Indikativ oder Konjunktiv?

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Indikativ oder Konjunktiv?

Beitragvon ille ego qui » Mo 4. Jan 2016, 09:39

Salvete,

es ist bekannt und auch in Grammatiken festgehalten, dass man in Fällen dieser Art den Konjunktiv setzen kann:

Te non reprehendo, quod stultus SIS, sed quod nihil discis.

- und dass der Indikativ hier bedeuten würde, dass man den angesprochenen definitiv für dumm hält (dies aber nicht der Grund für den Tadel ist). Im Deutschen besteht diese Differenzierungsmöglichkeit ja ganz ähnlich.
Nun frage ich mich, ob dieser Unterschied im Lateinischen neben Verneinungen auch bei Fragen greifen kann.

Nehmen wir zum Beispiel den deutschen Satz:

"Hast du mich etwa deswegen gestern nicht angerufen, weil du mich hasst?"

Würde man hier, wenn der Hass für den Fragenden als Tatsache noch nicht feststeht, womöglich im Lateinischen den Konjunktiv setzen? (odisses?)
In Grammatiken habe ich hierzu nichts gefunden.

Valete :-)
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Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
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Re: Indikativ oder Konjunktiv?

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 4. Jan 2016, 11:32

Salve ille,
Ich würde den Konjunktiv setzen, weil im quod-Satz der tatsächliche Grund noch nicht feststeht, sondern es eine Vermutung/Meinung des Fragestellers ist. Dieser fragt nämlich so (im Unterton): Hast du mich etwa deswegen gestern nicht angerufen, weil du - wie ich vermute/meiner Meinung nach - mich hasst?
Vgl. dazu Tusc 5,105: Aristides nonne ob eam causam expulsus est patria, quod praeter modum iustus esset?
Dazu auch hier: http://tinyurl.com/jew6xxu

Vale!
Quādam e regione montanā nunc nivibus tectā-> http://tinyurl.com/hlmuons...
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Re: Indikativ oder Konjunktiv?

Beitragvon Prudentius » Mo 4. Jan 2016, 16:58

Medicus domesticus hat geschrieben:Vgl. dazu Tusc 5,105: Aristides nonne ob eam causam expulsus est patria, quod praeter modum iustus esset?


Salvete,

Das Beispiel ist optimal beigesteuert, Medice d., man kann den quod-Satz als "innerlich abh." oder indirekte Rede ansehen: es ist eine nicht vom Autor Cicero beigebrachte Begründung, sondern eine referierte, berichtete, zitierte Begründung, eine Fremdbegründung ("according to his fellow-countrymen" heißt es ).

Die Frage Indikativ/Konjunktiv läuft also darauf hinaus: Wer behauptet den Kausalzusammenhang, der Autor oder jemand anderes?

Man könnte den impliziten Konjunktiv-Sinn explizit machen, indem man einen Teilsatz einfügt: "...weil, wie seine Mitbürger meinten, er ...".

Den Begriff "Tatsache" würde ich lieber nicht verwenden, es treten ja auch Lügen, Irrtümer, Schmeichelreden, Propaganda usw. im Gewande von Tatsachen auf.

Valete :) !
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Re: Indikativ oder Konjunktiv?

Beitragvon Prudentius » Di 5. Jan 2016, 21:55

Ich möchte hier eine Unterscheidung machen, natürlich arbeiten wir mit dem Begriff der Tatsache, z.B. die Juristen oder Ärzte, dagegen habe ich gar nichts. Ich bin nur gegen die Verwendung des Begriffs in der Grammatik, denn die Grammatik sollte grammatisch erklären, und Tatsache ist kein grammatischer Begriff. Ganz pauschal gesagt, die Grammatik ist ein System, und die Erklärungen innerhalb des Systems müssen systemintern erfolgen, das ist modern, das ist aber schon bei unserem alten Euklid in seiner Geometrie so.

Jetzt habe ich nur so was hingeschleudert, wir können ja später noch näher darauf eingehen,

gute Nacht :) .
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Re: Indikativ oder Konjunktiv?

Beitragvon Medicus domesticus » Di 5. Jan 2016, 22:07

Der Begriff "tatsächlich" ist doch gar nicht so selten in der Grammatik, Prudenti. Man sagt ja auch faktisches quod. Oder schau mal hier in die Grammatik von Gottwein:
http://www.gottwein.de/LaGr/LatGrNS_kaus.php
Nur als Beispiel.. ;-)
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Re: Indikativ oder Konjunktiv?

Beitragvon ille ego qui » Di 5. Jan 2016, 22:24

Salvete!

Medice D., allerbesten Dank für die Stelle! :klatsch:
Dann gilt also - wenn man das eine Beispiel belasten möchte - das, was für die Verneinung überall feststeht, in ähnlicher Weise auch für Fragen (im Unterschied zum Deutschen).

@Prudentius:
Mit der inneren Abhängigkeit bin ich nicht ganz sicher, das hängt wohl davon ab, wie weit man den Begriff fasst - zumindest im engeren Sinne meint man ja, dass einer im Text auftauchenden Figur etwas als Zitat (im weiteren Sinne) zugewiesen wird. Zumindest in den Fällen, über die ich mir Gedanken mache, geht es wohl darum, ob entweder:

- nach dem Grund bzw. dem kausalen Zusammenhang gefragt wird, der eigentliche Inhalt des weil-Satzes aber bereits als Fakt betrachtet wird

- nach dem kausalen Zusammenhang gefragt wird, ohne dass der der Inhalt des weil-Satzes für den Sprecher schon feststünde.

Vielleicht kann man auch die potentiale Bedeutungsmöglichkeit des Konjunktivs denken (wobei die Grenzen wohl fließend wären).

valete.
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Re: Indikativ oder Konjunktiv?

Beitragvon ille ego qui » Di 5. Jan 2016, 22:28

@ Prudentius

m.E. kann man den Begriff der "Tatsache" durchaus verwenden. In verschiedener Weise kann ein Sprecher kennzeichen, ob er etwas als Tatsache betrachtet oder in irgendeiner Weise in Frage stellt (irreal, innerlich abhängig, potential ...).
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