Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

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Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon ille ego qui » So 31. Jan 2016, 18:17

Salvete, amici!

Ich glaube, diese Frage habe ich hier noch nie gestellt, wiewohl sie mich immer wieder umtreibt - auch in der Uni habe ich darauf nie eine wirkliche Antwort erhalten.
Wenn in einer kondizionalen Periode sowohl in Protasis wie in Apodosis ein Potentialis der Gegenwart steht, was genau wird dann - im Sinne der Definition des Potentialis - als "möglich" gekennzeichnet:

- das Eintreten der Bedingung?
oder
- das Eintreten der Folge, wenn die Bedingung erfüllt wird?
oder
- beides?

Beispiel:
Si venias, gaudeam. (Solltest du kommen, so würde ich mich freuen // ... so würde ich mich wohl freuen.)

Zeigt also der Modus von "gaudeam" an, dass auch bei Erfüllen der Bedingung (si venias) die Folge (gaudeam) nur möglich, nicht aber sicher ist, oder betrifft der Potentialis dieser Periode nur die Wahrscheinlichkeit, dass die Bedingung eintritt?
Ich hoffe, ihr versteht mich ;-)

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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon Tiberis » Mo 1. Feb 2016, 03:25

ille ego qui hat geschrieben:Ich hoffe, ihr versteht mich ;-)

naja, nicht ganz, um ehrlich zu sein. vor allem die begriffe "bedingung" und "folge" finde ich ein wenig irritierend, obwohl sie in der grammatischen terminologie üblich sind.
dennoch: die "möglichkeit" bezieht sich sowohl auf protasis als auch auf die apodosis.
die protasis, also der si-satz, drückt ja im potentialis i.d.r. eine annahme aus (angenommen, dass..) und somit per se eine, zumindest theoretische, möglichkeit. und dass der potentialis im hauptsatz eine möglichkeit ausdrückt, ist ja unbestritten. anderenfalls stünde, zur hervorhebung der faktizität, im HS der indikativ.
zum konkreten beispiel:
si venias, gaudeam:
angenommen, du kommst, dann würde ich mich freuen.
beides - das kommen wie das sich freuen - ist nicht sicher, sondern eben nur möglich, wobei natürlich die möglichkeit (!) des sich-freuens vom eintreten der "bedingung" (des kommens) abhängt.
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 1. Feb 2016, 21:32

Ich glaube, dass man es auch als "Gedankenexperiment" werten kann, wie es auch BS beschreibt. Eine Möglichkeit, die stattfinden könnte...auf beiden Seiten.
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon ille ego qui » Di 2. Feb 2016, 18:23

schon einmal danke für alle antworten :)

Tiberis hat geschrieben:
ille ego qui hat geschrieben:Ich hoffe, ihr versteht mich ;-)

naja, nicht ganz, um ehrlich zu sein.


Ich hatte es fast befürchtet ;-) Zweiter Anlauf denn also:

1) Ist nur das Eintreten der Bedingung - ob du kommst oder nicht - als "unsicher, aber möglich" gekennzeichnet (WENN diese Bedingung aber Eintritt, besteht auch kein Zweifel mehr daran, dass sich auch die Freude einstellt)

oder

2) ist das Eintretten der Freude auch dann noch nicht ganz gesichert, wenn der angesprochene tatsächlich kommt - die Bedingung also erfüllt wird.

die deutsche (Schul-)Übersetzung "Solltest du kommen, würde ich mich wohl freuen" würde m.E. der zweiten deutung entsprechen "Wenn du kommen solltest (könnte passieren!), dann freue ich mich - vielleicht".

Verständlich, worauf ich hinaus will?

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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon Tiberis » Di 2. Feb 2016, 20:11

ille ego qui hat geschrieben:Verständlich, worauf ich hinaus will?

jetzt schon. warum nicht gleich so ? :D
meine antwort: variante 2 . aber eigentlich hab ich das ohnehin schon ausgeführt.
oder sollte es verständnisprobleme gegeben haben? :D

(für var.1 , also wenn es nach eintritt der bedingung keinen zweifel mehr an der freude geben sollte, wäre der konj.potentialis im HS unpassend bzw. falsch, hier müsste dann indikativ stehen)
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon ille ego qui » Do 4. Feb 2016, 13:17

danke :)
(allerdings klang deine übersetzung eher nach var. 1 ^^)
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon Prudentius » Mi 10. Feb 2016, 17:07

ille ego qui hat geschrieben:Salvete, amici!
Ich glaube, diese Frage habe ich hier noch nie gestellt, wiewohl sie mich immer wieder umtreibt - auch in der Uni habe ich darauf nie eine wirkliche Antwort erhalten.


Salve, ille!

