Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

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Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Didymos » Sa 16. Mai 2009, 18:48

Saluete !

In Wikipedia liest man:
>> In seinem Werk über die Landwirtschaft empfiehlt Varro, Landhäuser entfernt von Sümpfen anzulegen, in denen animalia quaedam minuta, quae non possunt oculis consequi (= kleine Tierchen, die man nicht mit den Augen wahrnehmen kann) leben, die, durch Mund und Nase aufgenommen, schwere Krankheiten hervorrufen können. <<

Zwei Fragen bereiten mir in diesem Zusammenhang Probleme :

1.Ich habe von der UB die kritische Textausgabe von Dieter Flach ausgeliehen. Diese bietet aber folgenden Text: " ...quae non possunt oculi consequi...". Im Apparat wird keine Variante genannt.
Die Frage ist ob diese Lesart bezeugt ist und / oder möglich wäre
Denn meiner Meinung nach könnte man consequi auch passiv interpretieren, und oculis = von den Augen verstehen. Was meint Ihr ?

2. An welche " animalia" könnte Varro konkret gedacht haben ? Meiner Recherche zufolge sind es Mikroorganismen, von deren Existenz Varro, wie man aus dieser Stelle schließen kann bereits wußte. Sollte man das annehmen oder könnten doch auch nur winzige Fliegen gemeint sein ?
Für mich vermitteln die Worte " animalia quaedam minuta" den Eindruck, daß Varro ein konkreteres Bild im Kopf hatte...

Ich freue mich auf Eure Gedanken !

Grüße,
Didymos
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 16. Mai 2009, 19:10

Salve Didymos, mein Beitrag als Mediziner ;-)
Es muß sich um die Malaria gehandelt haben, die in dieser Zeit auch im Mittelmeerraum endemisch war, wo sie heute praktisch nicht mehr vorkommt.
Die Übertragung geschieht durch die Anophelesmücke durch Stich und anschließende Übertragung der Plasmodien, ein komplizierter Weg im Körper führt dann zum Befall der Erythrozythen (roten Blutkörperchen) und führt dann zu Fieberschüben usw....
Varro ist sicher der Infektionsweg noch nicht bekannt gewesen....
Auch in den heutigen Malariagebieten gedeihen die Mücken vorwiegend in sumpfigen Gelände und in der Nähe von Seen/Flüssen...
Heutige Malariaverteilung (Mittelmeerraum nicht mehr betroffen)
http://www.dtg.org/uploads/media/Karte_2008.pdf

Schönes Wochende :)
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Zythophilus » Sa 16. Mai 2009, 19:28

Passives consequi?
Wenn die Variante oculis consequi nirgends handschriftlich überliefert ist, dann sollte man von einem einfachen Druck- bzw. Schreibfehler ausgehen. Gibt es sonst irgendwo bei Varro eindeutige Belege für eine passive Verwendung von sequi oder eines seiner Komposita?
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon RM » Sa 16. Mai 2009, 20:14

Im Georges findet man zwei Belege für passives consequi. Vom Sinn her ist es aber eher egal. Auf PHI5 steht "oculi consequi" (ed. G. Goetz, 1929)

Allerdings wird Malaria nicht durch Trinken nicht abgekochten Wassers aufgenommen, es gibt aber andere Krankheiten, wo das so ist. Man sieht, wenn man gute Augen hat, in solchen Gewässern mitunter eine Menge kleinster Tierchen, Mückenlarven, Wasserflöhe etc. Was in Italien vorkam, könnte man vielleicht in den Sümpfen bei Comacchio nachprüfen.

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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 16. Mai 2009, 20:31

@RM:
Varro war der Infektionsweg der Malaria nicht bekannt, Mikroorganismen auch nicht. Deswegen konnte er den Weg der Übertragung nicht ahnen. Malaria war in der Antike endemisch, gerade in Sumpfgegenden. Bei verunreinigten Trinkwasser kann man z.B. auch an Cholera, oder auch Hepatitis A denken (fäkal-orale Übertragung), aber all das wußte Varro ja nicht. In der Häufigkeit der Erkrankungen war Malaria halt sehr häufig damals.
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 16. Mai 2009, 23:33

Noch etwas zum Thema:
Ausführlich dokumentiert ist der Kenntnisstand antiker Autoren über die Malaria. Neben zahlreichen Erwähnungen des Wechselfiebers in medizinischen Schriften, z.B. im Corpus Hippocraticum, stammt die klinisch präziseste Beschreibung und Differenzierung der Krankheitsformen von Aulus Cornelius Celsus (+ um 50 n.Chr). Varro, Columella und Vitruvius vertraten die um die Zeitenwende die ungewöhnlich kühne Hypothese, dass das Wechselfieber von kleinen Tieren aus den Sümpfen käme ...


Quelle: http://www.unet.univie.ac.at/~a7505973/texte/A236.pdf
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon consus » So 17. Mai 2009, 10:28

Salvete, amici.
Addendum. Quod ad febrium curationem attinet, ad fontes! Legite modo, quid Celsus in tertio De medicina scripserit (cap. 3 – 17, imprimis cap. 4, 11sqq.).
Quam saluberrimum vobis precor diem Solis.
:-D
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Didymos » So 17. Mai 2009, 12:04

Vielen Dank für Eure interdisziplinäre Hilfe ! :-D

Das medizinische Problem hat Medicus geklärt man wird animalia quaedam minuta dann also als Anophelesmücke verstehen...

Mein Gedanke ging übrigens zunächst in Richtung Lungenkrankheit : daß es sich um Tiere handelt die durch die Atemröhre in die Lungenflügel gelangen und dort Asthma oder etwas ähnliches verursachen...Aber dafür wäre wahrscheinlich das Wort pestilentia zu stark...

