl. Arat. Phain. 24-35

Καί μιν [sc. οὐρανόν] πειραίνουσι δύω πόλοι ἀμφοτέρωθεν·
ἀλλ' ὁ μὲν οὐκ ἐπίοπτος, ὁ δ' ἀντίος ἐκ βορέαο
ὑψόθεν ὠκεανοῖο. Δύω δέ μιν ἀμφὶς ἔχουσαι
<Ἄρκτοι> ἅμα τροχόωσι· τὸ δὴ καλέονται <Ἅμαξαι>.
Αἱ δ' ἤτοι κεφαλὰς μὲν ἐπ' ἰξύας αἰὲν ἔχουσιν
ἀλλήλων, αἰεὶ δὲ κατωμάδιαι φορέονται,
ἔμπαλιν εἰς ὤμους τετραμμέναι. Εἰ ἐτεὸν δή,
Κρήτηθεν κεῖναί γε Διὸς μεγάλου ἰότητι
οὐρανὸν εἰσανέβησαν, ὅ μιν τότε κουρίζοντα
Δίκτῃ ἐν εὐώδει, ὄρεος σχεδὸν Ἰδαίοιο,
ἄντρῳ ἐγκατέθεντο καὶ ἔτρεφον εἰς ἐνιαυτόν,
Δικταῖοι Κούρητες ὅτε Κρόνον ἐψεύδοντο.
Platon
 

Re: Semantisches zu stella

Beitragvon RM » Mo 19. Jan 2009, 22:46

Wer von euch schaut eigentlich gerade sämtliche Ovid-Kommentare durch, um herauszufinden, wie weit das mit dem doppelten Polstern von den Ovid-Kommentatoren verstanden wurde? Habt ihr da schon Nachforschungen begonnen? Ich habe im Moment keine Zeit für aufwendige Recherchen.

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Beitragvon consus » Mi 21. Jan 2009, 12:57

Obiter dictum:
Forsitan operae pretium sit quaedam legere verba, quae Callimachus in Aetiorum libro posuit primo*; ex quibus apparet nautas Graecos Callisto, id est Ursam Maiorem, spectantes cursum tenuisse:
...
ενθ´ ο μεν ηδμωλει πη[δαλι]ωι
Τιφυς αγοι πομπ[ος γαρ απω]λετο Νωνακρινη
Καλλιστ[ω λιβα]δων αβροχος Ωκεαν[ου**
...
-----------------------
* Kallimachos, Werke. Griechisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Markus Asper, Darmstadt 2004, S. 80 (frg. 18, 8-10 = 17 Pfeiffer).
** Cf. l.c., app. crit.
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