Gräzismen bei Sallust

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Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Catilina coniuratus » Do 30. Apr 2009, 21:21

1) Sall. Iug. 34,1 [34] Deinde ubi Memmius dicendi finem fecit et Iugurtha respondere iussus est, C. Baebius tribunus plebis, quem pecunia corruptum supra diximus, regem tacere iubet, ac tametsi multitudo, quae in contione aderat, vehementer accensa terrebat eum clamore, uultu, saepe impetu atque aliis omnibus, quae ira fieri amat, vicit tamen impudentia.


2) Sall. 84,3 Neque illi senatus, quamquam aduersus erat, de ullo negotio abnuere audebat. Ceterum supplementum etiam laetus decreverat, quia neque plebi militia volenti putabatur et Marius aut belli usum aut studia uulgi amissurus.

3) Sall 100,4 Ipse armatus intentusque, item milites cogebat. Neque secus atque iter facere, castra munire, excubitum in porta cohortis ex legionibus, pro castris equites auxiliarios mittere, praeterea alios super vallum in munimentis locare, vigilias ipse circumire, non tam diffidentia futurum quae imperauisset, quam uti militibus exaequatus cum imperatore labor volentibus esset.

SCHMAL (Sallust) führt die oben fett markierten Stellen unter Gräzismen auf. Aber worin liegen diese genau? Mein Griechisch ist ein wenig eingerostet. M. E. liegt in Bsp. 1. nur eine relative Verschränkung vor. Gibt es Verwandtschaften zum Griechischen im Satzaufbau, die typisch sind? - Was ist mit Bsp. 2. und 3. ? Darf man den eigenwilligen Gebrauch von "velle" zum Bezugswort als Enallage bezeichnen? Wo genau liegen hier die Parallelen zum Griechischen?

Gruß,
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Procopius » Do 30. Apr 2009, 22:06

Zum ersten Satz:
Amare ist wie gr. φιλεῖν mit Infinitiv gebraucht und bedeutet gerne tun, pflegen. quae ira fieri amat ist sonach konstruiert wie beispielsweise Herodot 7,9,γ: ἀπὸ πείρης πάντα ἀνθρώποισι φιλέει γίνεσΘαι. Man sollte daher quae als Nominativ und ira als Ablativ verstehen: "..., was im Zorn zu geschehen pflegt... .
(vgl. aber auch Kühner/Stegmann I,693: danach soll amare hier "wollen" bedeuten und a.c.i. vorliegen.)
Ich neige dazu - wie Dein Gewährsmann - , einen Gräzismus anzunehmen.
Zuletzt geändert von Procopius am Fr 1. Mai 2009, 00:48, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Procopius » Do 30. Apr 2009, 23:21

Satz 2:
..., weil man glaubte, daß dem Volk der Kriegsdienst auch nicht angenehm sei, und Marius ... . esse ist zu putabatur zu ergänzen, also n.c.i. Soviel zum Verständnis.
Im übrigen:
volenti entspricht dem gr. βουλομένῳ oder ἐθέλοντί μοί τί ἐστιν. Dort sehr gebräuchlich. Im Lateinischen würde man sagen: quia plebi militia grata - oder optabilis - esse putabatur, aber nicht das Partizip gebrauchen.
Ein Gräzismus liegt also auch hier vor.
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Catilina coniuratus » Fr 1. Mai 2009, 02:21

Salve, Procopi,

vielen Dank für deine hilfreichen Ausführungen. Man muß sich in jedem Fall gut überlegen, inwieweit man Sallust einen Gräzismus anmuten möchte:

Möchte man im ersten Satz einen Gräzismus annehmen, ist das in jedem Fall eine Härte, vor allem die Nachahmung des kollektiven Singulars bei Neutra im Griechischen so auf das Lateinische zu verlagern. Das könnte man umgehen, wenn man die rel. Verschränkung mit ACI liest, ferner "amare" in der ursprünglichen Bedeutung ermöglicht, was im Zusammenspiel mit "ira" ein schönes Oxymoron ergibt. Ich bevorzuge letzteres, obwohl Sallust der Gräzismus zuzutrauen wäre.

Der Gräzismus im zweiten Satz erscheint mir nun plausibler. Der Lateiner würde in "militia" keinen agens sehen, so daß "militia volens" in diesem Sinne undenkbar wäre.

Gruß,
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Domingo » Fr 1. Mai 2009, 22:04

Catilina coniuratus hat geschrieben:Möchte man im ersten Satz einen Gräzismus annehmen, ist das in jedem Fall eine Härte, vor allem die Nachahmung des kollektiven Singulars bei Neutra im Griechischen so auf das Lateinische zu verlagern.