Die Lesart " quae non possunt oculis consequi " ist für mich noch rätselhaft : Es müßte der Schreibfehler immerhin so geartet sein daß der Satz trotzdem übersetzbar ist und einen Archaismus enthalten würde...Man könnte doch Varro einen Archaismus zutrauen ? Daß es laut Dieter Flach in den Handschriften nicht belegt ist ist aber seltsam...

Grüße,
Didymos
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon RM » So 17. Mai 2009, 12:25

@Medicus:
Ist schon klar, aber Varro sagt ja ganz pauschal "... atque efficiunt difficilis morbos." Ob mit den "difficilis morbos" nur die Malaria gemeint ist? Wie steht es mit Cholera, Typhus, Ruhr etc.? Celsus war ca. 100 Jahre später - gut, da werden sich die Erkenntnisse nicht sehr geändert haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Horazstelle, nämlich Hor, S, 1, 5, 7-15 (auf dem Weg durch die Pontinischen Sümpfe).

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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon RM » So 17. Mai 2009, 12:30

Didymos hat geschrieben:Die Lesart " quae non possunt oculis consequi " ist für mich noch rätselhaft : Es müßte der Schreibfehler immerhin so geartet sein daß der Satz trotzdem übersetzbar ist und einen Archaismus enthalten würde...

Da hat wohl jemand was falsch verstanden, aber, wie ich schon sagte: ein Blick in den Georges und schon findet man Hinweise auf ein passives consequi. Für die Satzbedeutung ist das jedoch nicht relevant. Die Anophelesmücke selbst ist jedoch sicher nicht mit den Tieren "quae non possunt oculi consequi" gemeint. Mücken kann man ja mit den Augen ganz gut sehen ...

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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon consus » So 17. Mai 2009, 12:45

Addendum. Zur passiven Verwendung von sequi und dessen Komposita: Kühner-Holzweissig, S. 918 (Liste).
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Didymos » So 17. Mai 2009, 14:03

Wenn die Anophelesmücke gemeint ist, müßte die Übertragung mit dem Erreger im Magen-Darm-Bereich erfolgen ( ansonsten geschieht dies eher nach Stich durch die Mücke) ?

@Consus
Und folgt daraus daß Du die passive Lesart im konkreten Fall befürwortest oder ablehnst ?
( Kühner- Holzweissig ist am Sonntag für mich nicht erreichbar, sollte das aus der Liste dot hervorgehen )

Grüße,
Didymos
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Merkur » So 17. Mai 2009, 14:51

Didymos hat geschrieben:@Consus
Und folgt daraus daß Du die passive Lesart im konkreten Fall befürwortest oder ablehnst ?



Ich möchte mir nicht anmaßen, für consus sprechen zu dürfen, aber ich denke, es ist lediglich gemeint, dass consequi passiv sein kann, somit u.U. auch Verwendung an uns jetzt interessierenden Ort denkbar wäre.

Wenn allerdings eine textkritische Ausgabe diese Lesart nicht anführt, dann geschieht dies wohl mit guten Gründen (z.B. spätere, eindeutig verderbte Handschrift, unnötige spätere Konjektur o.ä.)
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Re: Mikrobiologie bei Varro, Landwirtschaft 1, XII,2

Beitragvon Medicus domesticus » So 17. Mai 2009, 15:16

Wenn die Anophelesmücke gemeint ist, müßte die Übertragung mit dem Erreger im Magen-Darm-Bereich erfolgen ( ansonsten geschieht dies eher nach Stich durch die Mücke)


Die Ansteckung der Malaria erfolgt über Stich der Mücke durch die Haut und Einbringung der Sporozoiten in die Blutbahn und dann erfolgt die Weiterentwicklung der Erkrankung im menschlichen Körper.

Ihr müßt eins bedenken: Angaben in antiken Texten und in der antiken Medizin kann man nicht immer wörtlich nehmen. Vergleicht mal die Lehren in der antiken Medizin, die heute z.T. überholt sind.
Wie soll Varro wissen, dass ein Mückenstich die Ursache der Malariaerkrankung ist? Das würde ein Mensch im Altertum nie vermuten, der von Bakterien, Parasiten usw. kein Wissen hat. Varro und andere bemerken, dass in der Nähe von Sümpfen Erkrankungen entstehen, also werden Erklärungen gesucht, die natürlich oft mit der Realität nichts zu tun haben. Welche Erkrankung es genau ist, wissen Varro et al. ja nicht, theoretisch auch Cholera, Typhus, Hepatitis A, obwohl eine endemische Ausbreitung dieser Erkrankungen infolge Gewässerverunreinigungen eher in dichter besiedelten Orten zu erwarten ist. Malaria ist ja ubiquitär in der Nähe von sumpfigen Gewässern.
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Beitragvon consus » So 17. Mai 2009, 15:55

Salve, Didyme.
eine textkritische Ausgabe diese Lesart nicht anführt
schreibt Merkur, und da stimme ich ihm zu, also wohl eindeutig ... oculi consequi... . Die Lesart der bei Kühner-Holzweissig (S. 918) genannten Cicero-Stelle (Verr. II 2, 181) ist wohl nicht sicher: ut hac diligentia nihil eorum investigari, nihil assequi potuerit, denn man liest auch ut haec diligentia ... nihil eorum investigare, nihil assequi potuerit. :)
Zuletzt geändert von consus am So 17. Mai 2009, 18:40, insgesamt 2-mal geändert.
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