Goethes "Prometheus"

Das Forum für professionelle Latinisten und Studenten der Lateinischen Philologie

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Goethes "Prometheus"

Beitragvon ille ego qui » So 1. Mai 2016, 08:55

Salvete!

Ihr alle kennt dieses Gedicht. Prometheus sagt dort, er selbst habe sich vom Tode und von Sklaverei gerettet. Spielt das auf ein bestimmtes Element des Mythos an? Ich sehe hier nicht ganz klar.
Vielen Dank!

Valete.
ille
Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen et egressus silvis vicina coegi,
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
arma virumque cano ...
ille ego qui
Augustus
 
Beiträge: 6888
Registriert: Sa 3. Jan 2009, 23:01

Re: Goethes "Prometheus"

Beitragvon Willimox » So 1. Mai 2016, 18:59

Salute ille ego qui!

(0) Der Text

Prometheus

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest!

Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn', als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät,
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Thoren.

Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus, wo ein,
Kehrt' ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär'
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir
Wider der Titanen Uebermuth;
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?

Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?


Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht
alle Blütenträume reif

Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!

[Goethe: Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827), S. 514.


(1) Goethes Hauptquellen: Sulzer und Hederich

Goethe hat wohl Sulzer (Allgemeine Theorie der Schönen Künste) und Hederich (Gründliches mythologisches Lexikon) genutzt. (vgl, Inka Mülder-Bach: Prometheus. In: Goethe-Handbuch. Stuttgart, Weimar 1997, S. 100 bis 105 zum Dramatischen Fragment).

Hederichs Prometheus-Artikel ist hier zu finden:
http://www.zeno.org/Hederich-1770/A/Pro ... prometheus

(2) Tod und Sklaverei

Ein direkter Bezug zum Prometheus-Mythos ist schwer zu finden, eher diffuse Assoziationen:

Tod, Sklaverei .. in Ketten angeschmiedet im Kaukasus, Dauerangriff durch den Jupiter-Adler

Oder überhaupt eher metaphorisch-metonymisch:

Eine beengte, kaputtmachende Existenz unter der angemaßten Macht der herrschenden Götter, epikuräisch tatenarm ihr Treiben genießend, sicher zu keiner barmherzigen Hílfe tendierend und insofern kaum als anbetungswürdig zu charakterisieren, fern von theistischen Modellen.

Wobei es sehr wahrscheinlich ist, dass hier (auch) das Modell christliche Gott und sein Eingreifen als Alliierter der gottgefällig Lebenden gezielt und indirekt demontiert werden soll.

(3) Gottesmodelle in der Antike und im Christentum

3.1 Grobstruktur

Die Antike kennt - sehr kurz zusammengefasst - unterschiedliche Gottesmodelle, so etwa:
- das Modell des eingreifenden Gottes, der sich von Opfergaben und guten Taten der Menschen bewegen lässt,
- das Modell des in einer Ruhelage befindlichen Gottes ohne jede Fürsorge für die Welt (Epikuräismus) oder
- das Modell eines willkürlich agierenden Gottes, der sich nicht von einem erkennbaren Gerechtigkeitsethos leiten lässt.

Es mag sehr gut sein, dass hier eine religiöse Universalie voller Schattierungen im Gedicht ausgebreitet wird und dabei - die heidnisch-antiken Bezirke überschreitend - den christlichen Gott als ungöttlich-unbarmherzige Instanz hymnisch verhöhnt.

3.2 Christliche Allusionen

Man vergleiche zu christlichen Anspielungen den Korintherbrief (13,11): Als ich ein Kind war
4 Mose 14,18: Der Herr ist von großer Barmherzigkeit
Lukas 1,50: Seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht
Epheserbrief (2,4): Gott, der reich ist an Barmherzigkeit
Matthäus 11,28: Kommt her zu mit, alle, die ihr mühselig und beladen seid
Offenbarung 7,17; 21,4: Gott der Herr wird die Tränen abwischen
„Selig sind, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“ (Matthäus 5,4 Bergpredigt)
„Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens“ (Psalm 130,2)
„Und er schuf die Menschen nach seinem Ebenbilde..“
„Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind und urteilte wie ein Kind, als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was kindisch war ..“ (Paulus 1. Korinther 13,11)

3.3 Selbstauskunft: Das Erdbeben von Lissabon

Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. (.....)
"Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen (....)
Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen musste, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen…
Der folgende Sommer gab eine nähere Gelegenheit, den zornigen Gott, von dem das Alte Testament so viel überliefert, unmittelbar kennen zu lernen. Unversehens brach ein Hagelwetter herein..
( Goethe: Dichtung und Wahrheit 1.Buch)

