Wer bei den Römern las Dichtung?

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Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon ille ego qui » Do 23. Jul 2015, 10:22

Ein Erlanger Dozent äußert immer wieder vehement apodiktisch die These, bei den Römer habe nur die Oberschicht Literatur gelesen (im Groben zumindest).
Mir erschien dies immer reichlich spekulativ und bestimmt allzu pauschal. Ein guter Hinweis in diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Martinus Z. auf die Graffiti in Pompeji:

Dichtung war bei den Römern sicher sehr präsent. Ein paar Verse der Aeneis kannte wohl jeder, der nur ein bisschen Schulbildung erfahren hatte. Auch auf Wänden in Pompei findet man sie.
Dichtung ist heutzutage in Form von Gedichten - vor nicht allzu langer Zeit lernte man noch Balladen o.ä. in Schulen auswendig, was heutzutage eher verpönt ist -, aber Lyrik ist in Form von Liedern allgegenwärtig. Die mag teilweise nicht anspruchsvoll sein, ist aber zumindest da.


Was fällt euch sonst noch zu diesem Thema ein, gerne auch Argumente FÜR die wiedergegebene These.

valete :-)
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon Prudentius » Do 23. Jul 2015, 16:31

Die soziologische Sichtweise ist wohl nicht nur in Erlangen verbreitet, sie hat etwas für sich, man kann manches besser verstehen; nur eine dünne Gesellschaftsschicht hat Dichtung gelesen, und eine noch dünnere verfasst; auch in der Bibelwissenschaft ist diese führend (wenn es nicht die FeminiStinnen sind), Gerd Theißen ist wohl die Autorität. Aber so ein Althumanist wie ich :-D fühlt sich nicht so recht wohl dabei.
Cicero sagte, er komme nicht dazu, Lyrik zu lesen, wollte aber unbedingt seine Vaterlandsrettung durch ein Epos dargestellt sehen. Ich meine mich zu erinneren, dass in den Briefen des Plinius viel von Autorenlesungen erwähnt wird.
Man kann wohl allgemein sagen: wenn keine Nachfrage da gewesen wäre, hätte es auch kein Angebot gegeben. Horaz schreibt im Proömium seiner Odensammlung: Ich habe ein Denkmal errichtet, das die Zeiten überdauert, exegi monumentum...
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon RM » Do 23. Jul 2015, 20:38

Zu dem Thema findet man einige Hinweise bei Martial, aber auch dieser verkehrte natürlich in gehobeneren Gesellschaftsschichten. Wie solche "Dichterlesungen" abliefen und was Leute wie Trimalchio an Dichtung "kannten", lässt sich grob auch bei der Lektüre von Petrons Satyricon erahnen.

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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon Turbopower » So 26. Jul 2015, 02:19

Also ich finde schon mal, dass du im Recht liegst, dass es ziemlich pauschal und spekulativ klingt, da man nicht unbedingt alle in einen Topf werfen kann.
Natürlich muss man dazu aber auch sagen, dass die römische Oberschicht zum einen mehr Bildung besaß als die Unterschicht. Zum Anderen spielt dabei aber auch eine große Rolle, dass nicht jeder aus der Unterschicht lesen und schreiben konnte (bis zur Einführung öffentlicher Schulen natürlich), während das natürlich ein Privileg war, was den Adeligen direkt durch einen privaten Lehrer beigebracht wurde. :)

Zudem bedenke, dass die römische Unterschicht ja nur aus proletarii bestand und sie sich ja viel mehr um ihre Existenz, aufgrund der sozialen Spannungen, Missernten (oder ähnlichen Handwerksbetriebsproblemen), kümmern mussten. Ob nicht doch ein einfacher Mann auch mal ein Gedicht genossen oder sogar gelesen hat ist mir leider nicht bekannt :)

Ich hoffe ich konnte helfen und bekomme vielleicht eine Antwort ^^
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon RM » So 26. Jul 2015, 12:52

Dazu muss man bemerken, dass die Alphabetisierungsrate im alten Rom außergewöhnlich hoch war. Bücher waren zwar teuer, aber nicht unerschwinglich, wie man einigen Bemerkungen Martials entnehmen kann. Von einem Schreiber etwas in Schönschrift schreiben zu lassen, kostete lt. Diokletians Preisedikt (7.38-40) ca. 10 Denare (3-5 Euro) pro Seite, eine Aeneis läge so bei ca. 2400 Denaren (~800 Euro). Das wären ungefähr anderthalb Monatsgehälter eines Handwerkers (der hat ca. 50-60 Denare pro Tag erhalten, also ca. 500-600 Euro pro Monat). Platon hat für drei Bücher des Philolaus noch 10000 Denare ausgegeben, wie Gellius uns mitteilt. Es gab wohl auch Dichter, die Gelegenheitsgedichte auf der Straße an Passanten verkauften. Ebenso wie ungebildete Reiche lebten in Rom auch arme Gebildete. Die römische Gesellschaft war insofern vielschichtig.