Dabei bietet es sich an, einmal von der Konditional-Grammatik auf die Konditional-Logik hinüberzuschauen, diese ist ja sehr viel weiter begrifflich ausgebaut als jene, so dass du auch mit "wirklicher Antwort" rechnen kannst.

Anders als die Grammatik unterscheidet die Logik deutlich zwischen Wahrheit eines Einzelsatzes und Wahrheit eines Satzgefüges; der Einzelsatz kann wahr (w) oder falsch (f) sein, das ist vorgegeben; über die Wahrheit eines Gefüges entscheidet die Konvention, darüber gibt es jeweils eine Festlegung, die Wahrheit des Gefüges basiert auf der Wahrheitskombination der Teilsätze, es gibt vier Kombinationen, ww, wf, fw, ff; und die Konvention legt fest, welche Kombination als wahr gilt und welche als falsch; für das konditionale Gefüge lautet die Festlegung: wahr ist das konditionale Gefüge für die drei Fälle ww, fw, ff; falsch dann nur für wf; kürzer ausgedrückt: falsch ist ein konditionales Gefüge nur für wf, wahr für die drei anderen.

Um auf eure Diskussiion zu kommen: wenn der Potentialis noch einen konditionalen Charakter haben soll, dann dürft ihr nicht an der Ausschließung von wf rütteln; sonst müsste man das Gebilde anders nennen.

Noch was anderes: Ihr habt von dem selteneren Fall gesprochen, in dem beide Teilsätze potential sind, da bin ich zufällig auf einen gestoßen: Horaz beginnt die "Ars poetica" so: Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit, ... risum teneatis, amici?, 1-5.

Valete! :) P.
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon ille ego qui » Mi 10. Feb 2016, 22:32

salve!
danke für deine gedanken :)
profane rückfrage: ist eine durchgehend potentiale periode tatsächlich der seltenere fall? ein dozent von mir meinte, ein durchgehender modus sei das übliche. ich habe selbst nie so genau darauf geachtet ...

vale (te)
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon marcus03 » Do 11. Feb 2016, 10:10

ille ego qui hat geschrieben:ein durchgehender modus sei das übliche.


Nonne usitata exceptionibus confirmantur ? ;-)

Falls du sich Belege finden lassen sollten, wäre ich nicht überrascht. :)
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon ille ego qui » Do 11. Feb 2016, 10:21

Belege finden sich für beides. Meine Frage ist gerade eine statistische ;)
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon Prudentius » Do 11. Feb 2016, 21:50

Ich meine, die Statistik erlaubt eine Schlussfolgerung: Nicht notwendig müssen beide Teilsätze den potentialen Konjunktiv haben. Ich möchte daraus ableiten, dass der Potentialis gar nicht eine eigentliche Spielart von Konditionalsatz bezeichnet, man spricht ja auch von Potentialis bei einfachen Sätzen, "Das könnte wohl so stimmen", das sagt man, wenn man sich ein Hintertürchen für einen Rückzieher offenhalten will.
Der Potentialis von konditionalen Teilsätzen hebt nur das hervor, was ohnehin in dem Konditional drinsteckt, beim früher sogen. Realis, die Teilsätze sind "nur gedacht"; es ist ja ein sehr unscharfer Gegensatz zwischen "nur gedacht" und "möglich"; meine Privatmeinung ist, der Potentialis ist nur formal vom Realis verschieden, wir brauchen also nicht viel Gewicht darauf legen, dass in einem oder beiden Teilsätzen auch ein Konjunktiv stehen kann. (Ich folge hier der Spur der Logiker, sie kennen nur einen einzigen Konditionalsatz, den Realis).

Es stehen ja Fragen im Raum, die sich nicht so leicht klären lassen; vllt. können wir mal hinüberschauen, wie die Logiker mit dem Konditional umgehen; zwischen uns und ihnen erhebt sich ja eine große Barriere von Befremden und Ablehnung; wir lehnen es ab, mathematisch-logischen Formelkram auf Sprachliches anzuwenden; umgekehrt besteht ebensolches Befremden, schauen wir es uns im einzelnen an:

- Die Grammatiker scheinen alles, was mit si anfängt, für Konditionale zu halten, so dass auch Irrealis und Potentialis als K. angesehen werden;
- die Grammatiker erkennen nicht die allgemeinen Konditionale, die eine Variable enthalten und Gesetze ausdrücken als verschieden von den speziellen, die einen Sonderfall beschreiben; (man sagt nur, bei "si quis" falle ali um).
- die Logiker stoßen sich daran, dass die Grammatiker zwar den Irrealis nahe an den Realis rücken, aber den Kausalsatz ganz davon trennen: offensichtlich nur, weil die Kausalsätze zufällig nicht durch si eingeleitet werden; denn logisch sind Irrealis mit der Kombination ff und Kausalsatz mit ww völlig parallel.
- Die Logiker sind irritiert durch die Auskunft, der Realis sei "nur gedacht", also so was wie Kentauren oder Einhörner; sie sehen darin einen unbeholfenen Versuch, die unentschiedene Verteilung der Wahrheitwerte, mit ww, fw oder ff auszudrücken.