Ich fände es ebenfalls grenzwertig. Man müsste Parallelen dazu finden, es wäre das erste Mal, dass ich sowas sehe.

Andernfalls sollten wir am besten bei der natürlicheren Interpretation bleiben:

Das könnte man umgehen, wenn man die rel. Verschränkung mit ACI liest, ferner "amare" in der ursprünglichen Bedeutung ermöglicht, was im Zusammenspiel mit "ira" ein schönes Oxymoron ergibt. Ich bevorzuge letzteres, obwohl Sallust der Gräzismus zuzutrauen wäre.
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Procopius » Fr 1. Mai 2009, 23:10

Catilina coniuratus hat geschrieben: Man muß sich in jedem Fall gut überlegen, inwieweit man Sallust einen Gräzismus anmuten möchte.

Ich stimme Dir in fast allem, was Du zum ersten Satz sagst, zu. Inzwischen habe ich noch einen alten Schülerkommentar ausgegraben, der zu der Stelle sich so verlauten läßt: " quae...fieri: Acc.c.Inf., abhängig von amat, wozu ira Subjekt ist; amare ist in ungewöhnlicher Weise wie velle oder cupere konstruiert." (Das ist aus Kühner/Stegmann, siehe meinen Beitrag.)
Wenn das richtig ist, müßte man den Gräzismus jedenfalls in der Konstruktion von amare mit a.c.i (bzw. inf.) sehen. Vgl. nur die zahlreichen griechischen Beispiele, die bei LSJ zu φιλέω bei Nr. II. zu finden sind.
Aber sicher ist dieses Verständnis der Stelle keineswegs. Das Lateinische kennt die gräzisierende Konstruktion 'Subjekt im Neutrum Plural mit dem Prädikat im Singular (vgl. Leumann/Hofmann/Szantyr (1972), S.431 zu C.a). Allerdings meint Szantyr, sie sei aufs Spätlatein beschränkt.
Insoweit ist aber grundsätzlich Skepsis angebracht. Was in einer Grammatik steht, kann nie Dogma sein. Maßgeblich ist allein die Interpretation der einzelnen Textstelle, die wir jetzt - in diesem Augenblick - vornehmen. Und die steht in keiner Grammatik. Und wenn sie vernünftig, das heißt in sich schlüssig ist, dann ist sie auch richtig.
Im übrigen sprechen für meine Interpretation die vielen Stellen, an denen 'amare' einfach = solere = φιλεῖν ist. Vgl. z. B. Ammian 16, 12, 40: utque in rebus amat fieri dubiis; 17,1,7:ut enim in rebus amat fieri dubiis et turbatis; aber 18,8,8: ut in rebus solet afflictis. [Verzeihung, ich hab' grad' eine Liaison mit ihm und daher schaue ich andere Autoren momentan nicht an.] :-D
Aber für Dich spricht auf jeden Fall Deine grandiose Entdeckung des Oxymoron.
Ein Gräzismus bleibt es so oder so.
Viele Grüße
Procopius :)
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Zythophilus » Fr 1. Mai 2009, 23:25

SALVETE
Der "Stowasser" führt bei amo 1 genau diese Stelle (unter Punkt 2) an und übersetzt gleich "was der Zorn zu tun pflegt", wobei irā als Abl. gekennzeichnet ist. Welche Konstruktion wir hier vor uns haben, wird nicht gesagt, einen AcI bei amare erwähnt der Stowasser freilich überhaupt nicht.
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Catilina coniuratus » Sa 2. Mai 2009, 00:07

Zythophilus hat geschrieben:SALVETE
Der "Stowasser" führt bei amo 1 genau diese Stelle (unter Punkt 2) an und übersetzt gleich "was der Zorn zu tun pflegt", wobei irā als Abl. gekennzeichnet ist. Welche Konstruktion wir hier vor uns haben, wird nicht gesagt, einen AcI bei amare erwähnt der Stowasser freilich überhaupt nicht.
VALETE


Hallo Zythophilus,

aber wir wissen, daß nach Verben des Gefühls- oder der Gefühlswahrnehmung selbstverständlich der ACI (oder "quod") stehen kann (s. RB). Zu dieser Zeit reicht meine Motivation nur für einen flüchtigen Blick in den Kühner/Stegmann (im Verzeichnis Bd. 2)// Georges aus, um diese Konstruktionsmöglichkeiten bei "amare" mit Inf. oder ACI bestätigt zu sehen. - Die von Dir angegebene Übersetzung wird traditionell übernommen. Das ist unumstößlich. Euch allen eine angenehme Nacht!

