Handelt Aeneas stoisch?

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Handelt Aeneas stoisch?

Beitragvon Adrianus » Do 16. Apr 2009, 19:32

Sehr geehrter Leser,

kann mir jemand von Ihnen die Frage beantworten? Aeneas tut das meiner Meinung nach nur teilweise, nämlich erst ab dem zweiten Teil des vierten Buches, nachdem er nicht mehr in Dido verliebt ist, also nach der Peripetie: Dem Eingreifen Merkurs und damit indirekt Juppiters. Nachdem Merkur Aeneas aufgefordert hat, aufzubrechen, kommt er dem sofort nach. Er fügt sich also dem fatum. Genau das ist meines Erachtens stoisch. Seneca spricht in den epistulae morales davon, dass man sich Notwendigkeiten - wie beispielsweise dem fatum - beugen müsse. Das macht er in einem Brief am Beispiel des Todes fest: Der Tod ist notwendig, kein Mensch könne sich dem entziehen. Deshalb dürfe man den Tod nicht fürchten, sondern müsse ihn eben als Notwendigkeit annehmen. Dasselbe, so scheint es mir, ist es auch mit dem fatum der Götter, also das fatum als Notwendigkeit, der sich der Mensch fügen muss. Ich denke, unter diesem Aspekt handelt Aeneas stoisch. Welche Meinung haben Sie diesbezüglich? Kann man weitere stoische Komponenten in der Aeneas finden? Oder vielleicht auch Widersprüche zur Philosophie der Stoa?

Weiterhin bin ich im Internet auf der Suche nach einer Übersetzung zu Senecas "de clementia" - leider bisher erfolglos. Können Sie mir womöglich eine Seite nennen, auf der ich eine Übersetzung finde?

Vielen Dank für Ihre Antworten

Adrianus

Der Beitrag sollte übrigens ins Lateinforum.
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Re: Handelt Aeneas stoisch?

Beitragvon Catilina coniuratus » Fr 17. Apr 2009, 11:46

Hallo Adrianus,

ich beschäftige mir zur Zeit auch wieder mit der Aeneis. Nun ist die Aeneis eine wahre Fundgrube für jede Art von Weltanschauungen und Verhaltensmotiven. Es ist einfach ein Meisterwerk. Sie wird nicht umsonst die Bibel der Antike genannt. Nach meiner Laienmeinung dominiert das fatum sicherlich Aeneas` Handeln, aber ich kann in ihm im Kern keinen Stoiker oder Epikureer erkennen. Vielmehr beugt er sich in seiner pietas (religio) mit viel Mühe dem großen Ganzen. Er setzt sein Vertrauen auf die Götter, unterwirft sich also dem fatum, das durch die Götter bestimmt wird, die in der Aeneis wiederum sehr menschliche Züge haben. Im Gegensatz zu Seneca sind die Götter nicht abstrakt und mit bestimmender Weisheit ausgestattet, sondern mit ihren menschlichen Zügen und Verfehlungen greifbarer. Menschenähnliche Wesen mit menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen bestimmen in ganz auffälligerweise den Gang der Dinge. Aeneas wiederum hadert und zweifelt oft an seiner Bestimmung, so daß er durch die Götterprophetien / -“erscheinungen“ in seinem Handeln immer wieder bestärkt werden muß. Er ist zweifellos das, was wir heute als äußerst religiös bezeichnen würden, aber er ist auch überfordertes Werkzeug der Götter. Ihm fehlt die tiefe Einsicht und das Verständnis für seine und Roms Bestimmung. Er muß von den Göttern oft im wahrsten Sinne des Wortes nach Italien geschubst werden. Sein Handeln erscheint mir nicht stoisch, insofern „stoisch“ eine kontinuierliche Geisteshaltung bezeichnen möchte. Punktuell erscheinen solche Interpretationen nahe, weil sich unser poeta doctus in seinem Nationalepos sehr viel Mühe gegeben hat, das römische Wesen aus verschiedenen Perspektiven in seiner Geschichte und Tradition zu beleuchten. Der Charakter Aeneas muß dennoch als Ganzes gezeichnet werden. Hierzu gehört auch der Aeneas, der der unverzeihlichen Dido in der Unterwelt begegnet und ihre harte Gesinnung schlecht verträgt ... Aeneas Handeln bleibt von pietas und fides dominiert. Ein Stoiker auf Reisen ist er schwerlich, wenn er sichtliche Schwierigkeiten hat, bei aller Tragik die Notwendigkeiten zu akzeptieren (- dennoch tut er es!) , aber in momento verkörpert er in der Tat hier und dort neben vielen anderen auch stoische Charakterzüge, die Bestandteile der römischen Geisteshaltung widerspiegeln.