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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon ille ego qui » So 26. Jul 2015, 15:14

Turbopower hat geschrieben:Zum Anderen spielt dabei aber auch eine große Rolle, dass nicht jeder aus der Unterschicht lesen und schreiben konnte (bis zur Einführung öffentlicher Schulen natürlich), während das natürlich ein Privileg war, was den Adeligen direkt durch einen privaten Lehrer beigebracht wurde. :)

Zudem bedenke, dass die römische Unterschicht ja nur aus proletarii bestand und sie sich ja viel mehr um ihre Existenz, aufgrund der sozialen Spannungen, Missernten (oder ähnlichen Handwerksbetriebsproblemen), kümmern mussten. Ob nicht doch ein einfacher Mann auch mal ein Gedicht genossen oder sogar gelesen hat ist mir leider nicht bekannt :)


salvus sis, Turbopower,
verbreitet scheint die Auffassung, dass zwar echte Literatur nur in kreisen der Oberschicht gelesen wurde, dass aber die ganz grundlegenden kulturtechniken des lesens und einfachen rechnens, soweit nötig und nützlich fürs überleben, von der ganz großen Mehrheit beherrscht wurden: einen Magister ludi (Grundschullehrer) hätten durchaus die meisten besucht, anders als den grammaticus und noch einmal ganz anders als den Rhetor ... hm ...
Vale :)

danke dir RM für die hoch interessanten zahlen. das mit der alphabetisierungsrate habe ich schon oft gehört, leider noch nie saubere nachweise (die sich bestimmt beibringen ließen).
Es gab wohl auch Dichter, die Gelegenheitsgedichte auf der Straße an Passanten verkauften. Ebenso wie ungebildete Reiche lebten in Rom auch arme Gebildete. Die römische Gesellschaft war insofern vielschichtig.

hast du für diese interessanten Aspekte vielleicht ein paar hinweise, was die belege bzw. weiterführende Literatur angeht?
danke :-)
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon Turbopower » So 26. Jul 2015, 23:27

Ave ille ego qui :),

ich möchte mich zum einen erstmals bei euch bedanken, da ich hier neu bin und rein durch Zufall auf diese Seite gestoßen bin, bei der ich endlich Gleichgesinnte getroffen habe, die soviel Spaß und Freude an der lateinischen Sprache und Geschichte haben wie ich. Vielleicht bin ich auch nur etwas zu sehr vernarrt darin :D. Vorallem aber interessiert mich die Geschichte um Kaiser Augustus, da ich endlich eine Art Idol in ihm gefunden habe. Ich habe später selbst vor Latein- und Geschichtslehrer zu werden und von dem her ist das ein guter Anhaltspunkt mich mit anderen Austauschen zu können und so meinen Horizont zu erweitern ^^.

Nun zu deinem Standpunkt: Es mag sein, dass du recht hast, dass wir aus der sozialen Schicht heraus eben die Bildung versuchen herauszuziehen, aber ich finde, dass man das auch sehr gut heute noch im Unterschied sehen kann. :)
Die römische Schicht ist durchaus vielschichtig, aber man kann aus den Zahlen (möge alles richtig sein) ja schließen, dass das Besitzbürgertum ja eher an diese Schriften kam, als das untere Volk, dass sich eher um die eigenen Probleme kümmerte. Zudem kann man ja auch sehen, dass durch die Kriege die Bauern und Handwerke oft viele Jahre weg von Italien waren und dann meistens ohne Arbeit zurückkehrten, da die Äcker verkamen und aufgekauft wurden (von den Reicheren) oder Handwerker ihre Läden schließen mussten. Es war für viele ja sogar durchaus ein ständiger Kampf ums überleben.

Man kann aber aus den Briefen von Seneca und Plinius schließen, dass sie sich ja an das gemeine Volk richteten (vielleicht um etwas Bildung oder Gedankengut in die unteren Schichten zu bringen). Ein Beispiel dabei wäre der Brief Senecas, in dem er die Thermenbesucher anklagt, die sich nur um ihre körperliche Fitness kümmern, aber den Geist außer Acht lassen.


Ich hoffe auf noch viel mehr Gedanken und freue mich eure Beiträge zu lesen.

Vale mei amici! :)
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon ille ego qui » Mo 27. Jul 2015, 10:35

gaudemus te adesse :)
dubitare licet, vulgone scripserint Seneca et Plinius. fortasse etiam homines nobiliores corpori nimis operam dabant, quos fortasse Seneca exemplo ex thermis petito, ne id facerent, monere voluit. nescio ...
cave obliviscaris Augustum in proscriptionibus crudelissimum se praebuisse. certe non omni ex parte dignus est, qui pro exemplo habeatur. tu quid iudicas? (sed fortasse de hac re novum filum ("thread") incohandum est).
vale :)
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon Prudentius » So 2. Aug 2015, 10:11

Turbopower hat geschrieben:... interessiert mich die Geschichte um Kaiser Augustus, da ich endlich eine Art Idol in ihm gefunden habe.


