Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

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Re: Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

Beitragvon Tiberis » So 17. Jan 2016, 14:19

@Laptop
wie Skubin die hexameter liest, kommt meiner vorstellung schon recht nahe, wenngleich auch er den wortakzent für meinen geschmack noch zu sehr hervorhebt.

wie auch immer: genau werden wir wohl nie wissen, wie die verse seinerzeit gesprochen wurden. fest steht jedoch, dass sich aus der abfolge von längen und kürzen ein charakteristischer versrhythmus ergibt, der durch zu starkes hervorheben der prosabetonung gefahr läuft, unkenntlich zu werden. dies muss m.e. jedenfalls vermieden werden.
im übrigen meine ich, dass wir dem prosaakzent generell eine zu große bedeutung beimessen. wir gehen dabei wieder einmal zu sehr vom deutschen aus, wo es tatsächlich seltsam anmuten würde, ein wort im vers anders zu betonen als in der prosa. dies liegt wohl nicht zuletzt daran, dass die deutschsprachige dichtung rein akzentuierend ist: ein von der prosanorm abweichender akzent wird daher automatisch als störend empfunden.
dazu kommt, dass im deutschen ein wort stets auf derselben silbe betont wird, während im lateinischen der wortakzent durchaus variabel ist: so wird etwa "ámor" auf der ersten silbe betont, "amóris" auf der zweiten, "amorísque" sogar auf der dritten.
gleiches gilt für die zeitwörter: labóro, laborábam, laborabámus usw.
zu recht bemerkt daher Crusius (a.a.O. S.30) " im quantitierenden lateinischen vers wurde widerspruch zwischen wort- und versakzent (...) nicht als störend angesehen."
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Re: Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

Beitragvon ille ego qui » So 17. Jan 2016, 16:26

Gewiss rezitiert Winge nicht schön. Aber es zeigt sich, dass selbst bei krassestem Wortakzent der reine Quantitätenrhythmus noch so spürbar bleibt, dass jeder Stoffel merkt, dass es keine Prosa ist. Sehr schöne Rezitationen ganz ohne Iktus habe ich - offenbar im Gegensatz zu Tiberis ^^ - schon einige Male im Leben gehört (und bemühe mich auch selbst darum), wenn auch nicht allzu häufig, sodass für mich keinerlei Notwendigkeit besteht, einen zusätzlichen Versakzent anzunehmen (was ihn freilich nicht widerlegt, sondern nur zu einer überflüssigen hypothese macht).
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Re: Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

Beitragvon ille ego qui » So 17. Jan 2016, 16:28

Übrigens gibt es sprachwissenschaftliche Argumente dafür, dass der Wortakzent im lateinischen ohnehin recht schwach war - von daher tiberis vielleicht auch nicht so gestört hätte ;). Im übrigen fallen die wortakzente zwar verschieden, jedoch - was mit den zäsuren in zusammenhang steht - nicht eigentlich willkürlich.
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Re: Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

Beitragvon ille ego qui » So 17. Jan 2016, 16:33

@laptop:

eine lange silbe ist in prosa wie in poesie zweimorig, gleichviel ob natur- oder positionslang.
man höre nur einen italiener ein wort wie "tantus" aussprechen.
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Re: Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

Beitragvon Tiberis » So 17. Jan 2016, 18:16

ille ego qui hat geschrieben:sodass für mich keinerlei Notwendigkeit besteht, einen zusätzlichen Versakzent anzunehmen

wie du meinst. :roll: dann sieh dir aber bitte folgenden hexameter an (Cat.116,3):
qui te lenirem nobis, neu conarere.
zugegeben, ein extremfall. aber würde man hier auf den versakzent verzichten, wäre das klangliche ergebnis nicht mehr weit von einem hinkjambus entfernt:
qui té lenírem nóbis, neú conàrére :hairy:
und noch ein bekanntes beispiel (Aen.8,596):
mit alleiniger hervorhebung des wortakzents
quadrupedánte pútrem sónitu quátit úngula campum
ginge die lautmalerische wirkung sofort verloren.

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Re: Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

Beitragvon ille ego qui » So 17. Jan 2016, 20:09

wir müssten uns gegenseitig verse vortragen, um uns zu verständigen, das ist das problem ...
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Re: Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

Beitragvon ille ego qui » So 17. Jan 2016, 20:16

Besonders absurd scheint mir der "traditionelle" iktus bei anapästen:

Audáx nimiúm qui fréta primús
rate tám fragilí perfída rupít
terrásque suás postérga uidéns
animám leuibús credídit aurís
eqs.

(Sen. Med. 301ff.)
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Re: Quant. Aussprache vs. akzentuierende Aussprache.

Beitragvon Tiberis » So 17. Jan 2016, 22:56

ille ego qui hat geschrieben:wir müssten uns gegenseitig verse vortragen, um uns zu verständigen, das ist das problem ...


so ein "poetisches treffen" wäre gar keine schlechte idee.. :)
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