Was ist Scholastik?

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Was ist Scholastik?

Beitragvon Laptop » Di 30. Jun 2015, 16:14

Salvete! Cicero sagt, ein Nomen (im Nominativ) und ein Verbum (in der 3. Person) bilden eine Aussage, die auch verneint werden kann. "Gott ist allmächtig" ist eine Aussage, die nicht verneint werden kann. Demnach ist "Gott ist allmächtig" keine Aussage.

Kann man das als Beispiel dessen nehmen, was man unter Scholastik versteht? Beziehungsweise, als Luther die Lehren der scholastici als „erlogenes, verfluchtes, teuflisches Geschwätz“ bezeichnete, wen meinte er damit?
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Re: Was ist Scholastik?

Beitragvon Prudentius » Di 30. Jun 2015, 17:48

Hallo Laptop,

dazu gibt es viel zu sagen :-D , ist es wörtlich bei Cicero? Die Definition ist sowohl zu eng als auch zu weit:
zu eng ist sie, weil das Prädikat auch in der 1. Person stehen kann: "Cogito, ergo sum", zwei Aussagen; zu weit ist sie, weil nicht dasteht, dass Numerus-Kongruenz zwischen S. und P. bestehen muss. Nach Cicero wäre also "Deliciae tacet" eine Aussage.

Ich würde die Aussage ungefähr so definieren: "Ein S., das P. durch N-Kongruenz, und ein P., das S. durch Kasusrektion (Nominativ) bindet, bilden eine Aussage".

Demnach ist "Gott ist allmächtig" eine Aussage, wenigstens in diesem Sinne; es ist aber zweifelhaft in anderer Hinsicht: ist "allmächtig" überhaupt ein wasserdichter Begriff? Schon Aristoteles sagte, dass selbst Gott das Geschehene nicht ungeschehen machen könnte. Das wissen die Theologen und sagen deshalb lieber, Gott sei über jede sprachliche Festlegung erhaben ("via negativa", man könne nur sagen, was er nicht ist).

""Gott ist allmächtig" ist eine Aussage, die nicht verneint werden kann." Verneinen kann man sie schon, aber die frommen Theologen sagen, dass die Verneinung falsch sei: das musst du unterscheiden.

Laptop, du musst hier erkennen, Wahrheitsbehauptungen brauchen einen festgelegten Bereich, innerhalb dessen sie gelten; man kann nicht generell jede Behauptung für wahr/falsch ansehen; nimm dieses einfache Beispiel: "Es gibt eine kleinste Zahl": das ist eine wahre Behuptung im Bereich der natürlichen Zahlen, aber eine falsche bei den ganzen Zahlen: da gibt es negative Zahlen bis ins Unendliche.

Demnach ist "Gott ist allmächtig" keine Aussage.


Fehlschluss, wie gesagt.

Kann man das als Beispiel dessen nehmen, was man unter Scholastik versteht?


Nein, hier sind zwei ganz verschiedene Begriffe von Scholastik im Spiel ("Homonyme kann man sie nennen); wir heute verstehen unter Scholastik das höhere Bildungswesen des MA., mit berühmten Universitäten wie Bologna, Paris, Köln, und illustren Namen, wie Thomas von Aquin; Luther aber verwendet den Begriff hier im abschätzigen Sinne, das Schulmäßige als das Lebensferne, das Autoritätsgläubige im Gegensatz zum eigenen Denken.

lgr. P. :)
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Re: Was ist Scholastik?

Beitragvon Laptop » Di 30. Jun 2015, 18:14

Mir ist klar, daß mein Beispiel ein Fehlschluß ist. Meine Frage war ob solche Scheinlogik ein Merkmal der Scholastik ist? Ich weiß daß es dazu viel zu sagen gibt, und meine Frage etwas zu weit gefaßt ist. Dennoch versuche ich mir einen Begriff von der Scholastik zu machen, so sie denn überhaupt zu greifen ist. Soweit ich weiß fing die Scholastik aber schon weit vor dem Hochmittelalter an. Zuerst mit Augustin, dann besonders mit Boethius.
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Re: Was ist Scholastik?

Beitragvon Prudentius » Mi 1. Jul 2015, 20:02

Hallo Laptop,

"Scholastik" ist wohl ein nztl. Sammelbegriff für das ma. Bildungswesen, man lässt sie wohl nach der Epoche der "Kirchenväter" beginnen, von denen es gr. und l. gegeben hat, Gregor v. Nyssa, Gregor v. Nazianz, Basilius, und Augustinus als der bedeutendste.