Gruß,
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Procopius » Sa 2. Mai 2009, 00:25

ein kleiner ζυθοφίλος dieser Stowasser? Aber nichts für ungut, Zythophilus!

"unumstößlich" ist im übrigen in solchen Fragen nichts.
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Zythophilus » Sa 2. Mai 2009, 08:38

Procopius hat geschrieben:ein kleiner ζυθοφίλος dieser Stowasser? ...
Das verstehe ich nicht ganz.

Natürlich wissen wir, dass
nach Verben des Gefühls- oder der Gefühlswahrnehmung selbstverständlich der ACI (oder "quod") stehen kann
, o Catilina.
Warum sagt es dann der Stowasser nicht? Offenbar war auch für die Herausgeber dieses WBs die Stelle nicht so eindeutig, dass sie sich für eine Variante entscheiden wollten, sonst hätten sie ja AcI hingeschrieben. Es macht den Eindruck, als hätten sie sich gedrückt und gemeint, der normale Benutzer, zumeist ein Schüler, werde schon zufrieden sein, wenn er beim Übersetzen der Salluststelle im WB die ÜS findet.

Die Möglichkeit, dass ira personifiziert im Nominativ steht, wie dein Kommentar, o Procopi, sagt, und somit Subjekt des Gliedsatzes ist, schließen die Herausgeber aus, indem sie den Ablativ irā deutlich kennzeichnen, doch die Übersetzung deutet darauf hin, wenn sie "was der Zorn zu tun pflegt" angeben.
M.E. würde der Nominativ sehr gut passen, womit auch das Verb amare von seiner abgeschwächten Bedeutung "pflegen" zu seiner Grundbedeutung zurückkommt: Ein personifizierter Volkszorn hat eben auch Gefühle!
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Catilina coniuratus » Sa 2. Mai 2009, 09:36

O o o Zythophile, die Herausgeber haben sich an Deiner Stelle schlicht und ergreifend vertan, so daß ein Druckfehler vorliegt, beide Varianten in der Vorlage versehentlich vermengt o. ä. Wir wissen leider gar nichts darüber, weshalb ich von Spekulationen abraten würde. Denn mein Stowasser anno 1991 gibt "ira" eindeutig als Nominativ mit kurzem "a" wieder, was zu dieser Zeit eine eindeutige Entscheidung für den Nominativ widerspiegelt. Das beweist nur, daß man sich durch den Stowasser in solchen Fragen nicht die Entscheidung abnehmen sollte, obwohl ich, wie bereits ausgeführt, auch die Lesart des Nominativs bevorzuge.


Gruß,
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 2. Mai 2009, 09:42

Ich habe in meinem Stowasser (Auflage 2006) mal unter amo Punkt 2 nachgeschaut....
Bei mir ist auch über dem a von ira ein Strich.... :wink:
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon romane » Sa 2. Mai 2009, 13:11

der Georges hat ein kurzes -a
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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon Zythophilus » Sa 2. Mai 2009, 15:21

SALVETE
SALVE, Catilina!
Auch wenn man sich die Entscheidung von einem WB nicht abnehmen lassen sollte, so ist doch eine gewisse Hilfestellung zu erhoffen.
Einen Schreib- oder Satzfehler würde ich hier nicht vermuten; dass ein solcher Strich unabsichtlich über das a gesetzt wurde, ist schwer vorstellbar; umgekehrt wäre das Verschwinden eines Striches leicht als Versehen zu erklären. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem m-Kürzungsstrich in Handschriften, der, wo er überflüssig ist, dennoch bewusst gesetzt wurde, wenn er für nötig befunden worden war.
Wer diesen Strich über das a setzte, tat dies, um darauf hinzuweisen, dass es ein Ablativ sein soll, was in früheren Stowasser-Auflagen nicht der Fall gewesen war; das mag objektiv falsch sein, geschah aber nicht durch Zufall, sondern durch Entscheidung von Philologen, die an der Neuausgabe arbeiteten. Auch wenn man hier die Abl.-Variante wählt - welche mir freilich auch nicht zusagt -, lässt sich die etwas freiere ÜS, die der Stowasser bietet, immer noch rechtfertigen.
Vielleicht begegne ich ja einmal einem der Bearbeiter der Neuauflage und - was nicht mehr so wahrscheinlich ist - entsinnt sich der des Lemmas amo.

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Re: Gräzismen bei Sallust

Beitragvon romane » Sa 2. Mai 2009, 16:39

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