So kann man also die Sache sehen, und wir können uns irgendwie einen Reim darauf machen,
:) P.
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon Tiberis » Fr 12. Feb 2016, 00:46

Prudentius hat geschrieben:Der Potentialis von konditionalen Teilsätzen hebt nur das hervor, was ohnehin in dem Konditional drinsteckt, beim früher sogen. Realis, die Teilsätze sind "nur gedacht"; es ist ja ein sehr unscharfer Gegensatz zwischen "nur gedacht" und "möglich";

wer sagt denn, dass der realis etwas "nur gedachtes" ausdrückt? der reale kondizionalsatz , oder besser die reale kondizionale periode, ist nichts anderes als die feststellung "wenn A, dann B", wobei weder A noch B auf einer bloßen annahme basieren, sondern auf wissen.
"wenn der stein ins wasser fällt, geht er unter." genauso gut könnte man sagen: "ein stein, der ins wasser fällt, geht unter."
in der potentialen kond. periode tritt an die stelle des wissens die annahme bzw. die vermutung:
"wenn ich das sage(= angenommen, ich sage das) , sind wohl alle beleidigt." hier liegt sehr wohl nur ein "gedankenspiel" vor, das die mögliche folge einer bloß gedachten voraussetzung zum inhalt hat. (= angenommen A, dann wohl B)
es gibt jedoch auch noch eine zwischen potentialer und realer kond. periode vermittelnde variante:
"angenommen, ich werfe den stein ins wasser, dann geht er unter." (angenommen A, dann B).
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon ille ego qui » Fr 12. Feb 2016, 10:58

"wenn der stein ins wasser fällt, geht er unter." genauso gut könnte man sagen: "ein stein, der ins wasser fällt, geht unter."


ich sinniere gerade über die grenze zum zeitlichen "wenn" nach ...

Hat jemand eine Stelle für eine rein potentiale oder auch eine gemischt real-potentiale Periode zur Hand?
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon marcus03 » Fr 12. Feb 2016, 20:11

Sunt enim multa laboriosa, quae si faciatis, non continuo gloriemini;

http://latin.packhum.org/loc/474/73/71/1375-1384#71
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Re: Potentialis (kondiz(t)ionale Periode)

Beitragvon Prudentius » Fr 12. Feb 2016, 21:33

a. Realis: zum Ausdruck der Wirklichkeit: Indikativ!


So findet man es öfter; also: "Wenn ich das große Los ziehe, kaufe ich mir eine Yacht", Ausdruck der Wirklichkeit; immerhin: realisierbar.
Aber "Wenn 7 ein Teiler von 8 ist, dann ist 7 auch ein Teiler von 24", der Realis ist in Ordnung, denn er ist ein Spezialfall der Regel: "Wenn eine Zahl ein Teiler von 8 ist, ist sie auch ein Teiler von 24"; aber realisierbar ist er nicht.

Man kann wohl feststellen, dass Philologen Schwierigkeiten haben, die Wahrheitsbedingungen des Realis richtig zu erfassen und auf den Begriff zu bringen, weil es keine anerkannte Theorie über die Grundlagen des Konditionalen gibt, und deshalb habe ich vorgeschlagen, einmal den Werkzeugkasten der Logik aufzumachen und zu versuchen, damit zu hantieren, um Problemlösungen zu finden.

Hallo Marcus, bei deinem Beispiel bemäkle :-D ich, dass es die Wendung "sunt, qui" enthält, deren Konjunktiv man ja als konsekutiv rechnet, aber nicht als potential.

Beim Gebrauch des Terminus "Bedingung" sind die Philologen etwas unvorsichtig, es gibt ja zweierlei Bedingungen, notwendige und hinreichende; gewöhnlich versteht man unter Bedingung die notwendige Bedingung: "Wenn du meine Kandidatur unterstützt, gebe ich dir einen Kredit", notwendige Bedingung, im Sinne von "Nur wenn..."
Aber bei "Wenn du kommst, freue ich mich", da ist dein Kommen nicht notwendige Bedingung, denn ich kann mich auch noch über das Kommen anderer Leute freuen; Bedingung ist es nur, wenn es heißt: "Nur wenn du kommst,...".

Gute Nacht,
lgr. P. :)
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