Die Scholastik ist einzigartig in der Geschichte, insofern es eine einheitlich gegliederte Bildungslandschaft gab, in l. Sprache, und mit berühmten Zentren, den Universitäten, wie gesagt; es gab eine gesamteuropäische geistige Kultur und eine einheitliche Ausrichtung, nämlich auf Rom hin, mit Licht- und Schattenseiten.

Die Bewertung der Scholastik ist arg umstritten, es ist ein echtes Mienenfeld; besonders seit der Aufklärung wird die Scholastik als der Inbegriff der geistigen Finsternis des finsteren MA. angesehen; in der Scholastik waren ja die Gegner der revolutionären Umbrüche der frühen NZ. beheimatet.

Dagegen wir von der altphilologischen Zunft sehen sie positiver, wir erkennen ja die Fortsetzer der großen antiken Geister, Platonismus und Aristotelismus.

"Scheinlogik" ist sicher kein Merkmal der Scholastik, man meinte ja, richtig zu schließen, man war sich dabei nicht der Begrenztheit der eigenen Sicht bewusst.

Es gibt eine Philosophie des MA., die eine Sparte der Scholastik ist; man entdeckt und würdigt sie wohl langsam; ich habe einmal gelesen, in den englischen Philosophiegeschichten wurde früher die Sch. ganz übergangen, inzwischen habe man sie aber entdeckt und würdige sie; die Engländer sind ja von jeher das Heimatland des Empirismus, also der Aufklärung.

Ob du jetzt durch meine Darlegung schlauer geworden bist :-D , musst du selber wissen; ich habe nur einen sehr begrenzten Blickwinkel, sicher wäre es lohnend, in die Sache intensiver einzusteigen,

lgr. P. :)
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Re: Was ist Scholastik?

Beitragvon Laptop » Mi 1. Jul 2015, 22:27

Ich freue mich immer über deine Beiträge, Prudentius, sie geben mir neue Einblicke. Ich verstehe nun, daß Scholastik so weit gefaßt ist, daß es das mittelalterliche Bildungswesen mit allen Licht- und Schattenseiten umfaßt, und daher schwer abzurteilen ist. Man sollte einzelne Köpfe kritisieren, wie Boethius, aber nicht eine ganze Epoche, das ist einfach zu pauschal, und darüber muß man hinwegkommen. Die Altphilologie hat lange genug dafür gebraucht.
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Re: Was ist Scholastik?

Beitragvon Prudentius » Sa 4. Jul 2015, 07:35

Hallo Laptop,

über neue Einblicke freue auch ich mich, es ist schön, dass du immer wieder weiterreichende Frage vorbringst, so dass man etwas aus dem Kleinkram herauskommt; wir als "Altphilologen" sind ja in einzigartiger Weise gefordert, die großen Linien zu erkennen und deutlich zu machen, da wir ja in dem ständigen Spagat stehen, mit einem Bein vor 2000 Jahren, und mit dem anderen in unserer Welt. Ob wir eine gemeinsame Basis finden, ist nicht so wichtig, es kommt mehr darauf an, Probleme überhaupt wahrzunehmen.

Die Scholastik ist eigentlich kein richtiger Epochenbegriff, sie ist die Zusammenfassung dieses ziemlich einheitlichen ma. Bildungssystems, das von dem l. ordo-Gedanken geprägt war, jeder wusste, woran er war, was er zu tun hatte, wonach er streben sollte, auch was er letztendlich zu erhoffen hatte.
Wenn man sie eingrenzen sollte: Karl der Gr., 800, mit der "karolingischen Renaissance", bis zum "Hochmittelalter" mit dem Dreigestirn Thomas v. A., Dante, Franz von Assisi; dann kommt die Übergangszeit, und dann das moderne Dreigestirn Marx, Darwin, Freud - etwas sehr schematisch, aber übersichtlich hingestellt.

Ich möchte jetzt gern von dir wissen, warum du gerade Boethius herausgreifst und ihn aufs Korn nimmst, er ist ja eine ganz bedeutende Figur der Spätantike, schon Völkerwanderungszeit; seine "Consolatio philosophiae" hatte eine große Nachwirkung, er vermittelt den Neuplatonismus an das MA;

lgr. P. :)
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