(4) Der Vaterbegriff: Politisch-soziokulturelle Einbettung, die Verschmelzung von Religionskritik und Kritik am ancien regime: Gottvater, Landesvater

- Die Sturm-und-Drang-Poeten sind eine junge, die Väter-Autorität angreifende Gruppe von Zwanzigjährigen.
- Vater-Autorität findet sich in der Familie, im Staat des „Landesvaters“ und in der Religion des väterlich-fürsorglichen Gottes. Die Autorität der Eltern anerkennen, den Sündenfall der Ureltern („eritis ut deus“) nicht zu wiederholen, nicht aus dem Paradies vertrieben zu werden, all dies ist die aktuelle Normlage.
- Der Gott des AT hat im vierten Gebot die elterliche Autorität und ihre Verehrung an ein Versprechen geknüpft und damit bis zu einem gewissen Grad gegen Angriffe immunisiert: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden.“
- Goethe wählt einen antiken Horizont für dieses Problemfeld. Das Primärziel des „Prometheus“ ist der Angriff auf einen „schlafenden“ Gott, der kein Herz hat, „sich des Bedrängten zu erbarmen“ (25ff).
- Dieser Angriff hat mit dem Deismus-Theismus-Problem zu tun: Egal, ob ein nichteingreifender Uhrmachergott (unter Abwahl eines eingreifenden theistischen Gottes) oder ein pantheistisches Modell angesetzt wird: Der Glaube an eine allgütige Vaterinstanz ist in diesem Gedicht destruiert.

Auf der konnotativen Ebene scheint es im Spielraum der Mythologie eine zeittypische Erweiterung des Angriffsfeldes zu geben:

Doppellexeme wie „Opfersteuer“ (16) und das Lexem „Majestät“ oder „Sklaverei“ (32) öffnen das Wortfeld „politisch-soziale Herrschaftsformen“ und lassen so den Angriff auf Zeus nicht nur als Angriff auf das christliche Gottesmodell, sondern auch als getarnten Angriff auf selbstbezogene Herrscher lesen, die ohne echte Fürsorge epikuräisch abgehoben ihren Lüsten frönen und über die Zeugung von Nachkommen göttergleich ihre Herrschaft über die Zeiten transportieren (wollen).

Ein wahrscheinlich ergiebiger Code-Schlüssel im mythischen Narrativ des Umfeldes und der Schlüssel in der Mikrostruktur der Antihymne und fulminanter Selbsterhöhungsoratorik: Göttervater - Gott des Paternosters - Landesvater von Gottes Gnaden ... Selbsthelfer, Menschenbildner, sprachgewaltiger Poet (?).


Bild

:book:
Zuletzt geändert von Willimox am Di 3. Mai 2016, 15:30, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
Willimox
Senator
 
Beiträge: 2725
Registriert: Sa 5. Nov 2005, 21:56
Wohnort: Miltenberg & München & Augsburg

Re: Goethes "Prometheus"

Beitragvon Prudentius » Mo 2. Mai 2016, 10:00

Ich schreib auch noch ein paar Beobachtungen auf,
" Prometheus sagt dort, er selbst habe sich vom Tode und von Sklaverei gerettet",
das steht nur in Frageform da; es ist schwierig, irgend eine bestimmte Übereinstimmung mit dem Mythos festzustellen, bis auf die letzte Strophe ist es ein Bekenntnis des ernüchterten, aufgeklärten Menschen, und für uns, die wir auf diesem Wege schon viel weiter gegangen sind, klingt es ein wenig illusionär, wie es für die Frühzeit eben typisch ist; uns fällt vllt. Nietzsche ein, der auch so einen fröhlichen Optimismus über den "Übermenschen" verbreitete, der die traditionellen Moralvorstellungen über Bord warf, und nicht ahnen konnte, wohin das führte!

In der Antike war Prometheus als der große Menschenfreund bekannt, der den Menschen das Feuer verschaffte, indem er es aus dem Himmel stahl und herunterbrachte, also sich über die göttliche Ordnung hinwegsetzte.

So wurde er zum Leitbild der Aufklärung, besonders in der Neuzeit.

Man müsste jetzt genauer nachlesen, was da bei Hesiod (Theogonie) und Ovid über ihn steht :) .
Prudentius
Senator
 
Beiträge: 3577
Registriert: Di 24. Mai 2011, 17:01

Re: Goethes "Prometheus"

Beitragvon Willimox » Mo 2. Mai 2016, 11:37

@ Prudentius

Hm,

zur Frageform:

Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus, wo ein,
Kehrt' ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär'
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir
Wider der Titanen Uebermuth;
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?


Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?


Der Konjunktiv "als wenn drüber wär" impliziert (contrafactual)
eine fehlende barmherzige, helfende Instanz.

Die "Wer-Fragen" erscheinen in der ersten Phase des Hörens als echte Fragen, dürften aber rasch den Eindruck machen, das der Sprecher die Antwort sehr wohl weiß und sie vielleicht auch explizit geben wird. Naheliegend ist zunächst als Antwort zu erwarten: Es gab keine Hilfe (und keinen Gott als Helfer).
Allerdings setzt sich der Subtext nun eher so fort, dass man aus dem Normalplan des Verbs "helfen" (jemand hilft einem anderen) ausscheren kann. So ergibt sich:

Kein erbarmender, helfender Gott..
Wer half?
Keiner.
.....
Nur ich mir selber.


In der offensichtlich "rhetorischen Frage" "Hast du nicht alles selbst vollendet?"
findet sich nämlich eine Antwort im Sinne von "menschliche Selbsthilfe" . Und die "indefinite" Slot-Variable "Wer" ist nun - unter Auflösung der Indefinitheit - mit dem Ich des Sprechers zu belegen.

Referenzpunkte in der Mythographie

Allerdings ist damit wieder deutlich, dass man über das Bild des Selbsthelfers schwer entscheiden kann, aus welchen bredouillen der griechischen Erzählungsstränge sich die Sprecherfigur nun herausmanövriert hat. Man weiß einfach nicht recht, an welche Ereignisse des Prometheus-Mythos die "Dank-Sagung" durch "Rettungsdank" anschließbar ist.

Sollte tatsächlich die "Begnadigung " des angeketteten Prometheus durch Jupiter gemeint sein, die sich in gewissen Strängen des P-Mythos findet? Doch sehr widersprüchlich bis unwahrscheinlich.

Trunz und ähnliche Kommentatoren verweisen auf die Ferne oder freie Behandlung von Goethes Text zur/von antiken Mythographie: Die Hymne der Unfrömmigkeit nutze nur einige "Standard-Elemente"aus der griechischen Göttererzählung und aus Ovids Prometheusbild:
Feuer- und Kulturbringer (Lucifer, cum grano salis),
Anthropoplast,
Bestrafung durch Jupiter.

Allerdings immer wieder in der Logik diffus, wenn es um hymneninterne Details und deren Referenz zu dem auch recht diffusen antiken Plot geht.

Man vergleiche auch Goethe selbst:

Dichtung und Wahrheit, 1. Buch: Vom jungen Poeten heißt es, daß er „gar bald die Ovidischen Verwandlungen gewahr wurde, und besonders die ersten Bücher fleißig studierte“.
Aber gleich im zehnten Buch die leicht abschätzige Anmerkung, dass ihm Herder in der Straßburger Zeit durch seine „Mißreden“ „[s]ein[en] Ovid [...] beinah [...] verleidet“ hätte".


Und dann webt das poetische Schifflein gleich weiter mit und aus der Antike( raus):

Er [Shakespeare] wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in Kolossalischer Größe [...]; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft –
Rede Zum Schäkespears Tag (1771).


:nixweiss:

Aufklärung überzeitlich

Einleuchtend die Epochen-Überlegung: Vermutlich kann man gut eine Aufklärungsbewegung von "Enlightenment" (Lessing et alii) über den Sturm und Drang bis hin zur Klassik ansetzen. Darüber hinaus: Aufklärende, religionsskeptische bis religionsfeindliche Diskurse laufen im europäischen Raum seit der Antike unbegrenzt. Manchmal bewegen sie sich - etwa bei Nietzsche- auf dem Höhenkamm des öffentlichen Bewusstseins, dann sinken sie wieder in weniger prominente Gefilde hinab.

Bild
Benutzeravatar
Willimox
Senator
 
Beiträge: 2725
Registriert: Sa 5. Nov 2005, 21:56
Wohnort: Miltenberg & München & Augsburg

Re: Goethes "Prometheus"

Beitragvon ille ego qui » Di 3. Mai 2016, 19:14

Vielen Dank euch! Enorm, was ihr euch für Gedanken gemacht habt! :-)
Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen et egressus silvis vicina coegi,
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
arma virumque cano ...
ille ego qui
Augustus
 
Beiträge: 6888
Registriert: Sa 3. Jan 2009, 23:01


Zurück zu Lateinische Philologie



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 11 Gäste

cron