Gruß,
Catilina
Ceterum contendo Carthaginem esse delendam.
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Re: Handelt Aeneas stoisch?

Beitragvon Willimox » Fr 17. Apr 2009, 12:21

Salvete,

ergänzend zu Catilina:

(1) Der Befund

In der Aeneis soll – so der Auftrag der Götter (Zeus) – Aeneas von Troja nach Italien segeln, dort die Herrschaft gewinnen und in Latium den Grundstein für Roms spätere Weltherrschaft legen.

Die Göttin Juno/Hera behindert diese Fahrt, sie ist zornig auf die Trojaner und die trojanische Königsfamilie. Denn Paris, der Bruder von Aeneas, hat bei einem Schönheitswettbewerb den goldenen Apfel nicht der Göttermutter, sondern der Liebesgöttin Venus überreicht.

Junos Zorn scheint sich zu mildern, als Aeneas nach Karthago kommt. Sie tut alles, damit Aeneas sich in die Karthagerkönigin Dido verliebt. Denn Karthago ist Junos Lieblingsstadt. Sucht Aeneas sein Glück jenseits des „politischen Auftrags der Götter“ im privaten Bereich der Liebe, dann wird die Zukunft anders aussehen als von den Göttern geplant: Rom wird Karthago nicht vernichten, und Juno ist doppelt glücklich. Denn im Erfolgsfall hat sie ihrem Favoriten eine glänzende Zukunft beschert und gleichzeitig die Vorrangstellung des trojanisch(-römischen) Intimfeindes Rom unterbunden.

Juppiter ruft den Götterboten Mercur zu sich, der soll dem „pflichtvergessenen“ Aeneas folgendes ausrichten:

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Non illum nobis gentrix pulcherrima talem
Promisit Graiumque ideo bis vindicat armis;
Sed fore, qui gravidam imperiis belloque frementem
Italiam regeret (…) ac totum sub leges mitteret orbem.
(…)
Naviget! Haec summa est, hic nostri nuntius esto.
(Vergil: Aeneis IV, 227ff.)

Nicht versprach uns seine wunderschöne Mutter jenen Aeneas als solchen (erotikfaszinierten) Typen;
Und nicht deshalb befreite sie ihn zweimal aus der Waffengewalt der Griechen;
Vielmehr sollte er einer werden, der das machtschwere und im Kampf tosende Italien regiert und den ganzen Erdkreis unter seine Gesetze zwingt.
Er soll segeln! Das ist das Wichtigste, das soll die Botschaft von uns
sein.

Die Rhetorik des mächtigen Zeus wirkt, Aeneas verzichtet auf das private Glück mit Dido und erfüllt seinen politischen Auftrag, die Gründung des römischen Reiches und - cum grano salis - die Zivilisierung des Erdkreises ("orbem sub leges mittere").

(2) Stoisch?

Ich lasse den Aspekt "Fatumgehorsam" beiseite, er scheint mir durchwachsen. Ähnlich "durchwachsen" auch die Klassifizierung mittels anderer Merkmale:

- "Das" Stoische in seiner idealtypischen Formel hat wohl obligatorisch das Merkmal abgeklärte apathia. Oder gar "eupathia". Die liegt bei Aeneas in der Dido-Episode sicher nicht vor.

- Die Dominanz von Vernunft über den Triebapparat ist bei A. auf eine sehr individuelle Weise gegeben.

- Vor der spätstoischen Phase gilt das "accedere ad rem publicam", hier metonymisch für politisches Engagement, als wichtiges Element des "beate vivere".

- Im epikuräischen Umkreis gilt politisches Engagement eher als glücksverhindernd. Die unversöhnliche Dido der Unterwelt hat da auf ihre Weise sícher auch in der Perspektive des Epos ihr (Teil-)Recht.

Fazit:

Kein idealtypischer, reflektierender Stoizismus. Wohl aber - unterhalb von solchen Formeln - ein Konflikt zwischen Hedonismus, Privatglück und historisch-politischem Auftrag. Der Konflikt wird im Kampf - wörtlich und metaphorisch - ausgetragen. Eine kontinuierlich-abgeklärte Handlungsweise oder Mentalität? Nein, etwas Interessanteres - das sagt ja Catilina coniuratus. Einfühlung ist bei diesem Helden, der alles andre als tugendblass ist, sehr gut möglich: Anteile, Motive, menschliche Schattierungen - sie geben den Ausschlag.

Vale(te)
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