Auf jeden Fall ist er einer der berühmtesten Römer, eine Leitfigur für die politische Weltgeschichte in vielen Jahrhunderten, eine Verkörperung des Imperium Romanum.

Als Lesestoff musst du dir unbedingt vornehmen: Tacitus Annalen 1:9-10, da findest du eine Art Nachruf durch die "prudentes" auf ihn, anlässlich des Begräbnisses, seine positiven Seiten werden herausgestellt, dann heißt es aber auch: "Contra dicebatur", viele Schattenseiten werden hervorgehoben.

Ein Kritikpunkt war auch, dass er seinen wohlmeinenden, aber arglosen Ratgeber Cicero hat übers Messer springen lassen; dieser Name war daher unter Augustus tabu, ich glaube bei Horaz und Vergil wird er nie erwähnt; Augustus hate ein schlechtes Gewissen.
Anzulasten ist ihm auch das harte Vorgehen gegen den Dichter Ovid.

Weiterhin zu lesen empfohlen die "Res gestae divi Augusti", sein eigener Rechenschaftsbericht, aber sehr warmherzig ist er nicht geschrieben.

Wie Augustus gern angesprochen werden wollte, verrät uns Horaz: "Divis orte bonis...", denn er hat auch manchmal als Hofdichter fungiert.

lgr. P. :)
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon Medicus domesticus » So 2. Aug 2015, 10:54

@Turbopower:
Zur Biographie des Augustus hatte ich Ende 2013 einmal einen Thread eröffnet (mit entsprechenden Literaturempfehlungen):
http://tinyurl.com/p37tfe4
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon Turbopower » So 9. Aug 2015, 15:40

Als erstes möchte ich euch danken, dass ihr mir so viele Empfehlungen gebt :), da hab ich ja viel und wahrscheinlich auch genügend zu lesen :-D. Vermutlich mache ich mir eine Liste und lese dann eines nach dem Anderen ^^. Nicht viele sind so nett und helfen mir bei sowas, deswegen habt ihr meinen wirklichen und aufrichtigen Dank.

Um zum eigentlichen Thema wiederzukommen: Ich sitze grade an dem Werk von Plinius Von der Welt und den Elementen und darin ist mir eine interessante Stelle aufgefallen in einem Brief von Plinius dem Älteren an Kaiser Titus Vespasianus :

6,5 (ff.): Denn die Lage derer, welche etwas öffentlich herausgeben ist verschieden von denen, welche Dir speziell etwas widmen. In jenem Falle könnte ich sagen, warum liest Du dies, mein Kaiser? Es ist für das niedere Volk, die Bauern , Handwerker, zum Ausfüllen müßiger Stunden geschrieben; wer hat Dich zum Richter bestellt? Als ich dieses Werk schrieb, warst Du nicht mit auf jener Liste. Ich hielt Dich für zu erhaben, als dass ich glauben sollte, Du würdest Dich soweit herablassen. [...]

Ich glaube damit hat sich schon bestätigt, dass eben diese öffentlichen Briefe nicht an die Person direkt, sondern an das einfache Volk gerichtet haben oder etwa nicht ? :)
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon ille ego qui » So 9. Aug 2015, 19:51

ach so, du sprichst von Briefen des älteren Plinius. das solltest du immer dazu sagen ;-)
Wo finde ich das Original?
vielen dank für die Stelle :)
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon RM » Mo 10. Aug 2015, 00:10

Er meinte wohl das Vorwort der Naturalis Historia aus dem ersten Buch. Ist zwar kein Brief, aber so etwas Ähnliches ... :eek:
Quid ista legis, Imperator? Humili vulgo scripta sunt, agricolarum, opificum turbae, denique studiorum otiosis. Quid te iudicem facis? Cum hanc operam condicerem, non eras in hoc albo. Maiorem te sciebam, quam ut descensurum huc putarem.

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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon Prudentius » Mo 10. Aug 2015, 18:02

Ihr müsst allerdings bedenken, wenn das aus einem Proömium (Einleitung) stammt, dann finden sich darin viele konventionelle Stilmittel (Gemeinplätze), stereotype Formulierungen, wie hier: captatio benevolentiae, tiefe Verneigung vor dem Adressaten, dem Kaiser, in Form einer Selbstverkleinerung des Autors; wenn also hier von den kleinen Leuten die Rede ist, an die er sich wendet, dann muss man das sehr relativieren.
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Re: Wer bei den Römern las Dichtung?

Beitragvon RM » Mo 10. Aug 2015, 19:20

Sosososo ... :D

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